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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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auf unsre eigne und andere Physiognomien.
ner Gestalten u. d. gl. sondern das Jnteresse, das diese Gestalten für uns in gewissen Momenten
haben. Es ist hier wieder nicht sowohl die Einbildungskraft selbst, die wirkt; sondern der Geist!
Sie ist nur Organ des Geistes. Es gilt auch hier: Der Geist ists, der da lebendig macht.
Das Fleisch, und das Bild vom Fleisch,
bloß als solches betrachtet, ist gar nichts nütze. Ein
Blick der Liebe aus dem Allerheiligsten der Seele heraus -- hat da gewiß mehr bildende Kraft,
als stundenlange überlegte Beschauungen der schönsten Gestalten. Diese bildenden Blicke, wenn
ich so sagen darf, lassen sich gewiß so wenig selbst geben, als sich eine natürlich andere schönere Ge-
stalt durch studierende Beschauungen seiner selbst vor dem Spiegel geben läßt. Alles, was schafft,
und tief in die innerste Menschheit wirkt, quillt von innen heraus und wird von oben herab gegeben.
Es läßt sich, glaube ich, nicht veranstalten, wenigstens nicht mit Vorsatz und Wissen und Klü-
geln
des Subjekts, durch welches solche Wirkungen hervorgebracht werden sollen. Weder
Schöngeburten noch Mißgeburten sind das Werk der Kunst, des Studiums -- sondern des Zu-
falls, der schnell überraschenden Fürsehung -- des vorherbestimmenden Gottes. --

Wirke, wenn je was gehofft werden soll, weniger bloß auf die Sinne; wirke auf die Lie-
be
-- die Liebe, kannst du diese regen? O sie wird dann von selbst suchen und finden, was sich mit
ihr zu neuen Schöpfungen vereiniget. -- Aber selbst diese Liebe muß wieder erst da seyn, ehe sie
geweckt, ehe sie aufgeregt werden kann. -- Doch! vielleicht ... Nicht einmal die Stunde ihrer
Erweckung scheint in unserer Gewalt zu stehen -- und in dieser Absicht möcht' ich auch hier allen,
die so was außerordentliches mit Bedächtlichkeit und methodischem Plan erkünsteln wollten, und,
weiß nicht wie weise, wie psychologisch die Sache anzustellen glaubten, wenn sie erst auf die Liebe
wirkten -- mit dem hohen Liedsänger zurufen: Jch beschwöre euch, o ihr Töchter Jerusalems --
bey den Rehen und Hindinnen des Feldes -- daß ihr die Liebe nicht unruhig machet oder
nicht erwecket, bis sie selbst will -- Siehe da!
der bildende Genius -- Er kömmt daher
über die Berge und springet über die Hügel -- wie ein junger Hirsch.

Unvorgesehene tiefe einschneidende Blitzmomente -- diese sind's, glaube ich, die schön bil-
den und mißbilden. Jede Schöpfung -- von welcher Art sie immer sey, ist momentan. Die
Entwickelung und Nahrung, Veränderung, Verschönerung, Verschlimmerung ist das Werk der
Zeit, der Kunst, des Fleißes, der Erziehung. -- Die Schöpfungskraft läßt sich nicht erstu-
dieren; Creation nicht veranstalten.
-- Larven allenfalls lassen sich machen. Aber lebendige
Kraftwesen -- von innen und außen sich ähnlich -- Ebenbilder Gottes -- werden geschaffen --
geboren
-- und nicht aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes --
sondern aus Gott.

