Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_171.001 ple_171.007 1) ple_171.026 Von dem Wesen und der Bedeutung des Mimus haben uns die Forschungen ple_171.027 Herm. Reichs (Der Mimus. Ein literarentwicklungsgeschichtlicher Versuch. 2 Bde. Berlin ple_171.028 1903) ein wertvolles, wenn auch vielleicht in einzelnen Teilen zu stark aufgetragenes ple_171.029 Bild gewährt. -- Über die Verschiedenheit des psychologischen Ursprungs handelt scharf ple_171.030 und geistreich Th. A. Meyer: Das Stilgesetz der Poesie, S. 108-111. 2) ple_171.031
Interessant sind die Zeugnisse, welche diese Verschiedenheit psychologisch belegen. ple_171.032 Der ausgeprägteste Typus des Bühnenschriftstellers ist Scribe. "Wenn ich eine ple_171.033 Szene schreibe," sagte Legouve zu ihm, "so höre ich, Sie aber sehen. Bei jedem Satz, ple_171.034 den ich schreibe, kommt mir die Stimme der sprechenden Person ins Ohr. Sie, der Sie ple_171.035 das Theater selbst sind, Ihre Schauspieler gehen und gestikulieren vor ihren Augen: ich ple_171.036 ein Hörer, Sie ein Zuschauer." -- "Nichts wahrer als dies," sagte Scribe, "wissen Sie, ple_171.037 wo ich mich im Geiste befinde, wenn ich ein Stück schreibe? Mitten im Parterre!" -- ple_171.038 (Binet, Psychologie du Raisonnement, angeführt bei James, Principles of psychologie, ple_171.039 II S. 60.) Dagegen schreibt Schiller an Goethe: "Ich wüßte nicht, was einen bei einer ple_171.040 dramatischen Ausarbeitung so streng in den Grenzen der Dichtart hielte, und wenn man ple_171.041 daraus getreten, so sicher darein zurückführte, als eine möglichst lebhafte Vorstellung der ple_171.042 wirklichen Repräsentation der Bretter eines angefüllten und buntgemischten Hauses, wodurch ple_171.043 die affektvolle unruhige Erwartung, mithin das Gesetz des intensiven und rastlosen ple_171.044 Fortschreitens und Bewegens einem so nahe gebracht wird." Man sieht, daß die Bühne ple_171.045 seiner Phantasie schon nicht mehr so unbedingt und unmittelbar vorschwebte. ple_171.001 ple_171.007 1) ple_171.026 Von dem Wesen und der Bedeutung des Mimus haben uns die Forschungen ple_171.027 Herm. Reichs (Der Mimus. Ein literarentwicklungsgeschichtlicher Versuch. 2 Bde. Berlin ple_171.028 1903) ein wertvolles, wenn auch vielleicht in einzelnen Teilen zu stark aufgetragenes ple_171.029 Bild gewährt. — Über die Verschiedenheit des psychologischen Ursprungs handelt scharf ple_171.030 und geistreich Th. A. Meyer: Das Stilgesetz der Poesie, S. 108–111. 2) ple_171.031
Interessant sind die Zeugnisse, welche diese Verschiedenheit psychologisch belegen. ple_171.032 Der ausgeprägteste Typus des Bühnenschriftstellers ist Scribe. „Wenn ich eine ple_171.033 Szene schreibe,“ sagte Legouvé zu ihm, „so höre ich, Sie aber sehen. Bei jedem Satz, ple_171.034 den ich schreibe, kommt mir die Stimme der sprechenden Person ins Ohr. Sie, der Sie ple_171.035 das Theater selbst sind, Ihre Schauspieler gehen und gestikulieren vor ihren Augen: ich ple_171.036 ein Hörer, Sie ein Zuschauer.“ — „Nichts wahrer als dies,“ sagte Scribe, „wissen Sie, ple_171.037 wo ich mich im Geiste befinde, wenn ich ein Stück schreibe? Mitten im Parterre!“ — ple_171.038 (Binet, Psychologie du Raisonnement, angeführt bei James, Principles of psychologie, ple_171.039 II S. 60.) Dagegen schreibt Schiller an Goethe: „Ich wüßte nicht, was einen bei einer ple_171.040 dramatischen Ausarbeitung so streng in den Grenzen der Dichtart hielte, und wenn man ple_171.041 daraus getreten, so sicher darein zurückführte, als eine möglichst lebhafte Vorstellung der ple_171.042 wirklichen Repräsentation der Bretter eines angefüllten und buntgemischten Hauses, wodurch ple_171.043 die affektvolle unruhige Erwartung, mithin das Gesetz des intensiven und rastlosen ple_171.044 Fortschreitens und Bewegens einem so nahe gebracht wird.