auf die menschliche Bildung. Muttermähler. Mißgeburten.
Aber nicht nur physische, auch moralische Muttermähler sind vielleicht möglich. Man er- zählt mir von einem Arzte, der den Tag über aus allen Zimmern, wo er hinkam, etwas raubte, und es hernach vergaß, und dessen Frau ihm am Abend die Rocktaschen leerte, und Schlüssel, Do- sen, Nadelbüchsen, Scheeren, Fingerhüte, Brillen, Schnallen, Eßlöffel u. s. w. drinn fand, und dem Eigenthümer wieder sandte. Ein ähnliches Beyspiel wird mir von einem Jüngling erzählt, der als zweyjähriges Bettelkind von einer adelichen Familie aufgenommen, und aufs Beste erzogen worden, und wirklich in allen Dingen einen vortrefflichen Charakter zeigte, nur -- das Stehlen schlechterdings nicht lassen konnte. Die Mütter dieser beyden seltsamen Diebe -- hatten während ihrer Schwangerschaften unüberwindliche Diebsgelüste. Es versteht sich doch wohl von selbst, daß, so unleidlich solche Menschen in der menschlichen Gesellschaft sind, man sie eher für unglücklich, als böse halten muß. Jhre Handlungen sind aller Wahrscheinlichkeit nach so unwillkührlich, so mecha- nisch, und vor Gott vielleicht so wenig strafbar, als unsere gewöhnlichen Fingerbewegungen, Zer- reissung kleiner Papierstücke, Wachsknetten, die unser tiefstes Nachdenken begleiten, und deren wir uns durchaus nicht bewußt sind. Nur die Absicht bestimmt den moralischen, so wie nur der Erfolg auf die Gesellschaft den politischen Werth der Handlung. -- So wenig das Pique-Aß, wenn die Geschichte wahr ist, dem Gesichte des Kindes Schaden that -- so wenig vielleicht diese Diebssucht dem Herzen. -- Ein solcher Mann hat gewiß auch kein Diebsgesicht -- keinen hab- süchtigen, bösweiligen, schleichenden, täuschenden Diebsblick, wie der, der es ganz mit Leib und Seele ist. Jch habe noch keine Menschen von diesem seltsamen Charakter gesehen, und kann also nicht aus Erfahrung von ihrer Physiognomie urtheilen. Dafür aber ließe sich wohl zum voraus gut stehen, daß diese sonderbaren Menschen in ihren Gesichtern irgendwo ein Merkmal dieser Son- derbarkeit haben müssen, das sie unterscheidet.
Beylage.
J 2
auf die menſchliche Bildung. Muttermaͤhler. Mißgeburten.
Aber nicht nur phyſiſche, auch moraliſche Muttermaͤhler ſind vielleicht moͤglich. Man er- zaͤhlt mir von einem Arzte, der den Tag uͤber aus allen Zimmern, wo er hinkam, etwas raubte, und es hernach vergaß, und deſſen Frau ihm am Abend die Rocktaſchen leerte, und Schluͤſſel, Do- ſen, Nadelbuͤchſen, Scheeren, Fingerhuͤte, Brillen, Schnallen, Eßloͤffel u. ſ. w. drinn fand, und dem Eigenthuͤmer wieder ſandte. Ein aͤhnliches Beyſpiel wird mir von einem Juͤngling erzaͤhlt, der als zweyjaͤhriges Bettelkind von einer adelichen Familie aufgenommen, und aufs Beſte erzogen worden, und wirklich in allen Dingen einen vortrefflichen Charakter zeigte, nur — das Stehlen ſchlechterdings nicht laſſen konnte. Die Muͤtter dieſer beyden ſeltſamen Diebe — hatten waͤhrend ihrer Schwangerſchaften unuͤberwindliche Diebsgeluͤſte. Es verſteht ſich doch wohl von ſelbſt, daß, ſo unleidlich ſolche Menſchen in der menſchlichen Geſellſchaft ſind, man ſie eher fuͤr ungluͤcklich, als boͤſe halten muß. Jhre Handlungen ſind aller Wahrſcheinlichkeit nach ſo unwillkuͤhrlich, ſo mecha- niſch, und vor