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Lavater, Johann Caspar: Sammlung einiger Gebete auf die wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens. Leipzig, 1778.

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Geduld in Trübsal.

Ich trinke ihn denn, den heilsamen Kelch! Abba!
mein Vater! es geschehe dein Wille, dieß ist die
Stimme meines göttlichen Lehrers: da er geduldig
hingieng, als ein Lamm, das zur Schlachtbank
geführet wird; verspottet, geschlagen, mit falschen
Zeugnissen gekränkt, ungerecht verurtheilt und grau-
sam getödtet: da er hingieng als ein stilles Lamm,
das verstummet vor seinem Scherer. Und ich will
dir folgen, göttlicher Freund, mein Kreuze auf mich
nehmen; mit dir geduldig leiden; mit dir getrost ster-
ben. Stärke mich, o mein Gott! diesen großen
Entschluß hinaus zu führen. Erfülle mich mit dem
erhabenen Muthe, der alle Widerwärtigkeiten nicht
achtet, und mit der demüthigen Gelassenheit, die
alles, was du schickest, zufrieden über sich nimmt.
Daß ich keine Beleidigung räche, die mir mein Ge-
wissen zu übersehen erlaubt; daß ich die Fehler mei-
nes Nächsten mit Langmuth ertrage, weil du schon so
viele Jahre meine Thorheiten und Uebereilungen un-
geahndet hingehen liessest: daß ich bedenke, wie sehr
ich noch immer der Gefahr zu fehlen unterworfen sey,
auf daß ich mir angewöhne die Irrenden mit Sanft-
muth zu rechte zu weisen; auf daß ich es für größer
halte menschenfreundlich zu vergeben, als hart und
unbarmherzig Vergeltung zu üben. Dein heiliger
Geist setze mein Herz in die stille Verfassung, in wel-
cher es dir wohl gefällt, und dem der gesagt hat:
Lernet von mir, denn ich bin sanftmüthig und von
Herzen demüthig; damit ich Ruhe finde für meine
Seele, damit dein Joch mir sanft und deine Last
mir leicht werde.

Und ja, mein Vater! sie sind nicht schwer, die
Trübsale, die du auf den Rücken deiner Kinder zu
legen pflegest. Sie sind nicht schwer, denn du hilfst

sie
Geduld in Trübſal.

Ich trinke ihn denn, den heilſamen Kelch! Abba!
mein Vater! es geſchehe dein Wille, dieß iſt die
Stimme meines göttlichen Lehrers: da er geduldig
hingieng, als ein Lamm, das zur Schlachtbank
geführet wird; verſpottet, geſchlagen, mit falſchen
Zeugniſſen gekränkt, ungerecht verurtheilt und grau-
ſam getödtet: da er hingieng als ein ſtilles Lamm,
das verſtummet vor ſeinem Scherer. Und ich will
dir folgen, göttlicher Freund, mein Kreuze auf mich
nehmen; mit dir geduldig leiden; mit dir getroſt ſter-
ben. Stärke mich, o mein Gott! dieſen großen
Entſchluß hinaus zu führen. Erfülle mich mit dem
erhabenen Muthe, der alle Widerwärtigkeiten nicht
achtet, und mit der demüthigen Gelaſſenheit, die
alles, was du ſchickeſt, zufrieden über ſich nimmt.
Daß ich keine Beleidigung räche, die mir mein Ge-
wiſſen zu überſehen erlaubt; daß ich die Fehler mei-
nes Nächſten mit Langmuth ertrage, weil du ſchon ſo
viele Jahre meine Thorheiten und Uebereilungen un-
geahndet hingehen lieſſeſt: daß ich bedenke, wie ſehr
ich noch immer der Gefahr zu fehlen unterworfen ſey,
auf daß ich mir angewöhne die Irrenden mit Sanft-
muth zu rechte zu weiſen; auf daß ich es für größer
halte menſchenfreundlich zu vergeben, als hart und
unbarmherzig Vergeltung zu üben. Dein heiliger
Geiſt ſetze mein Herz in die ſtille Verfaſſung, in wel-
cher es dir wohl gefällt, und dem der geſagt hat:
Lernet von mir, denn ich bin ſanftmüthig und von
Herzen demüthig; damit ich Ruhe finde für meine
Seele, damit dein Joch mir ſanft und deine Laſt
mir leicht werde.

Und ja, mein Vater! ſie ſind nicht ſchwer, die
Trübſale, die du auf den Rücken deiner Kinder zu
legen pflegeſt. Sie ſind nicht ſchwer, denn du hilfſt

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[52/0054] Geduld in Trübſal. Ich trinke ihn denn, den heilſamen Kelch! Abba! mein Vater! es geſchehe dein Wille, dieß iſt die Stimme meines göttlichen Lehrers: da er geduldig hingieng, als ein Lamm, das zur Schlachtbank geführet wird; verſpottet, geſchlagen, mit falſchen Zeugniſſen gekränkt, ungerecht verurtheilt und grau- ſam getödtet: da er hingieng als ein ſtilles Lamm, das verſtummet vor ſeinem Scherer. Und ich will dir folgen, göttlicher Freund, mein Kreuze auf mich nehmen; mit dir geduldig leiden; mit dir getroſt ſter- ben. Stärke mich, o mein Gott! dieſen großen Entſchluß hinaus zu führen. Erfülle mich mit dem erhabenen Muthe, der alle Widerwärtigkeiten nicht achtet, und mit der demüthigen Gelaſſenheit, die alles, was du ſchickeſt, zufrieden über ſich nimmt. Daß ich keine Beleidigung räche, die mir mein Ge- wiſſen zu überſehen erlaubt; daß ich die Fehler mei- nes Nächſten mit Langmuth ertrage, weil du ſchon ſo viele Jahre meine Thorheiten und Uebereilungen un- geahndet hingehen lieſſeſt: daß ich bedenke, wie ſehr ich noch immer der Gefahr zu fehlen unterworfen ſey, auf daß ich mir angewöhne die Irrenden mit Sanft- muth zu rechte zu weiſen; auf daß ich es für größer halte menſchenfreundlich zu vergeben, als hart und unbarmherzig Vergeltung zu üben. Dein heiliger Geiſt ſetze mein Herz in die ſtille Verfaſſung, in wel- cher es dir wohl gefällt, und dem der geſagt hat: Lernet von mir, denn ich bin ſanftmüthig und von Herzen demüthig; damit ich Ruhe finde für meine Seele, damit dein Joch mir ſanft und deine Laſt mir leicht werde. Und ja, mein Vater! ſie ſind nicht ſchwer, die Trübſale, die du auf den Rücken deiner Kinder zu legen pflegeſt. Sie ſind nicht ſchwer, denn du hilfſt ſie

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Sammlung einiger Gebete auf die wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens. Leipzig, 1778, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_sammlung_1778/54>, abgerufen am 13.06.2024.