Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_192.001 ple_192.028 1) ple_192.041 Ausführlich dargelegt in der S. 190 Note bezeichneten Stelle. 2) ple_192.042
kai philosophoteron kai spoudaioteron poiesis istorias estin. e men gar poiesis mallon ple_192.043 ta katholou e d'istoria ta kath' ekaston legei. ple_192.001 ple_192.028 1) ple_192.041 Ausführlich dargelegt in der S. 190 Note bezeichneten Stelle. 2) ple_192.042
καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν. ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον ple_192.043 τὰ καθόλου ἡ δ'ἱστορία τὰ καθ' ἕκαστον λέγει. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0206" n="192"/><lb n="ple_192.001"/> Zeit mit Vorliebe sich solcher Stoffe bemächtigte, und niemand wird leugnen, <lb n="ple_192.002"/> daß in einem Werke wie Glucks Iphigenie in Tauris auch die dramatischen <lb n="ple_192.003"/> Momente des Stoffes mächtig zur Geltung kommen. So erklärt sich Richard <lb n="ple_192.004"/> Wagners zugleich künstlerisch durchgeführte und theoretisch ausgesprochene <lb n="ple_192.005"/> Anschauung vom Werte des Mythos.<note xml:id="ple_192_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_192.041"/> Ausführlich dargelegt in der S. 190 Note bezeichneten Stelle.</note> Er sah in diesem den ein für allemal <lb n="ple_192.006"/> gegebenen und durch nichts anderes ersetzbaren Stoff für das musikalische <lb n="ple_192.007"/> Drama, das ja seinerseits ein Ersatz oder eine Weiterbildung der <lb n="ple_192.008"/> antiken Tragödie sein sollte. Auch ist ihm die dichterische Gestaltung einer <lb n="ple_192.009"/> Reihe von christlichen Sagenstoffen, die dem modernen Empfinden leicht zugänglich <lb n="ple_192.010"/> sind, in vollendetem Maße geglückt; am meisten im Tannhäuser, <lb n="ple_192.011"/> wo der typische Gegensatz zwischen dämonischer Sinnenlust und vergeistigter <lb n="ple_192.012"/> Liebe musikalisch und dramatisch zu gleich vollendetem Ausdruck gekommen <lb n="ple_192.013"/> ist, aber auch im Tristan und schon vorher im Fliegenden Holländer. Dagegen <lb n="ple_192.014"/> ist das Unternehmen, die schattenhaften, unserem Verständnis wie <lb n="ple_192.015"/> unserer Phantasie fast gänzlich fremd gewordenen Gestalten der nordischen <lb n="ple_192.016"/> Walhalla mit Leben und Blut zu erfüllen, gescheitert; und der Erfolg des <lb n="ple_192.017"/> Nibelungenrings ist, abgesehen von einer Anzahl dichterisch schöner Einzelheiten, <lb n="ple_192.018"/> fast ganz auf Rechnung der Musik zu stellen. Das gewaltsame <lb n="ple_192.019"/> Streben, die typische Bedeutsamkeit einer märchenhaften Handlung ins <lb n="ple_192.020"/> Philosophische zu steigern, kann innerliche Lebendigkeit und psychologische <lb n="ple_192.021"/> Vertiefung unmöglich ersetzen. Etwas Ähnliches ist auch von dem weit <lb n="ple_192.022"/> schwächeren Nibelungenepos Jordans zu sagen, das mit Wagners Ringdichtung <lb n="ple_192.023"/> ungefähr gleichzeitig entstanden ist und sich in derselben Richtung <lb n="ple_192.024"/> bewegt. Dahingegen ist es Hebbel zweifellos und als Einzigem geglückt, <lb n="ple_192.025"/> Handlung und Charakter des Nibelungenlieds zu tiefer und echt dramatischer <lb n="ple_192.026"/> Wirkung zu bringen, indem er es verstand, aus dem mythischen Geschehen <lb n="ple_192.027"/> einen <hi rendition="#g">geschichtlichen</hi> Gegensatz gewaltigster Art hervortreten zu lassen.</p> <p><lb n="ple_192.028"/> Denn die Mythologie überhaupt ist nach dem heutigen Stande unsrer <lb n="ple_192.029"/> Kenntnis nicht so einseitig, wie man früher annahm, aus personifizierenden <lb n="ple_192.030"/> Naturanschauungen hervorgegangen: sie ist vielmehr stark mit Elementen <lb n="ple_192.031"/> geschichtlicher Erinnerung versetzt, und Dramen wie der Agamemnon des <lb n="ple_192.032"/> Äschylos, oder die Sieben gegen Theben müssen dem griechischen <lb n="ple_192.033"/> Publikum wohl den Eindruck geschichtlicher Dichtungen gemacht haben. <lb n="ple_192.034"/> Die Eigenschaften nun, welche der <hi rendition="#g">geschichtliche</hi> Stoff mit dem <lb n="ple_192.035"/> mythischen teilt, Großzügigkeit und typische Bedeutsamkeit, sind es zweifellos, <lb n="ple_192.036"/> die zuerst dramatische Dichter zu diesem zweiten großen Stoffgebiet <lb n="ple_192.037"/> hingezogen haben, und Aristoteles macht an der bekannten Stelle der <lb n="ple_192.038"/> Poetik (c. 9) offenbar zwischen beiden keinen Unterschied: ihm ist der <lb n="ple_192.039"/> typische Gehalt, den der Dichter in das einmal und zufällig Geschenene <lb n="ple_192.040"/> legt, das Wertvolle in der geschichtlichen Dichtung.<note xml:id="ple_192_2" place="foot" n="2)"><lb n="ple_192.042"/> καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν. ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον <lb n="ple_192.043"/> τὰ καθόλου ἡ δ'ἱστορία τὰ καθ' ἕκαστον λέγει.</note> Die klassische französische </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [192/0206]