Siebentes
Phys. Fragm. IV Versuch. J

auf unſre eigne und andere Phyſiognomien.
ner Geſtalten u. d. gl. ſondern das Jntereſſe, das dieſe Geſtalten fuͤr uns in gewiſſen Momenten
haben. Es iſt hier wieder nicht ſowohl die Einbildungskraft ſelbſt, die wirkt; ſondern der Geiſt!
Sie iſt nur Organ des Geiſtes. Es gilt auch hier: Der Geiſt iſts, der da lebendig macht.
Das Fleiſch, und das Bild vom Fleiſch,
bloß als ſolches betrachtet, iſt gar nichts nuͤtze. Ein
Blick der Liebe aus dem Allerheiligſten der Seele heraus — hat da gewiß mehr bildende Kraft,
als ſtundenlange uͤberlegte Beſchauungen der ſchoͤnſten Geſtalten. Dieſe bildenden Blicke, wenn
ich ſo ſagen darf, laſſen ſich gewiß ſo wenig ſelbſt geben, als ſich eine natuͤrlich andere ſchoͤnere Ge-
ſtalt durch ſtudierende Beſchauungen ſeiner ſelbſt vor dem Spiegel geben laͤßt. Alles, was ſchafft,
und tief in die innerſte Menſchheit wirkt, quillt von innen heraus und wird von oben herab gegeben.
Es laͤßt ſich, glaube ich, nicht veranſtalten, wenigſtens nicht mit Vorſatz und Wiſſen und Kluͤ-
geln
des Subjekts, durch welches ſolche Wirkungen hervorgebracht werden ſollen. Weder
Schoͤngeburten noch Mißgeburten ſind das Werk der Kunſt, des Studiums — ſondern des Zu-
falls, der ſchnell uͤberraſchenden Fuͤrſehung — des vorherbeſtimmenden Gottes. —

Wirke, wenn je was gehofft werden ſoll, weniger bloß auf die Sinne; wirke auf die Lie-
be
— die Liebe, kannſt du dieſe regen? O ſie wird dann von ſelbſt ſuchen und finden, was ſich mit
ihr zu neuen Schoͤpfungen vereiniget. — Aber ſelbſt dieſe Liebe muß wieder erſt da ſeyn, ehe ſie
geweckt, ehe ſie aufgeregt werden kann. — Doch! vielleicht ... Nicht einmal die Stunde ihrer
Erweckung ſcheint in unſerer Gewalt zu ſtehen — und in dieſer Abſicht moͤcht’ ich auch hier allen,
die ſo was außerordentliches mit Bedaͤchtlichkeit und methodiſchem Plan erkuͤnſteln wollten, und,
weiß nicht wie weiſe, wie pſychologiſch die Sache anzuſtellen glaubten, wenn ſie erſt auf die Liebe
wirkten — mit dem hohen Liedſaͤnger zurufen: Jch beſchwoͤre euch, o ihr Toͤchter Jeruſalems —
bey den Rehen und Hindinnen des Feldes — daß ihr die Liebe nicht unruhig machet oder
nicht erwecket, bis ſie ſelbſt will — Siehe da!
der bildende Genius — Er koͤmmt daher
uͤber die Berge und ſpringet uͤber die Huͤgel — wie ein junger Hirſch.

Unvorgeſehene tiefe einſchneidende Blitzmomente — dieſe ſind’s, glaube ich, die ſchoͤn bil-
den und mißbilden. Jede Schoͤpfung — von welcher Art ſie immer ſey, iſt momentan. Die
Entwickelung und Nahrung, Veraͤnderung, Verſchoͤnerung, Verſchlimmerung iſt das Werk der
Zeit, der Kunſt, des Fleißes, der Erziehung. — Die Schoͤpfungskraft laͤßt ſich nicht erſtu-
dieren; Creation nicht veranſtalten.
— Larven allenfalls laſſen ſich machen. Aber lebendige
Kraftweſen — von innen und außen ſich aͤhnlich — Ebenbilder Gottes — werden geſchaffen —
geboren
— und nicht aus dem Willen des Fleiſches, noch aus dem Willen des Mannes —
ſondern aus Gott.

