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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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sich die allgemeinen Gesetze, denen er folgt, fast durchweg verstandesmäßig ple_109.002
erkennen und aussprechen. Die psychologische Grundlage der organischen ple_109.003
Bildungsgesetze poetischer Werke ist in keinem anderen Punkt so ple_109.004
faßbar und zugänglich wie hier.

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Aus diesem Grunde ist es belehrend und vorteilhaft, die Gesetze der ple_109.006
Komposition in ihrer allgemeinen Form aufzustellen und zusammenzufassen.1) ple_109.007
Ihre ganze Bedeutung erhellt allerdings erst aus den besonderen Modifikationen, ple_109.008
die sie innerhalb der einzelnen Dichtungsgattungen annehmen.

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Das gilt ganz besonders von demjenigen Prinzip, das man als erstes ple_109.010
und unumstößliches Gesetz dichterischer Komposition aufzustellen pflegt: ple_109.011
dem der Einheit. In der Tat kommt darin die allgemeinste Voraussetzung ple_109.012
eines jeden Kunstwerks zum Ausdruck, daß es nämlich aus einer einheitlich ple_109.013
bestimmten Intention des schaffenden Künstlers hervorgegangen sein ple_109.014
muß und dementsprechend wirken soll. Nun wird freilich eine solche einheitliche ple_109.015
Intention immer vorhanden sein, wenn ein Dichter ein Werk beginnt, ple_109.016
nur daß dieselbe durch äußere oder innere Umstände gestört und ple_109.017
verschoben werden kann, zumal wenn über der Ausführung lange Zeit vergeht. ple_109.018
Daß in einem solchen Falle auch die Wirkung beeinträchtigt wird, ple_109.019
ist allerdings klar, und man sieht das beispielsweise am Don Carlos oder ple_109.020
am zweiten Teil des Faust. Aber solche Umstände werden immer nur ple_109.021
ausnahmsweise und wider Willen des Dichters eintreten, und die Verschiebung ple_109.022
wird ihm im allgemeinen nicht zum Bewußtsein kommen. So erscheint ple_109.023
das Gesetz der Einheit in seiner allgemeinen Form als selbstverständlich ple_109.024
und daher wenig ergiebig. Die besonderen Formen aber, die ple_109.025
es innerhalb der einzelnen Gattungen annimmt, bilden gleichwohl mehrfach ple_109.026
Probleme, von deren Auffassung die künstlerische Gestaltung und das ple_109.027
ästhetische Urteil wesentlich mit bestimmt wird. Wir werden im Anschluß ple_109.028
an die ältere Ästhetik schon hier den allgemeinen Satz aufstellen dürfen, ple_109.029
daß alle lyrische Darstellung die Einheit eines Zustandes, alle epische ple_109.030
die Einheit der Entwicklung, alle dramatische die der Handlung voraussetzt ple_109.031
und fordert. Allein diese Begriffe sind an sich keineswegs eindeutig ple_109.032
und zweifelsfrei; sie können erst aus den späteren Erörterungen ple_109.033
volles Licht empfangen, und dann werden uns auch die Fragen deutlich ple_109.034
werden, die sich an sie knüpfen, wie z. B. die, ob die Einheit des Helden ple_109.035
für das Epos ausreichend ist oder ob wir Aristoteles noch heute recht ple_109.036
geben müssen, wenn er auch für die epische Dichtung die Einheit der ple_109.037
Handlung in dem gleichen Sinne wie für das Drama fordert. Auch die ple_109.038
Einheit des Stils und seiner Formen, die an sich ebenso selbstverständlich ple_109.039
erscheint, wie die des Inhalts, kann zu Zweifeln Anlaß geben: ist es künstlerisch

1) ple_109.040
In diesem Sinne hat G. Th. Fechner in der Vorschule der Ästhetik eine ple_109.041
Anzahl Gesetze des dichterischen Baues unter dem Namen "Prinzipien des ästhetischen ple_109.042
Kontrasts, der ästhetischen Folge und Versöhnung" aufgestellt (Bd. II S. 231 ff.). Die ple_109.043
folgende Betrachtung lehnt sich zum Teil an ihn an, ohne ihm ganz zu folgen.

