Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_111.001 ple_111.036 1) ple_111.042
Vgl. Viehoff, Poetik S. 160. ple_111.001 ple_111.036 1) ple_111.042
Vgl. Viehoff, Poetik S. 160. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0125" n="111"/><lb n="ple_111.001"/> Mailied „Wie herrlich leuchtet uns die Natur“, wie überhaupt eine Anzahl <lb n="ple_111.002"/> kleiner Frühlings- und Liebeslieder, aber namentlich auch ein Gedicht wie <lb n="ple_111.003"/> Schillers „An die Freude“ können uns zeigen, daß solche dichterische <lb n="ple_111.004"/> Darstellung eines einheitlichen Gefühls nicht unmöglich ist. Aber sie sind <lb n="ple_111.005"/> vereinzelt gegenüber der unendlich größeren Anzahl von Gedichten, die <lb n="ple_111.006"/> aus dem Gefühl eines Kontrasts entsprungen sind oder in die doch stärker <lb n="ple_111.007"/> oder schwächer ein solches Gefühl hineinklingt. Solche Gedichte erregen <lb n="ple_111.008"/> unser Interesse in stärkerem Maße. Selbst in so kurzen und scheinbar so <lb n="ple_111.009"/> einfachen Gefühlsäußerungen, wie es Goethes Nachtlieder sind, beruht ein <lb n="ple_111.010"/> großer Teil der tiefen und innigen Wirkung auf der Empfindung eines <lb n="ple_111.011"/> schmerzlichen Kontrasts, und zwar ist es der Gegensatz zwischen dem <lb n="ple_111.012"/> leidenschaftlich aufgewühlten Inneren des Dichters und dem ersehnten <lb n="ple_111.013"/> Frieden, der sich in der Natur, in einem Bilde der Phantasie oder der Erinnerung <lb n="ple_111.014"/> verkörpert. In dem ersten Lied „Über allen Wipfeln ist Ruh“ <lb n="ple_111.015"/> klingt diese leidenschaftliche Stimmung nur als ein leiser Unterton am <lb n="ple_111.016"/> Schlusse hinein; im zweiten „Der du von dem Himmel bist“ wird der <lb n="ple_111.017"/> schmerzlich empfundene Gegensatz schon deutlich ausgesprochen; am <lb n="ple_111.018"/> stärksten aber und wirksamsten tritt er in „Jägers Abendlied“ hervor, das <lb n="ple_111.019"/> er auch der Form nach ganz beherrscht. In jedem größeren Gedicht vollends <lb n="ple_111.020"/> ist der Kontrast unentbehrlich und wenn wir oben den Satz aufgenommen <lb n="ple_111.021"/> haben, daß jedes lyrische Gedicht der Ausdruck eines inneren <lb n="ple_111.022"/> Zustandes ist, so werden wir nunmehr genauer sagen können: es ist, zumeist <lb n="ple_111.023"/> wenigstens, ein Zustand kontrastierender Gefühle, der darin zum <lb n="ple_111.024"/> Ausdruck kommt. Man betrachte daraufhin Gedichte wie „Willkommen <lb n="ple_111.025"/> und Abschied“, „Neue Liebe, neues Leben“, „An Belinde“, alles sehr einfache <lb n="ple_111.026"/> lyrische Schöpfungen ohne jeden Beisatz von Reflexion. In der Gedankenlyrik <lb n="ple_111.027"/> tritt der Gegensatz als <hi rendition="#g">begriffliche</hi> Antithese hervor; freilich <lb n="ple_111.028"/> muß dieselbe, wie wir später sehen werden, entsprechend dem Charakter <lb n="ple_111.029"/> der Poesie überhaupt, ganz und gar mit Gefühls- und Stimmungsgehalt <lb n="ple_111.030"/> durchtränkt und erfüllt sein. Schillers philosophische Gedichte bewegen <lb n="ple_111.031"/> sich fast sämtlich in solchen Antithesen, die zugleich Gegensätze des Begriffs <lb n="ple_111.032"/> und des Gefühls sind; man denke an Die Götter Griechenlands, Die <lb n="ple_111.033"/> Ideale, Das Ideal und das Leben, Die Worte des Glaubens.<note xml:id="ple_111_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_111.042"/> Vgl. <hi rendition="#k">Viehoff,</hi> Poetik S. 160.</note> Aber auch <lb n="ple_111.034"/> Gedichte wie Goethes Harzreise, Grenzen der Menschheit und Das Göttliche <lb n="ple_111.035"/> weisen genau denselben Charakter auf.</p> <p><lb n="ple_111.036"/> In noch weit ausgesprochenerem Maße als die lyrische, beruht alle <lb n="ple_111.037"/> epische und dramatische Wirkung auf Kontrasten. Hier sind es nicht mehr <lb n="ple_111.038"/> bloß Stimmungen und Gedanken, sondern Schicksale und Charaktere, durch <lb n="ple_111.039"/> die sie gebildet werden. Die Handlung entwickelt sich durch den Gegensatz <lb n="ple_111.040"/> von Glück und Unglück, von Gelingen und Mißlingen hindurch, und <lb n="ple_111.041"/> die Wirkung der Peripetien, auf die Aristoteles so viel Gewicht legte, ist </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [111/0125]