“ Man sieht, daß die Bühne ple_171.045 seiner Phantasie schon nicht mehr so unbedingt und unmittelbar vorschwebte. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0185" n="171"/><lb n="ple_171.001"/> das ganze Altertum hindurch.<note xml:id="ple_171_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_171.026"/> Von dem Wesen und der Bedeutung des Mimus haben uns die Forschungen <lb n="ple_171.027"/> Herm. <hi rendition="#g">Reichs</hi> (Der Mimus. 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So ist es denn begreiflich, daß von den beiden Elementen, <lb n="ple_171.009"/> die sie enthalten, bald das eine, bald das andere überwiegt.<note xml:id="ple_171_2" place="foot" n="2)"><lb n="ple_171.031"/> Interessant sind die Zeugnisse, welche diese Verschiedenheit psychologisch belegen. <lb n="ple_171.032"/> Der ausgeprägteste Typus des Bühnenschriftstellers ist <hi rendition="#g">Scribe.</hi> „Wenn ich eine <lb n="ple_171.033"/> Szene schreibe,“ sagte Legouvé zu ihm, „so <hi rendition="#g">höre</hi> ich, Sie aber <hi rendition="#g">sehen.</hi> Bei jedem Satz, <lb n="ple_171.034"/> den ich schreibe, kommt mir die Stimme der sprechenden Person ins Ohr. Sie, der Sie <lb n="ple_171.035"/> das Theater selbst sind, Ihre Schauspieler gehen und gestikulieren vor ihren Augen: ich <lb n="ple_171.036"/> ein Hörer, Sie ein Zuschauer.“ — „Nichts wahrer als dies,“ sagte Scribe, „wissen Sie, <lb n="ple_171.037"/> wo ich mich im Geiste befinde, wenn ich ein Stück schreibe? 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Dennoch ist er Dichter genug, um seine Wirkungen <lb n="ple_171.014"/> nicht zu berechnen, sondern zu fühlen, und in die Bühnenphantastik mischen <lb n="ple_171.015"/> sich ihm Züge eines gesunden Wirklichkeitssinnes. Das Theater verbindet <lb n="ple_171.016"/> ihm eine überirdische Geisterwelt mit der Realität des Lebens. Etwas Ähnliches <lb n="ple_171.017"/> ist bei einem größeren, bei Richard Wagner, der Fall, wenigstens <lb n="ple_171.018"/> in den meisten seiner Werke. Und in der Tat liegt es ja auch im Wesen <lb n="ple_171.019"/> des Doppelkunstwerks, das er schafft, daß er es von vornherein als Darstellung <lb n="ple_171.020"/> auf der Bühne und nur als solche sieht und denkt. In den beiden <lb n="ple_171.021"/> tiefsten und bedeutendsten Tondichtungen freilich, die er geschaffen, dem <lb n="ple_171.022"/> Tristan und den Meistersingern, geht die schöpferische Phantasie über das <lb n="ple_171.023"/> Bühnenbild hinaus in die Höhen und Tiefen des reinsten Humors und <lb n="ple_171.024"/> der innerlichen Gefühlserlebnisse. Hans Sachs unter dem Fliederbaum, <lb n="ple_171.025"/> Tristan und Isolde in der nächtlichen Laube sind nicht für die Bühne </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [171/0185]
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das ganze Altertum hindurch. 1) Auf die Entwicklung beider Gattungen ple_171.002
hat die Verbindung mit der Musik wesentlichen Einfluß geübt. — Auch ple_171.003
bei der Entstehung des Dramas der neueren Zeit finden wir die Spuren ple_171.004
einer ähnlichen parallelen Entwicklung, und in der Zwiespältigkeit des ple_171.005
Shakespeareschen Dramenstils sieht man deutlich das Zusammentreffen ple_171.006
zweier an sich verschiedener Formen der Kunstübung.