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sich die allgemeinen Gesetze, denen er folgt, fast durchweg verstandesmäßig ple_109.002
erkennen und aussprechen. Die psychologische Grundlage der organischen ple_109.003
Bildungsgesetze poetischer Werke ist in keinem anderen Punkt so ple_109.004
faßbar und zugänglich wie hier.

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Aus diesem Grunde ist es belehrend und vorteilhaft, die Gesetze der ple_109.006
Komposition in ihrer allgemeinen Form aufzustellen und zusammenzufassen.1) ple_109.007
Ihre ganze Bedeutung erhellt allerdings erst aus den besonderen Modifikationen, ple_109.008
die sie innerhalb der einzelnen Dichtungsgattungen annehmen.

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Das gilt ganz besonders von demjenigen Prinzip, das man als erstes ple_109.010
und unumstößliches Gesetz dichterischer Komposition aufzustellen pflegt: ple_109.011
dem der Einheit. In der Tat kommt darin die allgemeinste Voraussetzung ple_109.012
eines jeden Kunstwerks zum Ausdruck, daß es nämlich aus einer einheitlich ple_109.013
bestimmten Intention des schaffenden Künstlers hervorgegangen sein ple_109.014
muß und dementsprechend wirken soll. Nun wird freilich eine solche einheitliche ple_109.015
Intention immer vorhanden sein, wenn ein Dichter ein Werk beginnt, ple_109.016
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verschoben werden kann, zumal wenn über der Ausführung lange Zeit vergeht. ple_109.018
Daß in einem solchen Falle auch die Wirkung beeinträchtigt wird, ple_109.019
ist allerdings klar, und man sieht das beispielsweise am Don Carlos oder ple_109.020
am zweiten Teil des Faust. Aber solche Umstände werden immer nur ple_109.021
ausnahmsweise und wider Willen des Dichters eintreten, und die Verschiebung ple_109.022
wird ihm im allgemeinen nicht zum Bewußtsein kommen. So erscheint ple_109.023
das Gesetz der Einheit in seiner allgemeinen Form als selbstverständlich ple_109.024
und daher wenig ergiebig. Die besonderen Formen aber, die ple_109.025
es innerhalb der einzelnen Gattungen annimmt, bilden gleichwohl mehrfach ple_109.026
Probleme, von deren Auffassung die künstlerische Gestaltung und das ple_109.027
ästhetische Urteil wesentlich mit bestimmt wird. Wir werden im Anschluß ple_109.028
an die ältere Ästhetik schon hier den allgemeinen Satz aufstellen dürfen, ple_109.029
daß alle lyrische Darstellung die Einheit eines Zustandes, alle epische ple_109.030
die Einheit der Entwicklung, alle dramatische die der Handlung voraussetzt ple_109.031
und fordert. Allein diese Begriffe sind an sich keineswegs eindeutig ple_109.032
und zweifelsfrei; sie können erst aus den späteren Erörterungen ple_109.033
volles Licht empfangen, und dann werden uns auch die Fragen deutlich ple_109.034
werden, die sich an sie knüpfen, wie z. B. die, ob die Einheit des Helden ple_109.035
für das Epos ausreichend ist oder ob wir Aristoteles noch heute recht ple_109.036
geben müssen, wenn er auch für die epische Dichtung die Einheit der ple_109.037
Handlung in dem gleichen Sinne wie für das Drama fordert. Auch die ple_109.038
Einheit des Stils und seiner Formen, die an sich ebenso selbstverständlich ple_109.039
erscheint, wie die des Inhalts, kann zu Zweifeln Anlaß geben: ist es künstlerisch

