Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

Bild:
<< vorherige Seite
ple_198.001
Vierter Teil. ple_198.002
Die Richtungen der Poesie.


ple_198.003
17. Naturalismus und Idealstil.

Die Poesie wird in dem ganzen ple_198.004
Umfang ihrer inneren und äußeren Formen durch den Gegensatz der ple_198.005
beiden Stilrichtungen beherrscht, welche man mit dem Namen Naturalismus ple_198.006
und Idealstil bezeichnet. (Das Wort Realismus, das man früher ple_198.007
für Naturalismus zu verwenden pflegte, drückt nicht mit gleicher Schärfe ple_198.008
aus, worauf es ankommt, und wird daher besser für die gemilderte ple_198.009
und abgeschwächte Form der Wirklichkeitsdichtung verwandt.) Dieser ple_198.010
Gegensatz wird gewöhnlich durch die Streitfrage gekennzeichnet, ob in ple_198.011
der Kunst die Wahrheit oder die Schönheit der letzte Zweck sei, und ple_198.012
welches von diesen beiden Idealen sich dem andern unterzuordnen habe. ple_198.013
Genauer gefaßt lautet das Problem: ist das Höchste, was die Kunst erreichen ple_198.014
kann und will, die nachahmende Darstellung des Wirklichen oder ple_198.015
strebt sie vielmehr eine Erhöhung der Wirklichkeit an? Es ist derselbe ple_198.016
Gegensatz, der uns auf dem Gebiete der Plastik und Malerei als der ple_198.017
Kampf der schönen und der charakteristischen Kunst entgegentritt.

ple_198.018
Die Mittel, die Wirklichkeit zu erhöhen, oder wie es unsere Klassiker ple_198.019
gern ausdrückten, die Darstellung über das Gemeine zu erheben, findet ple_198.020
die Poesie naturgemäß zunächst in den ihr eigenen Formenelementen, also ple_198.021
in Sprache und Metrum, und hier tritt daher der Gegensatz zwischen ple_198.022
naturalistischem und idealem Stil am deutlichsten hervor. Schon die bloße ple_198.023
Anwendung eines festen Rhythmus erhebt die Sprache der Poesie über ple_198.024
die der Wirklichkeit, ja sie ist äußerlich das sicherste Unterscheidungszeichen ple_198.025
zwischen beiden. Daher wird der Idealstil stets einer metrischen ple_198.026
Gestaltung zuneigen, der Naturalismus dagegen sie verwerfen. Der Weg ple_198.027
von der naturalistischen Richtung der Sturm- und Drangperiode zum ple_198.028
Klassizismus wird durch nichts so deutlich wie durch den Übergang von ple_198.029
der Prosa, die in Goethes und Schillers Jugenddramen herrschte, zu der ple_198.030
rhythmisierten Sprache und, in der weiteren Entwicklung, zu den Versen ple_198.031
der Iphigenie und des Don Carlos. Ein strenger Naturalismus ist mit einer

ple_198.001
Vierter Teil. ple_198.002
Die Richtungen der Poesie.


ple_198.003
17. Naturalismus und Idealstil.

Die Poesie wird in dem ganzen ple_198.004
Umfang ihrer inneren und äußeren Formen durch den Gegensatz der ple_198.005
beiden Stilrichtungen beherrscht, welche man mit dem Namen Naturalismus ple_198.006
und Idealstil bezeichnet. (Das Wort Realismus, das man früher ple_198.007
für Naturalismus zu verwenden pflegte, drückt nicht mit gleicher Schärfe ple_198.008
aus, worauf es ankommt, und wird daher besser für die gemilderte ple_198.009
und abgeschwächte Form der Wirklichkeitsdichtung verwandt.) Dieser ple_198.010
Gegensatz wird gewöhnlich durch die Streitfrage gekennzeichnet, ob in ple_198.011
der Kunst die Wahrheit oder die Schönheit der letzte Zweck sei, und ple_198.012
welches von diesen beiden Idealen sich dem andern unterzuordnen habe. ple_198.013
Genauer gefaßt lautet das Problem: ist das Höchste, was die Kunst erreichen ple_198.014
kann und will, die nachahmende Darstellung des Wirklichen oder ple_198.015
strebt sie vielmehr eine Erhöhung der Wirklichkeit an? Es ist derselbe ple_198.016
Gegensatz, der uns auf dem Gebiete der Plastik und Malerei als der ple_198.017
Kampf der schönen und der charakteristischen Kunst entgegentritt.

