Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_094.001 ple_094.016 1) ple_094.038
Wenigstens das echte Enjambement, wie es Minor, Neuhochdeutsche Metrik2 ple_094.039 S. 196 ff., von unrechtmäßigen Erweiterungen des Begriffes scheidet. Diese Erweiterungen ple_094.040 haben zu der Meinung verführt, daß alles erlaubt ist, während, wie Minor mit Recht sagt, ple_094.041 "umgekehrt gerade in dieser Hinsicht sehr wenig erlaubt ist". ple_094.001 ple_094.016 1) ple_094.038
Wenigstens das echte Enjambement, wie es Minor, Neuhochdeutsche Metrik2 ple_094.039 S. 196 ff., von unrechtmäßigen Erweiterungen des Begriffes scheidet. Diese Erweiterungen ple_094.040 haben zu der Meinung verführt, daß alles erlaubt ist, während, wie Minor mit Recht sagt, ple_094.041 „umgekehrt gerade in dieser Hinsicht sehr wenig erlaubt ist“. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0108" n="94"/><lb n="ple_094.001"/> überall zur Geltung kommt und mithin ein natürliches Verhältnis bezeichnet, <lb n="ple_094.002"/> dieses nämlich, daß größere rhythmische und inhaltliche Abschnitte einander <lb n="ple_094.003"/> entsprechen, einander stützen und stärken. Ja, es gibt Gliederungen, <lb n="ple_094.004"/> denen der rhythmische Charakter in eigentlichen Sinne ganz abgeht, und <lb n="ple_094.005"/> die ausschließlich durch die Gegenüberstellung ungefähr gleich langer Sätze <lb n="ple_094.006"/> gebildet werden: das ist in dem sogenannten Parallelismus der hebräischen <lb n="ple_094.007"/> Poesie der Fall, wie sie uns im Psalter und im Hohen Lied entgegentritt: <lb n="ple_094.008"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Der Herr ist mein Hirte,</l><lb n="ple_094.009"/><l>Mir wird nichts mangeln, </l></lg><lg><lb n="ple_094.010"/><l>Er weidet mich auf einer grünen Aue,</l><lb n="ple_094.011"/><l>Er führet mich zu frischem Wasser.<lb/> — — — — — — — — — — — </l></lg><lg><lb n="ple_094.012"/><l>Du breitest vor mir einen Tisch gegen meine Feinde,</l><lb n="ple_094.013"/><l>Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. </l></lg><lg><lb n="ple_094.014"/><l>Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,</l><lb n="ple_094.015"/><l>Und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_094.016"/> Auch da, wo sich ausgesprochne Rhythmen und feste Maße, wo sich Verse <lb n="ple_094.017"/> und Strophen herausgebildet haben, ist es die Regel, daß Verseinschnitt <lb n="ple_094.018"/> und Versende durch entsprechende Abschnitte in Sinn und Rede bezeichnet <lb n="ple_094.019"/> werden. Ist es auch nicht immer ein Satzende, mit welchem der metrische <lb n="ple_094.020"/> Abschluß eintritt, so ist es doch der Regel nach die natürliche Pause, die <lb n="ple_094.021"/> nach einer enger zusammengehörigen Wortgruppe entsteht. Das sogenannte <lb n="ple_094.022"/> <hi rendition="#g">Enjambement,</hi> die Versüberschreitung, oder wie wir vielleicht deutlicher <lb n="ple_094.023"/> sagen können, die Versverschleifung, ist immer nur eine Ausnahme.<note xml:id="ple_094_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_094.038"/> Wenigstens das <hi rendition="#g">echte</hi> Enjambement, wie es <hi rendition="#k">Minor,</hi> Neuhochdeutsche Metrik<hi rendition="#sup">2</hi> <lb n="ple_094.039"/> S. 196 ff., von unrechtmäßigen Erweiterungen des Begriffes scheidet. Diese Erweiterungen <lb n="ple_094.040"/> haben zu der Meinung verführt, daß alles erlaubt ist, während, wie Minor mit Recht sagt, <lb n="ple_094.041"/> „umgekehrt gerade in dieser Hinsicht sehr wenig erlaubt ist“.</note> Freilich <lb n="ple_094.024"/> ist sie in der antiken Poesie immerhin weit häufiger als in der germanischen <lb n="ple_094.025"/> und modernen, wie aus dem Charakter der beiden Arten der <lb n="ple_094.026"/> Versmessung ohne weiteres erklärlich ist. Denn wo, wie in der germanischen <lb n="ple_094.027"/> Poesie, Wortton und Verston zusammenfallen, da wird auch die Satzbetonung <lb n="ple_094.028"/> eine Störung durch das Versende nicht wohl ertragen, und auch <lb n="ple_094.029"/> der Versrhythmus selbst muß durch eine solche Diskrepanz gestört werden. <lb n="ple_094.030"/> Wo aber das Prinzip des Versakzents mit dem Wortton an sich nichts zu <lb n="ple_094.031"/> tun hat und daher selbständiger und schärfer hervortritt, wie es in der <lb n="ple_094.032"/> antiken Verskunst geschieht, da wird es auch leichter dem Satze Gewalt <lb n="ple_094.033"/> antun können, ohne selbst darunter zu leiden. Daher findet sich bei Homer <lb n="ple_094.034"/> die Versverschleifung nicht selten, im Nibelungenliede niemals. Daß vollends <lb n="ple_094.035"/> das Strophenende durch Satz und Sinn überschritten wird, kommt auch in <lb n="ple_094.036"/> der antiken Dichtung sehr wenig vor und unser modernes Ohr empfindet <lb n="ple_094.037"/> es selbst hier als eine kaum erträgliche Härte.