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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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hier an einem typischen Beispiel entgegen. Schiller engt durch eine moralische ple_211.002
Anschauungsweise, die geschichtlich und psychologisch verständlich, ple_211.003
aber nicht im Wesen der Kunst begründet ist, die Begriffe gewaltsam ein, ple_211.004
die er seiner ästhetischen Betrachtung zugrunde legt. Er bezeichnet als ple_211.005
die Aufgabe der Poesie, "der Menschheit ihren möglichst völligen Ausdruck ple_211.006
zu geben"; er formuliert scharf die zwei möglichen Arten, in denen ple_211.007
diese Aufgabe erfüllt werden, in denen "sich überhaupt der poetische ple_211.008
Genius äußern" kann: erstens "die möglichst vollständige Nachahmung des ple_211.009
Wirklichen" und zweitens "die Darstellung des Ideals". Wenn aber diese ple_211.010
Alternative erschöpfend sein soll, so darf das Ideal, von dem hier die Rede ple_211.011
ist, offenbar nicht nur nicht einem einzelnen moralischen System entnommen ple_211.012
sein, sondern man hat überhaupt keinen Grund, ihm einen einseitig moralischen ple_211.013
Inhalt zu geben. Es ist wiederum allein aus dem Einfluß der ple_211.014
Kantischen Ethik verständlich, wenn Schiller nur die Sehnsucht nach der ple_211.015
Vollkommenheit, nicht aber die nach höherer Glückseligkeit für würdig eines ple_211.016
Dichters erklärt. Hier stoßen wir auf die Schranken, die Schillers Philosophie ple_211.017
am schärfsten von der modernen Lebensanschauung, wie auch schon von ple_211.018
der Goethes trennen. Einen ästhetischen Grund, zwischen beiden Idealen ple_211.019
zu scheiden, kann es nicht geben; es macht für den künstlerischen Charakter ple_211.020
eines Gedichtes keinen Unterschied, ob der Dichter die allgemeinen oder ple_211.021
nur seine persönlichen Zustände und Wünsche im Auge hat.

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Sehen wir nun aber von dieser Einseitigkeit ab, die nicht im Wesen ple_211.023
der Sache sondern in der Persönlichkeit Schillers ihren Grund hat, so bleibt ple_211.024
uns als herrschender Gesichtspunkt für die Einteilung der Poesie das Verhältnis ple_211.025
des Dichters zur Wirklichkeit einerseits, zu seinen Idealen andrerseits. ple_211.026
Dieses Verhältnis hat Schiller mit klassischer Klarheit und Folgerichtigkeit ple_211.027
bestimmt, und die Einteilung, die sich ihm ergibt, ist in ihren wesentlichen ple_211.028
Zügen unanfechtbar. Hiernach verhält sich der Dichter zu seinem Gegenstande ple_211.029
entweder naiv (wir können auch objektiv dafür sagen) oder sentimentalisch ple_211.030
(subjektiv
). Der objektive Dichter strebt die reine Wiedergabe ple_211.031
("die möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen") an. Die völlige ple_211.032
Versenkung in seinen Gegenstand ist der entscheidende Charakterzug: seine ple_211.033
Person als solche, sein Urteil, seine Empfindungsweise tritt nirgends hervor. ple_211.034
Der subjektive Dichter dagegen steht seinem Gegenstand mit dem Bewußtsein ple_211.035
eines Kontrastes gegenüber; indem er sein Ideal, wir dürfen jetzt sagen: ple_211.036
sei es allgemeiner oder persönlicher, sei es sittlicher oder selbstsüchtiger Art, ple_211.037
auf die Wirklichkeit anwendet, kommt ihm der Widerstreit zwischen beiden ple_211.038
zum Bewußtsein, ein Widerstreit, der freilich in der Phantasie überwunden ple_211.039
werden und zur Darstellung des erreichten Ideals führen kann. Hieraus ergibt ple_211.040
sich nun die weitere Einteilung der sentimentalischen Poesie. Schiller nennt ple_211.041
sie elegisch, wenn sie das verlorene Ideal als Ziel der Sehnsucht, satirisch, ple_211.042
