Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_117.001 ple_117.006 ple_117.012 ple_117.020 ple_117.001 ple_117.006 ple_117.012 ple_117.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0131" n="117"/> <p><lb n="ple_117.001"/> Aus dem Gefühl derselben Wirkung entspringt der sentenziöse Schluß vieler <lb n="ple_117.002"/> Trauerspiele, so die Schlußworte der Oberpriesterin in Kleists Penthesilea: <lb n="ple_117.003"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Die abgestorbne Eiche steht im Sturm,</l><lb n="ple_117.004"/><l>Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder,</l><lb n="ple_117.005"/><l>Weil er in ihre Krone greifen kann.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_117.006"/> Und ganz ähnlich in Heines Almansor: <lb n="ple_117.007"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Der Allmacht Willen kann ich nicht begreifen,</l><lb n="ple_117.008"/><l>Doch Ahnung sagt mir: ausgereutet wird</l><lb n="ple_117.009"/><l>Die Lilie und die Myrte aus dem Wege,</l><lb n="ple_117.010"/><l>Worüber Gottes goldner Siegeswagen</l><lb n="ple_117.011"/><l>Hinrollen soll in stolzer Majestät.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_117.012"/> Tiefer freilich und befriedigender ist es, wenn eine neue höhere Vorstellung <lb n="ple_117.013"/> den Gegensatz in sich aufnimmt und eine Harmonie hervorruft, in welcher <lb n="ple_117.014"/> der Kontrast verschwindet. Schon die Schlußwendung von Willkommen <lb n="ple_117.015"/> und Abschied nähert sich dieser Wirkung, und deutlicher tritt sie in den <lb n="ple_117.016"/> Versen an Belinden hervor; der Gegensatz zwischen Natur und geselligem <lb n="ple_117.017"/> Flitterglanz erscheint hier aufgelöst durch die Liebe: <lb n="ple_117.018"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Wo du Engel bist, ist Lieb und Güte,</l><lb n="ple_117.019"/><l>Wo du bist Natur!</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_117.020"/> Aber besonders in reflektierenden Gedichten ernsten und erhabenen Charakters <lb n="ple_117.021"/> erhebt uns der Dichter gern über das Schmerzvolle eines Zwiespalts <lb n="ple_117.022"/> der Gedanken- und Gefühlswelt durch den Hinblick auf eine höhere <lb n="ple_117.023"/> Idee. So tritt in Schillers Worten des Wahns im Schlußverse der himmlische <lb n="ple_117.024"/> Glaube versöhnend den vorangegangenen Verneinungen gegenüber. <lb n="ple_117.025"/> So wird in Rückerts „Sterbender Blume“ die Klage um die Vergänglichkeit, <lb n="ple_117.026"/> der Schauer vor dem Tode, durch eine erhabene pantheistische Wendung <lb n="ple_117.027"/> überwunden; und in ganz ähnlicher Weise, aber in der Form noch <lb n="ple_117.028"/> kunstvoller, verwandeln sich in dem „Trauerliede“ desselben Dichters die <lb n="ple_117.029"/> Worte der Klage selbst in solche des Trostes und der Beruhigung. Unter <lb n="ple_117.030"/> den neueren Dichtern hat Arthur Fitger in ähnlicher Weise durch den pantheistischen <lb n="ple_117.031"/> Gedanken tief empfundenen Zwiespalt überwunden und in freudige <lb n="ple_117.032"/> Erhebung ausklingen lassen; am schönsten im „Gottesurteil“. Da die <lb n="ple_117.033"/> beiden letztgenannten Gedichte sehr unverdientermaßen wenig bekannt sind, <lb n="ple_117.034"/> so soll wenigstens das erste von ihnen zum Schluß dieses Abschnittes angeführt <lb n="ple_117.035"/> werden: <lb n="ple_117.036"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Die Blum am Anger spricht: O Himmelsnaß,</l><lb n="ple_117.037"/><l>Von mir gekannt einst unterm Namen Tau!</l><lb n="ple_117.038"/><l>In Frühlingsnächten wecktest du mich schlau,</l><lb n="ple_117.039"/><l>Verhießest Pflege süß ohn' Unterlaß.</l><lb n="ple_117.040"/><l>Wie hat sich nun in Haß</l><lb n="ple_117.041"/><l>Verkehrt dein Schmeicheln lau?</l><lb n="ple_117.042"/><l>Als Herbstreif machst du mir die Wangen blaß.</l><lb n="ple_117.043"/><l> Warum hat mich ins Leben</l><lb n="ple_117.044"/><l> Gerufen dein Gebot,</l><lb n="ple_117.045"/><l> Wenn du dafür nur geben</l><lb n="ple_117.046"/><l> Mir willst den bittern Tod!</l></lg></hi></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [117/0131]
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Aus dem Gefühl derselben Wirkung entspringt der sentenziöse Schluß vieler ple_117.002
Trauerspiele, so die Schlußworte der Oberpriesterin in Kleists Penthesilea: ple_117.003
Die abgestorbne Eiche steht im Sturm, ple_117.004
Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder, ple_117.005
Weil er in ihre Krone greifen kann.