Gott vielleicht ſo wenig ſtrafbar, als unſere gewoͤhnlichen Fingerbewegungen, Zer- reiſſung kleiner Papierſtuͤcke, Wachsknetten, die unſer tiefſtes Nachdenken begleiten, und deren wir uns durchaus nicht bewußt ſind. Nur die Abſicht beſtimmt den moraliſchen, ſo wie nur der Erfolg auf die Geſellſchaft den politiſchen Werth der Handlung. — So wenig das Pique-Aß, wenn die Geſchichte wahr iſt, dem Geſichte des Kindes Schaden that — ſo wenig vielleicht dieſe Diebsſucht dem Herzen. — Ein ſolcher Mann hat gewiß auch kein Diebsgeſicht — keinen hab- ſuͤchtigen, boͤsweiligen, ſchleichenden, taͤuſchenden Diebsblick, wie der, der es ganz mit Leib und Seele iſt. Jch habe noch keine Menſchen von dieſem ſeltſamen Charakter geſehen, und kann alſo nicht aus Erfahrung von ihrer Phyſiognomie urtheilen. Dafuͤr aber ließe ſich wohl zum voraus gut ſtehen, daß dieſe ſonderbaren Menſchen in ihren Geſichtern irgendwo ein Merkmal dieſer Son- derbarkeit haben muͤſſen, das ſie unterſcheidet.
Beylage.
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auf die menſchliche Bildung. Muttermaͤhler. Mißgeburten.
Aber nicht nur phyſiſche, auch moraliſche Muttermaͤhler ſind vielleicht moͤglich. Man er-
zaͤhlt mir von einem Arzte, der den Tag uͤber aus allen Zimmern, wo er hinkam, etwas raubte,
und es hernach vergaß, und deſſen Frau ihm am Abend die Rocktaſchen leerte, und Schluͤſſel, Do-
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dem Eigenthuͤmer wieder ſandte. Ein aͤhnliches Beyſpiel wird mir von einem Juͤngling erzaͤhlt, der
als zweyjaͤhriges Bettelkind von einer adelichen Familie aufgenommen, und aufs Beſte erzogen
worden, und wirklich in allen Dingen einen vortrefflichen Charakter zeigte, nur — das Stehlen
ſchlechterdings nicht laſſen konnte. Die Muͤtter dieſer beyden ſeltſamen Diebe — hatten waͤhrend
ihrer Schwangerſchaften unuͤberwindliche Diebsgeluͤſte. Es verſteht ſich doch wohl von ſelbſt, daß,
ſo unleidlich ſolche Menſchen in der menſchlichen Geſellſchaft ſind, man ſie eher fuͤr ungluͤcklich, als
boͤſe halten muß. Jhre Handlungen ſind aller Wahrſcheinlichkeit nach ſo unwillkuͤhrlich, ſo mecha-
niſch, und vor Gott vielleicht ſo wenig ſtrafbar, als unſere gewoͤhnlichen Fingerbewegungen, Zer-
reiſſung kleiner Papierſtuͤcke, Wachsknetten, die unſer tiefſtes Nachdenken begleiten, und deren
wir uns durchaus nicht bewußt ſind. Nur die Abſicht beſtimmt den moraliſchen, ſo wie nur der
Erfolg auf die Geſellſchaft den politiſchen Werth der Handlung. — So wenig das Pique-Aß,
wenn die Geſchichte wahr iſt, dem Geſichte des Kindes Schaden that — ſo wenig vielleicht dieſe
Diebsſucht dem Herzen. — Ein ſolcher Mann hat gewiß auch kein Diebsgeſicht — keinen hab-
ſuͤchtigen, boͤsweiligen, ſchleichenden, taͤuſchenden Diebsblick, wie der, der es ganz mit Leib und
Seele iſt. Jch habe noch keine Menſchen von dieſem ſeltſamen Charakter geſehen, und kann alſo
nicht aus Erfahrung von ihrer Phyſiognomie urtheilen. Dafuͤr aber ließe ſich wohl zum voraus
gut ſtehen, daß dieſe ſonderbaren Menſchen in ihren Geſichtern irgendwo ein Merkmal dieſer Son-
derbarkeit haben muͤſſen, das ſie unterſcheidet.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/93>, abgerufen am 23.11.2024.
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