Fünftes Fragment. Vom Einflusse der Physiognomien auf Physiognomien.
So wie die Gebärden unserer Freunde und Hausgenossen oft in unsere eigne Gebärden über- gehen; so auch die Mienen! Alles, was wir lieben, vereinigen wir gewissermaßen mit uns selbst; und was uns, im Kreise unserer Geliebtheit, nicht in sich verwandelt, das verwandeln wir so viel möglich in uns selbst.
Alles außer uns wirkt auf uns, und wir wirken auf alles. Aber nichts wirkt auf uns, wie das, was wir lieben -- und unter allem Geliebten nichts, wie das Angesicht eines Menschen. Eben das, was es uns liebenswürdig erscheinen läßt, ist seine Convenienz mit dem unsrigen. Wie könnt' es auf uns wirken? wie uns anziehen, ohne Anziehungspunkte, die mit gewissen erkennbaren oder unerkennbaren Formen und Zügen unsers Gesichtes ähnlich, wenigstens gleichartig sind.
Ohne jedoch weiter in das undurchdringliche Geheimniß eindringen -- oder das unerforsch- liche wie bestimmen zu wollen -- das Faktum ist gewiß: Gesichter ziehen Gesichter an; -- so wie Gesichter Gesichter zurückstoßen. Das Faktum ist gewiß -- die Aehnlichkeit der Ge- sichtszüge zweener sich sympathisch liebender Menschen schreitet mit der Entwickelung und wechselsei- tigen Mittheilung ihrer eigensten, individuellesten Empfindungen fort. Auf unserm Angesichte bleibt, wenn ich so sagen darf, der Widerschein von dem holden Angesichte des Geliebten.
Oft beruhet die Aehnlichkeit nur auf Einem Punkte -- im Charakter der Seele und in der Physiognomie.
Aehnlichkeit des Knochenbaues setzt auch Aehnlichkeit der Nerven und Muskeln voraus. --
Ungleiche Erziehung kann auf die letztern so wirken -- daß für unphysiognomische Augen die Anziehungspunkte verloren gehen -- Laßt sie sich nähern diese zwo ähnlichen Grundformen, zu- rückstoßen und anziehen werden sie sich wechselsweise. Bald aber, wenn keine fremde Gegenstände sich zwischen sie drängen, wird die Natur siegen; sie werden einander erkennen und sich freuen des Fleisches von ihrem Fleische, und des Gebeines von ihren Gebeinen -- und mit schnellen Schrit- ten wird ihre Verähnlichung fortschreiten. Aber auch solche Gesichter, deren Grundformen von
einan-
I. Abſchnitt. V. Fragment.
Fuͤnftes Fragment. Vom Einfluſſe der Phyſiognomien auf Phyſiognomien.
So wie die Gebaͤrden unſerer Freunde und Hausgenoſſen oft in unſere eigne Gebaͤrden uͤber- gehen; ſo auch die Mienen! Alles, was wir lieben, vereinigen wir gewiſſermaßen mit uns ſelbſt; und was uns, im Kreiſe unſerer Geliebtheit, nicht in ſich verwandelt, das verwandeln wir ſo viel moͤglich in uns ſelbſt.
Alles außer uns wirkt auf uns, und wir wirken auf alles. Aber nichts wirkt auf uns, wie das, was wir lieben — und unter allem Geliebten nichts, wie das Angeſicht eines Menſchen. Eben das, was es uns liebenswuͤrdig erſcheinen laͤßt, iſt ſeine Convenienz mit dem unſrigen. Wie koͤnnt’ es auf uns wirken? wie uns anziehen, ohne Anziehungspunkte, die mit gewiſſen erkennbaren oder unerkennbaren Formen und Zuͤgen unſers Geſichtes aͤhnlich, wenigſtens gleichartig ſind.
Ohne jedoch weiter in das undurchdringliche Geheimniß eindringen — oder das unerforſch- liche wie beſtimmen zu wollen — das Faktum iſt gewiß: Geſichter ziehen Geſichter an; — ſo wie Geſichter Geſichter zuruͤckſtoßen. Das Faktum iſt gewiß — die Aehnlichkeit der Ge- ſichtszuͤge zweener ſich ſympathiſch liebender Menſchen ſchreitet mit der Entwickelung und wechſelſei- tigen Mittheilung ihrer eigenſten, individuelleſten Empfindungen fort. Auf unſerm Angeſichte bleibt, wenn ich ſo ſagen darf, der Widerſchein von dem holden Angeſichte des Geliebten.