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[65/0091] auf unſre eigne und andere Phyſiognomien. ner Geſtalten u. d. gl. ſondern das Jntereſſe, das dieſe Geſtalten fuͤr uns in gewiſſen Momenten haben. Es iſt hier wieder nicht ſowohl die Einbildungskraft ſelbſt, die wirkt; ſondern der Geiſt! Sie iſt nur Organ des Geiſtes. Es gilt auch hier: Der Geiſt iſts, der da lebendig macht. Das Fleiſch, und das Bild vom Fleiſch, bloß als ſolches betrachtet, iſt gar nichts nuͤtze. Ein Blick der Liebe aus dem Allerheiligſten der Seele heraus — hat da gewiß mehr bildende Kraft, als ſtundenlange uͤberlegte Beſchauungen der ſchoͤnſten Geſtalten. Dieſe bildenden Blicke, wenn ich ſo ſagen darf, laſſen ſich gewiß ſo wenig ſelbſt geben, als ſich eine natuͤrlich andere ſchoͤnere Ge- ſtalt durch ſtudierende Beſchauungen ſeiner ſelbſt vor dem Spiegel geben laͤßt. Alles, was ſchafft, und tief in die innerſte Menſchheit wirkt, quillt von innen heraus und wird von oben herab gegeben. Es laͤßt ſich, glaube ich, nicht veranſtalten, wenigſtens nicht mit Vorſatz und Wiſſen und Kluͤ- geln des Subjekts, durch welches ſolche Wirkungen hervorgebracht werden ſollen. Weder Schoͤngeburten noch Mißgeburten ſind das Werk der Kunſt, des Studiums — ſondern des Zu- falls, der ſchnell uͤberraſchenden Fuͤrſehung — des vorherbeſtimmenden Gottes. — Wirke, wenn je was gehofft werden ſoll, weniger bloß auf die Sinne; wirke auf die Lie- be — die Liebe, kannſt du dieſe regen? O ſie wird dann von ſelbſt ſuchen und finden, was ſich mit ihr zu neuen Schoͤpfungen vereiniget. — Aber ſelbſt dieſe Liebe muß wieder erſt da ſeyn, ehe ſie geweckt, ehe ſie aufgeregt werden kann. — Doch! vielleicht ... Nicht einmal die Stunde ihrer Erweckung ſcheint in unſerer Gewalt zu ſtehen — und in dieſer Abſicht moͤcht’ ich auch hier allen, die ſo was außerordentliches mit Bedaͤchtlichkeit und methodiſchem Plan erkuͤnſteln wollten, und, weiß nicht wie weiſe, wie pſychologiſch die Sache anzuſtellen glaubten, wenn ſie erſt auf die Liebe wirkten — mit dem hohen Liedſaͤnger zurufen: Jch beſchwoͤre euch, o ihr Toͤchter Jeruſalems — bey den Rehen und Hindinnen des Feldes — daß ihr die Liebe nicht unruhig machet oder nicht erwecket, bis ſie ſelbſt will — Siehe da! der bildende Genius — Er koͤmmt daher uͤber die Berge und ſpringet uͤber die Huͤgel — wie ein junger Hirſch. Unvorgeſehene tiefe einſchneidende Blitzmomente — dieſe ſind’s, glaube ich, die ſchoͤn bil- den und mißbilden. Jede Schoͤpfung — von welcher Art ſie immer ſey, iſt momentan. Die Entwickelung und Nahrung, Veraͤnderung, Verſchoͤnerung, Verſchlimmerung iſt das Werk der Zeit, der Kunſt, des Fleißes, der Erziehung. — Die Schoͤpfungskraft laͤßt ſich nicht erſtu- dieren; Creation nicht veranſtalten. — Larven allenfalls laſſen ſich machen. Aber lebendige Kraftweſen — von innen und außen ſich aͤhnlich — Ebenbilder Gottes — werden geſchaffen — geboren — und nicht aus dem Willen des Fleiſches, noch aus dem Willen des Mannes — ſondern aus Gott. Siebentes Phyſ. Fragm. IV Verſuch. J

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/91>, abgerufen am 23.11.2024.