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Aus der Verbindung von Bühnenkunst und Poesie ist die dramatische ple_171.008
Dichtung entstanden. So ist es denn begreiflich, daß von den beiden Elementen, ple_171.009
die sie enthalten, bald das eine, bald das andere überwiegt. 2) Die ple_171.010
ausgeprägteste künstlerische Theaterphantasie unter allen deutschen Dichtern ple_171.011
besaß wohl Ferdinand Raimund. Er schwelgt in Bühnenbildern größtenteils ple_171.012
phantastischer Art, sein geistiges Ohr hört nicht Menschen, sondern ple_171.013
Schauspieler sprechen. Dennoch ist er Dichter genug, um seine Wirkungen ple_171.014
nicht zu berechnen, sondern zu fühlen, und in die Bühnenphantastik mischen ple_171.015
sich ihm Züge eines gesunden Wirklichkeitssinnes. Das Theater verbindet ple_171.016
ihm eine überirdische Geisterwelt mit der Realität des Lebens. Etwas Ähnliches ple_171.017
ist bei einem größeren, bei Richard Wagner, der Fall, wenigstens ple_171.018
in den meisten seiner Werke. Und in der Tat liegt es ja auch im Wesen ple_171.019
des Doppelkunstwerks, das er schafft, daß er es von vornherein als Darstellung ple_171.020
auf der Bühne und nur als solche sieht und denkt. In den beiden ple_171.021
tiefsten und bedeutendsten Tondichtungen freilich, die er geschaffen, dem ple_171.022
Tristan und den Meistersingern, geht die schöpferische Phantasie über das ple_171.023
Bühnenbild hinaus in die Höhen und Tiefen des reinsten Humors und ple_171.024
der innerlichen Gefühlserlebnisse. Hans Sachs unter dem Fliederbaum, ple_171.025
Tristan und Isolde in der nächtlichen Laube sind nicht für die Bühne
1) ple_171.026
Von dem Wesen und der Bedeutung des Mimus haben uns die Forschungen ple_171.027
Herm. Reichs (Der Mimus. Ein literarentwicklungsgeschichtlicher Versuch. 2 Bde. Berlin ple_171.028
1903) ein wertvolles, wenn auch vielleicht in einzelnen Teilen zu stark aufgetragenes ple_171.029
Bild gewährt. — Über die Verschiedenheit des psychologischen Ursprungs handelt scharf ple_171.030
und geistreich Th. A. Meyer: Das Stilgesetz der Poesie, S. 108–111.
2) ple_171.031
Interessant sind die Zeugnisse, welche diese Verschiedenheit psychologisch belegen. ple_171.032
Der ausgeprägteste Typus des Bühnenschriftstellers ist Scribe. „Wenn ich eine ple_171.033
Szene schreibe,“ sagte Legouvé zu ihm, „so höre ich, Sie aber sehen. Bei jedem Satz, ple_171.034
den ich schreibe, kommt mir die Stimme der sprechenden Person ins Ohr. Sie, der Sie ple_171.035
das Theater selbst sind, Ihre Schauspieler gehen und gestikulieren vor ihren Augen: ich ple_171.036
ein Hörer, Sie ein Zuschauer.“ — „Nichts wahrer als dies,“ sagte Scribe, „wissen Sie, ple_171.037
wo ich mich im Geiste befinde, wenn ich ein Stück schreibe? Mitten im Parterre!“ — ple_171.038
(Binet, Psychologie du Raisonnement, angeführt bei James, Principles of psychologie, ple_171.039
II S. 60.) Dagegen schreibt Schiller an Goethe: „Ich wüßte nicht, was einen bei einer ple_171.040
dramatischen Ausarbeitung so streng in den Grenzen der Dichtart hielte, und wenn man ple_171.041
daraus getreten, so sicher darein zurückführte, als eine möglichst lebhafte Vorstellung der ple_171.042
wirklichen Repräsentation der Bretter eines angefüllten und buntgemischten Hauses, wodurch ple_171.043
die affektvolle unruhige Erwartung, mithin das Gesetz des intensiven und rastlosen ple_171.044
Fortschreitens und Bewegens einem so nahe gebracht wird.“ Man sieht, daß die Bühne ple_171.045
seiner Phantasie schon nicht mehr so unbedingt und unmittelbar vorschwebte.
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Zitationshilfe: | Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/185>, abgerufen am 28.07.2024. |