wenn sie die Wirklichkeit als Gegensatz zum Ideal darstellt, idyllisch, wenn ple_211.043
sie die erträumte Übereinstimmung von Ideal und Wirklichkeit zum Ausdruck

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hier an einem typischen Beispiel entgegen. Schiller engt durch eine moralische ple_211.002
Anschauungsweise, die geschichtlich und psychologisch verständlich, ple_211.003
aber nicht im Wesen der Kunst begründet ist, die Begriffe gewaltsam ein, ple_211.004
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die Aufgabe der Poesie, „der Menschheit ihren möglichst völligen Ausdruck ple_211.006
zu geben“; er formuliert scharf die zwei möglichen Arten, in denen ple_211.007
diese Aufgabe erfüllt werden, in denen „sich überhaupt der poetische ple_211.008
Genius äußern“ kann: erstens „die möglichst vollständige Nachahmung des ple_211.009
Wirklichen“ und zweitens „die Darstellung des Ideals“. Wenn aber diese ple_211.010
Alternative erschöpfend sein soll, so darf das Ideal, von dem hier die Rede ple_211.011
ist, offenbar nicht nur nicht einem einzelnen moralischen System entnommen ple_211.012
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Inhalt zu geben. Es ist wiederum allein aus dem Einfluß der ple_211.014
Kantischen Ethik verständlich, wenn Schiller nur die Sehnsucht nach der ple_211.015
Vollkommenheit, nicht aber die nach höherer Glückseligkeit für würdig eines ple_211.016
Dichters erklärt. Hier stoßen wir auf die Schranken, die Schillers Philosophie ple_211.017
am schärfsten von der modernen Lebensanschauung, wie auch schon von ple_211.018
der Goethes trennen. Einen ästhetischen Grund, zwischen beiden Idealen ple_211.019
zu scheiden, kann es nicht geben; es macht für den künstlerischen Charakter ple_211.020
eines Gedichtes keinen Unterschied, ob der Dichter die allgemeinen oder ple_211.021
nur seine persönlichen Zustände und Wünsche im Auge hat.

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Sehen wir nun aber von dieser Einseitigkeit ab, die nicht im Wesen ple_211.023
der Sache sondern in der Persönlichkeit Schillers ihren Grund hat, so bleibt ple_211.024
uns als herrschender Gesichtspunkt für die Einteilung der Poesie das Verhältnis ple_211.025
des Dichters zur Wirklichkeit einerseits, zu seinen Idealen andrerseits. ple_211.026
Dieses Verhältnis hat Schiller mit klassischer Klarheit und Folgerichtigkeit ple_211.027
bestimmt, und die Einteilung, die sich ihm ergibt, ist in ihren wesentlichen ple_211.028
Zügen unanfechtbar. Hiernach verhält sich der Dichter zu seinem Gegenstande ple_211.029
entweder naiv (wir können auch objektiv dafür sagen) oder sentimentalisch ple_211.030
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(„die möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen“) an. Die völlige ple_211.032
Versenkung in seinen Gegenstand ist der entscheidende Charakterzug: seine ple_211.033
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Der subjektive Dichter dagegen steht seinem Gegenstand mit dem Bewußtsein ple_211.035
eines Kontrastes gegenüber; indem er sein Ideal, wir dürfen jetzt sagen: ple_211.036
sei es allgemeiner oder persönlicher, sei es sittlicher oder selbstsüchtiger Art, ple_211.037
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zum Bewußtsein, ein Widerstreit, der freilich in der Phantasie überwunden ple_211.039
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sich nun die weitere Einteilung der sentimentalischen Poesie. Schiller nennt ple_211.041
sie elegisch, wenn sie das verlorene Ideal als Ziel der Sehnsucht, satirisch, ple_211.042