1) ple_109.040
In diesem Sinne hat G. Th. Fechner in der Vorschule der Ästhetik eine ple_109.041
Anzahl Gesetze des dichterischen Baues unter dem Namen „Prinzipien des ästhetischen ple_109.042
Kontrasts, der ästhetischen Folge und Versöhnung“ aufgestellt (Bd. II S. 231 ff.). Die ple_109.043
folgende Betrachtung lehnt sich zum Teil an ihn an, ohne ihm ganz zu folgen.
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[109/0123] ple_109.001 sich die allgemeinen Gesetze, denen er folgt, fast durchweg verstandesmäßig ple_109.002 erkennen und aussprechen. Die psychologische Grundlage der organischen ple_109.003 Bildungsgesetze poetischer Werke ist in keinem anderen Punkt so ple_109.004 faßbar und zugänglich wie hier. ple_109.005 Aus diesem Grunde ist es belehrend und vorteilhaft, die Gesetze der ple_109.006 Komposition in ihrer allgemeinen Form aufzustellen und zusammenzufassen. 1) ple_109.007 Ihre ganze Bedeutung erhellt allerdings erst aus den besonderen Modifikationen, ple_109.008 die sie innerhalb der einzelnen Dichtungsgattungen annehmen. ple_109.009 Das gilt ganz besonders von demjenigen Prinzip, das man als erstes ple_109.010 und unumstößliches Gesetz dichterischer Komposition aufzustellen pflegt: ple_109.011 dem der Einheit. In der Tat kommt darin die allgemeinste Voraussetzung ple_109.012 eines jeden Kunstwerks zum Ausdruck, daß es nämlich aus einer einheitlich ple_109.013 bestimmten Intention des schaffenden Künstlers hervorgegangen sein ple_109.014 muß und dementsprechend wirken soll. Nun wird freilich eine solche einheitliche ple_109.015 Intention immer vorhanden sein, wenn ein Dichter ein Werk beginnt, ple_109.016 nur daß dieselbe durch äußere oder innere Umstände gestört und ple_109.017 verschoben werden kann, zumal wenn über der Ausführung lange Zeit vergeht. ple_109.018 Daß in einem solchen Falle auch die Wirkung beeinträchtigt wird, ple_109.019 ist allerdings klar, und man sieht das beispielsweise am Don Carlos oder ple_109.020 am zweiten Teil des Faust. Aber solche Umstände werden immer nur ple_109.021 ausnahmsweise und wider Willen des Dichters eintreten, und die Verschiebung ple_109.022 wird ihm im allgemeinen nicht zum Bewußtsein kommen. So erscheint ple_109.023 das Gesetz der Einheit in seiner allgemeinen Form als selbstverständlich ple_109.024 und daher wenig ergiebig. Die besonderen Formen aber, die ple_109.025 es innerhalb der einzelnen Gattungen annimmt, bilden gleichwohl mehrfach ple_109.026 Probleme, von deren Auffassung die künstlerische Gestaltung und das ple_109.027 ästhetische Urteil wesentlich mit bestimmt wird. Wir werden im Anschluß ple_109.028 an die ältere Ästhetik schon hier den allgemeinen Satz aufstellen dürfen, ple_109.029 daß alle lyrische Darstellung die Einheit eines Zustandes, alle epische ple_109.030 die Einheit der Entwicklung, alle dramatische die der Handlung voraussetzt ple_109.031 und fordert. Allein diese Begriffe sind an sich keineswegs eindeutig ple_109.032 und zweifelsfrei; sie können erst aus den späteren Erörterungen ple_109.033 volles Licht empfangen, und dann werden uns auch die Fragen deutlich ple_109.034 werden, die sich an sie knüpfen, wie z. B. die, ob die Einheit des Helden ple_109.035 für das Epos ausreichend ist oder ob wir Aristoteles noch heute recht ple_109.036 geben müssen, wenn er auch für die epische Dichtung die Einheit der ple_109.037 Handlung in dem gleichen Sinne wie für das Drama fordert. Auch die ple_109.038 Einheit des Stils und seiner Formen, die an sich ebenso selbstverständlich ple_109.039 erscheint, wie die des Inhalts, kann zu Zweifeln Anlaß geben: ist es künstlerisch 1) ple_109.040 In diesem Sinne hat G. Th. Fechner in der Vorschule der Ästhetik eine ple_109.041 Anzahl Gesetze des dichterischen Baues unter dem Namen „Prinzipien des ästhetischen ple_109.042 Kontrasts, der ästhetischen Folge und Versöhnung“ aufgestellt (Bd. II S. 231 ff.). Die ple_109.043 folgende Betrachtung lehnt sich zum Teil an ihn an, ohne ihm ganz zu folgen.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/123>, abgerufen am 22.11.2024.