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Und ganz ähnlich in Heines Almansor: ple_117.007
Der Allmacht Willen kann ich nicht begreifen, ple_117.008
Doch Ahnung sagt mir: ausgereutet wird ple_117.009
Die Lilie und die Myrte aus dem Wege, ple_117.010
Worüber Gottes goldner Siegeswagen ple_117.011
Hinrollen soll in stolzer Majestät.
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Tiefer freilich und befriedigender ist es, wenn eine neue höhere Vorstellung ple_117.013
den Gegensatz in sich aufnimmt und eine Harmonie hervorruft, in welcher ple_117.014
der Kontrast verschwindet. Schon die Schlußwendung von Willkommen ple_117.015
und Abschied nähert sich dieser Wirkung, und deutlicher tritt sie in den ple_117.016
Versen an Belinden hervor; der Gegensatz zwischen Natur und geselligem ple_117.017
Flitterglanz erscheint hier aufgelöst durch die Liebe: ple_117.018
Wo du Engel bist, ist Lieb und Güte, ple_117.019
Wo du bist Natur!
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Aber besonders in reflektierenden Gedichten ernsten und erhabenen Charakters ple_117.021
erhebt uns der Dichter gern über das Schmerzvolle eines Zwiespalts ple_117.022
der Gedanken- und Gefühlswelt durch den Hinblick auf eine höhere ple_117.023
Idee. So tritt in Schillers Worten des Wahns im Schlußverse der himmlische ple_117.024
Glaube versöhnend den vorangegangenen Verneinungen gegenüber. ple_117.025
So wird in Rückerts „Sterbender Blume“ die Klage um die Vergänglichkeit, ple_117.026
der Schauer vor dem Tode, durch eine erhabene pantheistische Wendung ple_117.027
überwunden; und in ganz ähnlicher Weise, aber in der Form noch ple_117.028
kunstvoller, verwandeln sich in dem „Trauerliede“ desselben Dichters die ple_117.029
Worte der Klage selbst in solche des Trostes und der Beruhigung. Unter ple_117.030
den neueren Dichtern hat Arthur Fitger in ähnlicher Weise durch den pantheistischen ple_117.031
Gedanken tief empfundenen Zwiespalt überwunden und in freudige ple_117.032
Erhebung ausklingen lassen; am schönsten im „Gottesurteil“. Da die ple_117.033
beiden letztgenannten Gedichte sehr unverdientermaßen wenig bekannt sind, ple_117.034
so soll wenigstens das erste von ihnen zum Schluß dieses Abschnittes angeführt ple_117.035
werden: ple_117.036
Die Blum am Anger spricht: O Himmelsnaß, ple_117.037
Von mir gekannt einst unterm Namen Tau! ple_117.038
In Frühlingsnächten wecktest du mich schlau, ple_117.039
Verhießest Pflege süß ohn' Unterlaß. ple_117.040
Wie hat sich nun in Haß ple_117.041
Verkehrt dein Schmeicheln lau? ple_117.042
Als Herbstreif machst du mir die Wangen blaß. ple_117.043
Warum hat mich ins Leben ple_117.044
Gerufen dein Gebot, ple_117.045
Wenn du dafür nur geben ple_117.046
Mir willst den bittern Tod!
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