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[211/0225] ple_211.001 hier an einem typischen Beispiel entgegen. Schiller engt durch eine moralische ple_211.002 Anschauungsweise, die geschichtlich und psychologisch verständlich, ple_211.003 aber nicht im Wesen der Kunst begründet ist, die Begriffe gewaltsam ein, ple_211.004 die er seiner ästhetischen Betrachtung zugrunde legt. Er bezeichnet als ple_211.005 die Aufgabe der Poesie, „der Menschheit ihren möglichst völligen Ausdruck ple_211.006 zu geben“; er formuliert scharf die zwei möglichen Arten, in denen ple_211.007 diese Aufgabe erfüllt werden, in denen „sich überhaupt der poetische ple_211.008 Genius äußern“ kann: erstens „die möglichst vollständige Nachahmung des ple_211.009 Wirklichen“ und zweitens „die Darstellung des Ideals“. Wenn aber diese ple_211.010 Alternative erschöpfend sein soll, so darf das Ideal, von dem hier die Rede ple_211.011 ist, offenbar nicht nur nicht einem einzelnen moralischen System entnommen ple_211.012 sein, sondern man hat überhaupt keinen Grund, ihm einen einseitig moralischen ple_211.013 Inhalt zu geben. Es ist wiederum allein aus dem Einfluß der ple_211.014 Kantischen Ethik verständlich, wenn Schiller nur die Sehnsucht nach der ple_211.015 Vollkommenheit, nicht aber die nach höherer Glückseligkeit für würdig eines ple_211.016 Dichters erklärt. Hier stoßen wir auf die Schranken, die Schillers Philosophie ple_211.017 am schärfsten von der modernen Lebensanschauung, wie auch schon von ple_211.018 der Goethes trennen. Einen ästhetischen Grund, zwischen beiden Idealen ple_211.019 zu scheiden, kann es nicht geben; es macht für den künstlerischen Charakter ple_211.020 eines Gedichtes keinen Unterschied, ob der Dichter die allgemeinen oder ple_211.021 nur seine persönlichen Zustände und Wünsche im Auge hat. ple_211.022 Sehen wir nun aber von dieser Einseitigkeit ab, die nicht im Wesen ple_211.023 der Sache sondern in der Persönlichkeit Schillers ihren Grund hat, so bleibt ple_211.024 uns als herrschender Gesichtspunkt für die Einteilung der Poesie das Verhältnis ple_211.025 des Dichters zur Wirklichkeit einerseits, zu seinen Idealen andrerseits. ple_211.026 Dieses Verhältnis hat Schiller mit klassischer Klarheit und Folgerichtigkeit ple_211.027 bestimmt, und die Einteilung, die sich ihm ergibt, ist in ihren wesentlichen ple_211.028 Zügen unanfechtbar. Hiernach verhält sich der Dichter zu seinem Gegenstande ple_211.029 entweder naiv (wir können auch objektiv dafür sagen) oder sentimentalisch ple_211.030 (subjektiv). Der objektive Dichter strebt die reine Wiedergabe ple_211.031 („die möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen“) an. Die völlige ple_211.032 Versenkung in seinen Gegenstand ist der entscheidende Charakterzug: seine ple_211.033 Person als solche, sein Urteil, seine Empfindungsweise tritt nirgends hervor. ple_211.034 Der subjektive Dichter dagegen steht seinem Gegenstand mit dem Bewußtsein ple_211.035 eines Kontrastes gegenüber; indem er sein Ideal, wir dürfen jetzt sagen: ple_211.036 sei es allgemeiner oder persönlicher, sei es sittlicher oder selbstsüchtiger Art, ple_211.037 auf die Wirklichkeit anwendet, kommt ihm der Widerstreit zwischen beiden ple_211.038 zum Bewußtsein, ein Widerstreit, der freilich in der Phantasie überwunden ple_211.039 werden und zur Darstellung des erreichten Ideals führen kann. Hieraus ergibt ple_211.040 sich nun die weitere Einteilung der sentimentalischen Poesie. Schiller nennt ple_211.041 sie elegisch, wenn sie das verlorene Ideal als Ziel der Sehnsucht, satirisch, ple_211.042 wenn sie die Wirklichkeit als Gegensatz zum Ideal darstellt, idyllisch, wenn ple_211.043 sie die erträumte Übereinstimmung von Ideal und Wirklichkeit zum Ausdruck

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/225>, abgerufen am 25.11.2024.