Oft beruhet die Aehnlichkeit nur auf Einem Punkte — im Charakter der Seele und in der Phyſiognomie.
Aehnlichkeit des Knochenbaues ſetzt auch Aehnlichkeit der Nerven und Muskeln voraus. —
Ungleiche Erziehung kann auf die letztern ſo wirken — daß fuͤr unphyſiognomiſche Augen die Anziehungspunkte verloren gehen — Laßt ſie ſich naͤhern dieſe zwo aͤhnlichen Grundformen, zu- ruͤckſtoßen und anziehen werden ſie ſich wechſelsweiſe. Bald aber, wenn keine fremde Gegenſtaͤnde ſich zwiſchen ſie draͤngen, wird die Natur ſiegen; ſie werden einander erkennen und ſich freuen des Fleiſches von ihrem Fleiſche, und des Gebeines von ihren Gebeinen — und mit ſchnellen Schrit- ten wird ihre Veraͤhnlichung fortſchreiten. Aber auch ſolche Geſichter, deren Grundformen von
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I. Abſchnitt. V. Fragment.
Fuͤnftes Fragment.
Vom Einfluſſe der Phyſiognomien auf Phyſiognomien.
So wie die Gebaͤrden unſerer Freunde und Hausgenoſſen oft in unſere eigne Gebaͤrden uͤber-
gehen; ſo auch die Mienen! Alles, was wir lieben, vereinigen wir gewiſſermaßen mit uns ſelbſt;
und was uns, im Kreiſe unſerer Geliebtheit, nicht in ſich verwandelt, das verwandeln wir ſo viel
moͤglich in uns ſelbſt.
Alles außer uns wirkt auf uns, und wir wirken auf alles. Aber nichts wirkt auf uns,
wie das, was wir lieben — und unter allem Geliebten nichts, wie das Angeſicht eines Menſchen.
Eben das, was es uns liebenswuͤrdig erſcheinen laͤßt, iſt ſeine Convenienz mit dem unſrigen. Wie
koͤnnt’ es auf uns wirken? wie uns anziehen, ohne Anziehungspunkte, die mit gewiſſen erkennbaren
oder unerkennbaren Formen und Zuͤgen unſers Geſichtes aͤhnlich, wenigſtens gleichartig ſind.
Ohne jedoch weiter in das undurchdringliche Geheimniß eindringen — oder das unerforſch-
liche wie beſtimmen zu wollen — das Faktum iſt gewiß: Geſichter ziehen Geſichter an; —
ſo wie Geſichter Geſichter zuruͤckſtoßen. Das Faktum iſt gewiß — die Aehnlichkeit der Ge-
ſichtszuͤge zweener ſich ſympathiſch liebender Menſchen ſchreitet mit der Entwickelung und wechſelſei-
tigen Mittheilung ihrer eigenſten, individuelleſten Empfindungen fort. Auf unſerm Angeſichte
bleibt, wenn ich ſo ſagen darf, der Widerſchein von dem holden Angeſichte des Geliebten.
Oft beruhet die Aehnlichkeit nur auf Einem Punkte — im Charakter der Seele und in der
Phyſiognomie.
Aehnlichkeit des Knochenbaues ſetzt auch Aehnlichkeit der Nerven und Muskeln voraus. —
Ungleiche Erziehung kann auf die letztern ſo wirken — daß fuͤr unphyſiognomiſche Augen
die Anziehungspunkte verloren gehen — Laßt ſie ſich naͤhern dieſe zwo aͤhnlichen Grundformen, zu-
ruͤckſtoßen und anziehen werden ſie ſich wechſelsweiſe. Bald aber, wenn keine fremde Gegenſtaͤnde
ſich zwiſchen ſie draͤngen, wird die Natur ſiegen; ſie werden einander erkennen und ſich freuen des
Fleiſches von ihrem Fleiſche, und des Gebeines von ihren Gebeinen — und mit ſchnellen Schrit-
ten wird ihre Veraͤhnlichung fortſchreiten. Aber auch ſolche Geſichter, deren Grundformen von
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/86>, abgerufen am 22.11.2024.
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