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Zeit mit Vorliebe sich solcher Stoffe bemächtigte, und niemand wird leugnen, ple_192.002
daß in einem Werke wie Glucks Iphigenie in Tauris auch die dramatischen ple_192.003
Momente des Stoffes mächtig zur Geltung kommen. So erklärt sich Richard ple_192.004
Wagners zugleich künstlerisch durchgeführte und theoretisch ausgesprochene ple_192.005
Anschauung vom Werte des Mythos. 1) Er sah in diesem den ein für allemal ple_192.006
gegebenen und durch nichts anderes ersetzbaren Stoff für das musikalische ple_192.007
Drama, das ja seinerseits ein Ersatz oder eine Weiterbildung der ple_192.008
antiken Tragödie sein sollte. Auch ist ihm die dichterische Gestaltung einer ple_192.009
Reihe von christlichen Sagenstoffen, die dem modernen Empfinden leicht zugänglich ple_192.010
sind, in vollendetem Maße geglückt; am meisten im Tannhäuser, ple_192.011
wo der typische Gegensatz zwischen dämonischer Sinnenlust und vergeistigter ple_192.012
Liebe musikalisch und dramatisch zu gleich vollendetem Ausdruck gekommen ple_192.013
ist, aber auch im Tristan und schon vorher im Fliegenden Holländer. Dagegen ple_192.014
ist das Unternehmen, die schattenhaften, unserem Verständnis wie ple_192.015
unserer Phantasie fast gänzlich fremd gewordenen Gestalten der nordischen ple_192.016
Walhalla mit Leben und Blut zu erfüllen, gescheitert; und der Erfolg des ple_192.017
Nibelungenrings ist, abgesehen von einer Anzahl dichterisch schöner Einzelheiten, ple_192.018
fast ganz auf Rechnung der Musik zu stellen. Das gewaltsame ple_192.019
Streben, die typische Bedeutsamkeit einer märchenhaften Handlung ins ple_192.020
Philosophische zu steigern, kann innerliche Lebendigkeit und psychologische ple_192.021
Vertiefung unmöglich ersetzen. Etwas Ähnliches ist auch von dem weit ple_192.022
schwächeren Nibelungenepos Jordans zu sagen, das mit Wagners Ringdichtung ple_192.023
ungefähr gleichzeitig entstanden ist und sich in derselben Richtung ple_192.024
bewegt. Dahingegen ist es Hebbel zweifellos und als Einzigem geglückt, ple_192.025
Handlung und Charakter des Nibelungenlieds zu tiefer und echt dramatischer ple_192.026
Wirkung zu bringen, indem er es verstand, aus dem mythischen Geschehen ple_192.027
einen geschichtlichen Gegensatz gewaltigster Art hervortreten zu lassen.
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Denn die Mythologie überhaupt ist nach dem heutigen Stande unsrer ple_192.029
Kenntnis nicht so einseitig, wie man früher annahm, aus personifizierenden ple_192.030
Naturanschauungen hervorgegangen: sie ist vielmehr stark mit Elementen ple_192.031
geschichtlicher Erinnerung versetzt, und Dramen wie der Agamemnon des ple_192.032
Äschylos, oder die Sieben gegen Theben müssen dem griechischen ple_192.033
Publikum wohl den Eindruck geschichtlicher Dichtungen gemacht haben. ple_192.034
Die Eigenschaften nun, welche der geschichtliche Stoff mit dem ple_192.035
mythischen teilt, Großzügigkeit und typische Bedeutsamkeit, sind es zweifellos, ple_192.036
die zuerst dramatische Dichter zu diesem zweiten großen Stoffgebiet ple_192.037
hingezogen haben, und Aristoteles macht an der bekannten Stelle der ple_192.038
Poetik (c. 9) offenbar zwischen beiden keinen Unterschied: ihm ist der ple_192.039
typische Gehalt, den der Dichter in das einmal und zufällig Geschenene ple_192.040
legt, das Wertvolle in der geschichtlichen Dichtung. 2) Die klassische französische
1) ple_192.041
Ausführlich dargelegt in der S. 190 Note bezeichneten Stelle.
2) ple_192.042
καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν. ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον ple_192.043
τὰ καθόλου ἡ δ'ἱστορία τὰ καθ' ἕκαστον λέγει.
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