ple_198.018
Die Mittel, die Wirklichkeit zu erhöhen, oder wie es unsere Klassiker ple_198.019
gern ausdrückten, die Darstellung über das Gemeine zu erheben, findet ple_198.020
die Poesie naturgemäß zunächst in den ihr eigenen Formenelementen, also ple_198.021
in Sprache und Metrum, und hier tritt daher der Gegensatz zwischen ple_198.022
naturalistischem und idealem Stil am deutlichsten hervor. Schon die bloße ple_198.023
Anwendung eines festen Rhythmus erhebt die Sprache der Poesie über ple_198.024
die der Wirklichkeit, ja sie ist äußerlich das sicherste Unterscheidungszeichen ple_198.025
zwischen beiden. Daher wird der Idealstil stets einer metrischen ple_198.026
Gestaltung zuneigen, der Naturalismus dagegen sie verwerfen. Der Weg ple_198.027
von der naturalistischen Richtung der Sturm- und Drangperiode zum ple_198.028
Klassizismus wird durch nichts so deutlich wie durch den Übergang von ple_198.029
der Prosa, die in Goethes und Schillers Jugenddramen herrschte, zu der ple_198.030
rhythmisierten Sprache und, in der weiteren Entwicklung, zu den Versen ple_198.031
der Iphigenie und des Don Carlos. Ein strenger Naturalismus ist mit einer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0212" n="E198"/>
          </div>
        </div>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#c">
              <lb n="ple_198.001"/> <hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Vierter Teil.</hi><lb n="ple_198.002"/>
Die Richtungen der Poesie.</hi> </hi> </head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <head>
              <lb n="ple_198.003"/> <hi rendition="#b">17. Naturalismus und Idealstil.</hi> </head>
            <p> Die Poesie wird in dem ganzen <lb n="ple_198.004"/>
Umfang ihrer inneren und äußeren Formen durch den Gegensatz der <lb n="ple_198.005"/>
beiden Stilrichtungen beherrscht, welche man mit dem Namen <hi rendition="#g">Naturalismus</hi> <lb n="ple_198.006"/>
und <hi rendition="#g">Idealstil</hi> bezeichnet. (Das Wort <hi rendition="#g">Realismus,</hi> das man früher <lb n="ple_198.007"/>
für <hi rendition="#g">Naturalismus</hi> zu verwenden pflegte, drückt nicht mit gleicher Schärfe <lb n="ple_198.008"/>
aus, worauf es ankommt, und wird daher besser für die gemilderte <lb n="ple_198.009"/>
und abgeschwächte Form der Wirklichkeitsdichtung verwandt.) Dieser <lb n="ple_198.010"/>
Gegensatz wird gewöhnlich durch die Streitfrage gekennzeichnet, ob in <lb n="ple_198.011"/>
der Kunst die Wahrheit oder die Schönheit der letzte Zweck sei, und <lb n="ple_198.012"/>
welches von diesen beiden Idealen sich dem andern unterzuordnen habe. <lb n="ple_198.013"/>
Genauer gefaßt lautet das Problem: ist das Höchste, was die Kunst erreichen <lb n="ple_198.014"/>
kann und will, die nachahmende Darstellung des Wirklichen oder <lb n="ple_198.015"/>
strebt sie vielmehr eine Erhöhung der Wirklichkeit an? Es ist derselbe <lb n="ple_198.016"/>
Gegensatz, der uns auf dem Gebiete der Plastik und Malerei als der <lb n="ple_198.017"/>
Kampf der schönen und der charakteristischen Kunst entgegentritt.</p>
            <p><lb n="ple_198.018"/>
Die Mittel, die Wirklichkeit zu erhöhen, oder wie es unsere Klassiker <lb n="ple_198.019"/>
gern ausdrückten, die Darstellung über das Gemeine zu erheben, findet <lb n="ple_198.020"/>
die Poesie naturgemäß zunächst in den ihr eigenen Formenelementen, also <lb n="ple_198.021"/>
in Sprache und Metrum, und hier tritt daher der Gegensatz zwischen <lb n="ple_198.022"/>
naturalistischem und idealem Stil am deutlichsten hervor. Schon die bloße <lb n="ple_198.023"/>