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [94/0108]
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überall zur Geltung kommt und mithin ein natürliches Verhältnis bezeichnet, ple_094.002
dieses nämlich, daß größere rhythmische und inhaltliche Abschnitte einander ple_094.003
entsprechen, einander stützen und stärken. Ja, es gibt Gliederungen, ple_094.004
denen der rhythmische Charakter in eigentlichen Sinne ganz abgeht, und ple_094.005
die ausschließlich durch die Gegenüberstellung ungefähr gleich langer Sätze ple_094.006
gebildet werden: das ist in dem sogenannten Parallelismus der hebräischen ple_094.007
Poesie der Fall, wie sie uns im Psalter und im Hohen Lied entgegentritt: ple_094.008
Der Herr ist mein Hirte, ple_094.009
Mir wird nichts mangeln,
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Er weidet mich auf einer grünen Aue, ple_094.011
Er führet mich zu frischem Wasser.
— — — — — — — — — — —
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Du breitest vor mir einen Tisch gegen meine Feinde, ple_094.013
Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
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Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, ple_094.015
Und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.
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Auch da, wo sich ausgesprochne Rhythmen und feste Maße, wo sich Verse ple_094.017
und Strophen herausgebildet haben, ist es die Regel, daß Verseinschnitt ple_094.018
und Versende durch entsprechende Abschnitte in Sinn und Rede bezeichnet ple_094.019
werden. Ist es auch nicht immer ein Satzende, mit welchem der metrische ple_094.020
Abschluß eintritt, so ist es doch der Regel nach die natürliche Pause, die ple_094.021
nach einer enger zusammengehörigen Wortgruppe entsteht. Das sogenannte ple_094.022
Enjambement, die Versüberschreitung, oder wie wir vielleicht deutlicher ple_094.023
sagen können, die Versverschleifung, ist immer nur eine Ausnahme. 1) Freilich ple_094.024
ist sie in der antiken Poesie immerhin weit häufiger als in der germanischen ple_094.025
und modernen, wie aus dem Charakter der beiden Arten der ple_094.026
Versmessung ohne weiteres erklärlich ist. Denn wo, wie in der germanischen ple_094.027
Poesie, Wortton und Verston zusammenfallen, da wird auch die Satzbetonung ple_094.028
eine Störung durch das Versende nicht wohl ertragen, und auch ple_094.029
der Versrhythmus selbst muß durch eine solche Diskrepanz gestört werden. ple_094.030
Wo aber das Prinzip des Versakzents mit dem Wortton an sich nichts zu ple_094.031
tun hat und daher selbständiger und schärfer hervortritt, wie es in der ple_094.032
antiken Verskunst geschieht, da wird es auch leichter dem Satze Gewalt ple_094.033
antun können, ohne selbst darunter zu leiden. Daher findet sich bei Homer ple_094.034
die Versverschleifung nicht selten, im Nibelungenliede niemals. Daß vollends ple_094.035
das Strophenende durch Satz und Sinn überschritten wird, kommt auch in ple_094.036
der antiken Dichtung sehr wenig vor und unser modernes Ohr empfindet ple_094.037
es selbst hier als eine kaum erträgliche Härte.
1) ple_094.038
Wenigstens das echte Enjambement, wie es Minor, Neuhochdeutsche Metrik2 ple_094.039
S. 196 ff., von unrechtmäßigen Erweiterungen des Begriffes scheidet. Diese Erweiterungen ple_094.040
haben zu der Meinung verführt, daß alles erlaubt ist, während, wie Minor mit Recht sagt, ple_094.041
„umgekehrt gerade in dieser Hinsicht sehr wenig erlaubt ist“.
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