Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_204.001 ple_204.017 ple_204.001 ple_204.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0218" n="204"/><lb n="ple_204.001"/> die Gefahr liegt nahe, daß das fehlende Leben durch ein falsches Pathos, <lb n="ple_204.002"/> durch theatralische Posen, daß das Künstlerische durch das Künstliche <lb n="ple_204.003"/> ersetzt wird. Dieser Unnatur ist die ideale Kunst auf die Dauer weder in <lb n="ple_204.004"/> der Poesie, noch in der Bildnerei jemals völlig entgangen: große feierliche <lb n="ple_204.005"/> Linien ohne Inhalt, allzu gesuchte, ja affektierte Bewegungen, pathetische <lb n="ple_204.006"/> Worte ohne alle Wärme sind ihre Symptome. Die entgegengesetzte Gefahr <lb n="ple_204.007"/> droht der naturalistischen Kunst. Die Auswahl des Charakteristischen und <lb n="ple_204.008"/> Individuellen kann gar zu leicht ins Kleinliche, Zufällige, Ideenlose verfallen. <lb n="ple_204.009"/> Ja, in allen Epochen, wo der Naturalismus als Programm in bewußtem <lb n="ple_204.010"/> Gegensatz zu dem einseitigen Schönheitskultus des idealen Stils <lb n="ple_204.011"/> auftritt, wird er eine natürliche Neigung zeigen, das Häßliche ganz besonders <lb n="ple_204.012"/> hervorzukehren, das Charakteristische ausschließlich oder doch vorwiegend <lb n="ple_204.013"/> im Unschönen zu finden, wie es die moderne Dichtung vielfach <lb n="ple_204.014"/> getan hat. Allein die Fähigkeit, Lust durch Unlust hervorzurufen, hat ihre <lb n="ple_204.015"/> Grenzen, und wo diese überschritten werden, wo die Wirkung im Peinlichen <lb n="ple_204.016"/> befangen bleibt, widerspricht die Kunst ihrem eigenen Wesen.</p> <p><lb n="ple_204.017"/> Der allgemeine Gegensatz der beiden Stilrichtungen tritt am anschaulichsten <lb n="ple_204.018"/> hervor, wenn wir ihn in seiner Bedeutung für die Methode dichterischer <lb n="ple_204.019"/> <hi rendition="#g">Charakteristik</hi> betrachten. Denn die Aufgabe, die für alle dramatische <lb n="ple_204.020"/> wie epische Poesie ein für allemal die wichtigste ist, die Darstellung <lb n="ple_204.021"/> menschlicher Charaktere in ihrer Eigenart und ihren Lebensäußerungen, <lb n="ple_204.022"/> wird von naturalistischen und idealistischen Dichtern verschieden <lb n="ple_204.023"/> angefaßt und gelöst. Die Methode der naturalistischen Kunst beruht vor <lb n="ple_204.024"/> allem darauf, daß sie die Fülle einzelner, an sich zufällig erscheinender <lb n="ple_204.025"/> Züge, welche die Wirklichkeit darbietet, soweit das technisch möglich <lb n="ple_204.026"/> ist, in das Charakterbild mit aufnimmt: sie verfährt mithin <hi rendition="#g">individualisierend.</hi> <lb n="ple_204.027"/> Die Idealkunst dagegen zeichnet in großen Umrissen, verschmäht <lb n="ple_204.028"/> alles, was zufällig erscheinen kann, und schwächt das Individuelle <lb n="ple_204.029"/> ab, indem sie es auf allgemeine Grundzüge zurückführt; mit einem Wort: <lb n="ple_204.030"/> sie sucht das <hi rendition="#g">Typische</hi> wie jene das <hi rendition="#g">Individuelle.</hi> Das Verfahren des <lb n="ple_204.031"/> Dichters entspricht völlig demjenigen des Porträtmalers. Die Porträtmalerei <lb n="ple_204.032"/> zeigt uns deutlich den Unterschied zwischen der naturalistischen <lb n="ple_204.033"/> Wiedergabe des Gesehenen, in der uns die Eigentümlichkeiten der Gesichtszüge <lb n="ple_204.034"/> bis auf kleine und unbedeutende Einzelheiten, wie Warzen und Narben, <lb n="ple_204.035"/> deutlich entgegentreten, und einer Auffassung, welche die Wiedergabe <lb n="ple_204.036"/> solcher Einzelheiten grundsätzlich verschmäht und den Charakter nur in <lb n="ple_204.037"/> seiner typischen Bestimmtheit, z. B. als majestätisch, tapfer oder dergleichen <lb n="ple_204.038"/> darstellen will. So verhalten sich etwa die Bildnisse von Hans <lb n="ple_204.039"/> Holbein oder Van Dyk zu den meisten Porträts von französischen und <lb n="ple_204.040"/> deutschen Malern aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Dem entsprechend <lb n="ple_204.041"/> charakterisiert der naturalistische Dichter seine Personen mit einer Fülle <lb n="ple_204.042"/> individueller Einzelheiten, Eigentümlichkeiten des Temperaments, bestimmten <lb n="ple_204.043"/> persönlichen Gewohnheiten. Fast jede Gestalt von Dickens gibt Beispiele </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [204/0218]