Anwendung eines festen Rhythmus erhebt die Sprache der Poesie über <lb n="ple_198.024"/>
die der Wirklichkeit, ja sie ist äußerlich das sicherste Unterscheidungszeichen <lb n="ple_198.025"/>
zwischen beiden. Daher wird der Idealstil stets einer metrischen <lb n="ple_198.026"/>
Gestaltung zuneigen, der Naturalismus dagegen sie verwerfen. Der Weg <lb n="ple_198.027"/>
von der naturalistischen Richtung der Sturm- und Drangperiode zum <lb n="ple_198.028"/>
Klassizismus wird durch nichts so deutlich wie durch den Übergang von <lb n="ple_198.029"/>
der Prosa, die in Goethes und Schillers Jugenddramen herrschte, zu der <lb n="ple_198.030"/>
rhythmisierten Sprache und, in der weiteren Entwicklung, zu den Versen <lb n="ple_198.031"/>
der Iphigenie und des Don Carlos. Ein strenger Naturalismus ist mit einer
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[E198/0212] ple_198.001 Vierter Teil. ple_198.002 Die Richtungen der Poesie. ple_198.003 17. Naturalismus und Idealstil. Die Poesie wird in dem ganzen ple_198.004 Umfang ihrer inneren und äußeren Formen durch den Gegensatz der ple_198.005 beiden Stilrichtungen beherrscht, welche man mit dem Namen Naturalismus ple_198.006 und Idealstil bezeichnet. (Das Wort Realismus, das man früher ple_198.007 für Naturalismus zu verwenden pflegte, drückt nicht mit gleicher Schärfe ple_198.008 aus, worauf es ankommt, und wird daher besser für die gemilderte ple_198.009 und abgeschwächte Form der Wirklichkeitsdichtung verwandt.) Dieser ple_198.010 Gegensatz wird gewöhnlich durch die Streitfrage gekennzeichnet, ob in ple_198.011 der Kunst die Wahrheit oder die Schönheit der letzte Zweck sei, und ple_198.012 welches von diesen beiden Idealen sich dem andern unterzuordnen habe. ple_198.013 Genauer gefaßt lautet das Problem: ist das Höchste, was die Kunst erreichen ple_198.014 kann und will, die nachahmende Darstellung des Wirklichen oder ple_198.015 strebt sie vielmehr eine Erhöhung der Wirklichkeit an? Es ist derselbe ple_198.016 Gegensatz, der uns auf dem Gebiete der Plastik und Malerei als der ple_198.017 Kampf der schönen und der charakteristischen Kunst entgegentritt. ple_198.018 Die Mittel, die Wirklichkeit zu erhöhen, oder wie es unsere Klassiker ple_198.019 gern ausdrückten, die Darstellung über das Gemeine zu erheben, findet ple_198.020 die Poesie naturgemäß zunächst in den ihr eigenen Formenelementen, also ple_198.021 in Sprache und Metrum, und hier tritt daher der Gegensatz zwischen ple_198.022 naturalistischem und idealem Stil am deutlichsten hervor. Schon die bloße ple_198.023 Anwendung eines festen Rhythmus erhebt die Sprache der Poesie über ple_198.024 die der Wirklichkeit, ja sie ist äußerlich das sicherste Unterscheidungszeichen ple_198.025 zwischen beiden. Daher wird der Idealstil stets einer metrischen ple_198.026 Gestaltung zuneigen, der Naturalismus dagegen sie verwerfen. Der Weg ple_198.027 von der naturalistischen Richtung der Sturm- und Drangperiode zum ple_198.028 Klassizismus wird durch nichts so deutlich wie durch den Übergang von ple_198.029 der Prosa, die in Goethes und Schillers Jugenddramen herrschte, zu der ple_198.030 rhythmisierten Sprache und, in der weiteren Entwicklung, zu den Versen ple_198.031 der Iphigenie und des Don Carlos. Ein strenger Naturalismus ist mit einer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/212
Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. E198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/212>, abgerufen am 23.11.2024.