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Mailied „Wie herrlich leuchtet uns die Natur“, wie überhaupt eine Anzahl ple_111.002
kleiner Frühlings- und Liebeslieder, aber namentlich auch ein Gedicht wie ple_111.003
Schillers „An die Freude“ können uns zeigen, daß solche dichterische ple_111.004
Darstellung eines einheitlichen Gefühls nicht unmöglich ist. Aber sie sind ple_111.005
vereinzelt gegenüber der unendlich größeren Anzahl von Gedichten, die ple_111.006
aus dem Gefühl eines Kontrasts entsprungen sind oder in die doch stärker ple_111.007
oder schwächer ein solches Gefühl hineinklingt. Solche Gedichte erregen ple_111.008
unser Interesse in stärkerem Maße. Selbst in so kurzen und scheinbar so ple_111.009
einfachen Gefühlsäußerungen, wie es Goethes Nachtlieder sind, beruht ein ple_111.010
großer Teil der tiefen und innigen Wirkung auf der Empfindung eines ple_111.011
schmerzlichen Kontrasts, und zwar ist es der Gegensatz zwischen dem ple_111.012
leidenschaftlich aufgewühlten Inneren des Dichters und dem ersehnten ple_111.013
Frieden, der sich in der Natur, in einem Bilde der Phantasie oder der Erinnerung ple_111.014
verkörpert. In dem ersten Lied „Über allen Wipfeln ist Ruh“ ple_111.015
klingt diese leidenschaftliche Stimmung nur als ein leiser Unterton am ple_111.016
Schlusse hinein; im zweiten „Der du von dem Himmel bist“ wird der ple_111.017
schmerzlich empfundene Gegensatz schon deutlich ausgesprochen; am ple_111.018
stärksten aber und wirksamsten tritt er in „Jägers Abendlied“ hervor, das ple_111.019
er auch der Form nach ganz beherrscht. In jedem größeren Gedicht vollends ple_111.020
ist der Kontrast unentbehrlich und wenn wir oben den Satz aufgenommen ple_111.021
haben, daß jedes lyrische Gedicht der Ausdruck eines inneren ple_111.022
Zustandes ist, so werden wir nunmehr genauer sagen können: es ist, zumeist ple_111.023
wenigstens, ein Zustand kontrastierender Gefühle, der darin zum ple_111.024
Ausdruck kommt. Man betrachte daraufhin Gedichte wie „Willkommen ple_111.025
und Abschied“, „Neue Liebe, neues Leben“, „An Belinde“, alles sehr einfache ple_111.026
lyrische Schöpfungen ohne jeden Beisatz von Reflexion. In der Gedankenlyrik ple_111.027
tritt der Gegensatz als begriffliche Antithese hervor; freilich ple_111.028
muß dieselbe, wie wir später sehen werden, entsprechend dem Charakter ple_111.029
der Poesie überhaupt, ganz und gar mit Gefühls- und Stimmungsgehalt ple_111.030
durchtränkt und erfüllt sein. Schillers philosophische Gedichte bewegen ple_111.031
sich fast sämtlich in solchen Antithesen, die zugleich Gegensätze des Begriffs ple_111.032
und des Gefühls sind; man denke an Die Götter Griechenlands, Die ple_111.033
Ideale, Das Ideal und das Leben, Die Worte des Glaubens. 1) Aber auch ple_111.034
Gedichte wie Goethes Harzreise, Grenzen der Menschheit und Das Göttliche ple_111.035
weisen genau denselben Charakter auf.
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In noch weit ausgesprochenerem Maße als die lyrische, beruht alle ple_111.037
epische und dramatische Wirkung auf Kontrasten. Hier sind es nicht mehr ple_111.038
bloß Stimmungen und Gedanken, sondern Schicksale und Charaktere, durch ple_111.039
die sie gebildet werden. Die Handlung entwickelt sich durch den Gegensatz ple_111.040
von Glück und Unglück, von Gelingen und Mißlingen hindurch, und ple_111.041
die Wirkung der Peripetien, auf die Aristoteles so viel Gewicht legte, ist
1) ple_111.042
Vgl. Viehoff, Poetik S. 160.
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