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die Gefahr liegt nahe, daß das fehlende Leben durch ein falsches Pathos, ple_204.002
durch theatralische Posen, daß das Künstlerische durch das Künstliche ple_204.003
ersetzt wird. Dieser Unnatur ist die ideale Kunst auf die Dauer weder in ple_204.004
der Poesie, noch in der Bildnerei jemals völlig entgangen: große feierliche ple_204.005
Linien ohne Inhalt, allzu gesuchte, ja affektierte Bewegungen, pathetische ple_204.006
Worte ohne alle Wärme sind ihre Symptome. Die entgegengesetzte Gefahr ple_204.007
droht der naturalistischen Kunst. Die Auswahl des Charakteristischen und ple_204.008
Individuellen kann gar zu leicht ins Kleinliche, Zufällige, Ideenlose verfallen. ple_204.009
Ja, in allen Epochen, wo der Naturalismus als Programm in bewußtem ple_204.010
Gegensatz zu dem einseitigen Schönheitskultus des idealen Stils ple_204.011
auftritt, wird er eine natürliche Neigung zeigen, das Häßliche ganz besonders ple_204.012
hervorzukehren, das Charakteristische ausschließlich oder doch vorwiegend ple_204.013
im Unschönen zu finden, wie es die moderne Dichtung vielfach ple_204.014
getan hat. Allein die Fähigkeit, Lust durch Unlust hervorzurufen, hat ihre ple_204.015
Grenzen, und wo diese überschritten werden, wo die Wirkung im Peinlichen ple_204.016
befangen bleibt, widerspricht die Kunst ihrem eigenen Wesen.
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Der allgemeine Gegensatz der beiden Stilrichtungen tritt am anschaulichsten ple_204.018
hervor, wenn wir ihn in seiner Bedeutung für die Methode dichterischer ple_204.019
Charakteristik betrachten. Denn die Aufgabe, die für alle dramatische ple_204.020
wie epische Poesie ein für allemal die wichtigste ist, die Darstellung ple_204.021
menschlicher Charaktere in ihrer Eigenart und ihren Lebensäußerungen, ple_204.022
wird von naturalistischen und idealistischen Dichtern verschieden ple_204.023
angefaßt und gelöst. Die Methode der naturalistischen Kunst beruht vor ple_204.024
allem darauf, daß sie die Fülle einzelner, an sich zufällig erscheinender ple_204.025
Züge, welche die Wirklichkeit darbietet, soweit das technisch möglich ple_204.026
ist, in das Charakterbild mit aufnimmt: sie verfährt mithin individualisierend. ple_204.027
Die Idealkunst dagegen zeichnet in großen Umrissen, verschmäht ple_204.028
alles, was zufällig erscheinen kann, und schwächt das Individuelle ple_204.029
ab, indem sie es auf allgemeine Grundzüge zurückführt; mit einem Wort: ple_204.030
sie sucht das Typische wie jene das Individuelle. Das Verfahren des ple_204.031
Dichters entspricht völlig demjenigen des Porträtmalers. Die Porträtmalerei ple_204.032
zeigt uns deutlich den Unterschied zwischen der naturalistischen ple_204.033
Wiedergabe des Gesehenen, in der uns die Eigentümlichkeiten der Gesichtszüge ple_204.034
bis auf kleine und unbedeutende Einzelheiten, wie Warzen und Narben, ple_204.035
deutlich entgegentreten, und einer Auffassung, welche die Wiedergabe ple_204.036
solcher Einzelheiten grundsätzlich verschmäht und den Charakter nur in ple_204.037
seiner typischen Bestimmtheit, z. B. als majestätisch, tapfer oder dergleichen ple_204.038
darstellen will. So verhalten sich etwa die Bildnisse von Hans ple_204.039
Holbein oder Van Dyk zu den meisten Porträts von französischen und ple_204.040
deutschen Malern aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Dem entsprechend ple_204.041
charakterisiert der naturalistische Dichter seine Personen mit einer Fülle ple_204.042
individueller Einzelheiten, Eigentümlichkeiten des Temperaments, bestimmten ple_204.043
persönlichen Gewohnheiten. Fast jede Gestalt von Dickens gibt Beispiele
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