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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Allerley.
3.

Näher kann uns in der sichtbaren Welt und dem, was wir Natur heißen, die Gottheit nicht kommen,
als in dem Angesicht eines großen und edlen Menschen. Ein Christ kann nicht ohne Wahrheit sagen: Wer
mich sieht, der sieht den Vater.
Durch nichts kann Gott natürlicher Weise dem Menschen gewisser werden,
als durch die Gegenwart eines guten Menschen -- So wie durch eine Silhouette das Daseyn eines Menschen
mir gewisser und gegenwärtiger wird, als ohne dieselbe!

4.

Ein großes Gesicht erweckt große Gesichter; erweckt alles erweckbare große in jedem Menschen um sich
her. *) Es hat das Creditif eines höhern Ursprungs in sich selbst. Nähere dich mit stiller Ehrfurcht und Ein-
falt jedem großen Gesichte. Es wird eine Kraft von ihm ausgehn, die dich tragen und erheben wird. Ein gros-
ses Gesicht in Ruhe wirkt mehr als ein gemeines durch die lebendigste Leidenschaft. Seine Wirkung ist, obgleich
ungleich, dennoch allgemein. Auch da sie ihn nicht kannten, jene zween Glücklichen, brannte dennoch ihr
Herz, als er auf der Straße mit ihnen redete, und ihnen die Schriften eröffnete.
-- Auch wagte es
vorher keiner der Käufer und Verkäufer -- die er vertrieb, sich ihm zu widersetzen.

Hieraus läßt sich auch begreifen, warum gewisse Personen bloß durch ihre Gegenwart eine unruhige
Menge auf einmal zur Pflicht und Unterthänigkeit gebracht haben, wenn gleich diese die höhere Macht in ihren
Händen hatte. Uebergewalt, natürliche, unentlehnte, innwohnende -- mithin aller willkührlichen Macht
superiöre Uebergewalt -- das ist eine Sprache für alle Augen, wie der Donner Gottes für alle Ohren.

5.

Die größte Weisheit ist's, nicht nur überhaupt den Charakter eines Gesichtes zu erkennen, und über-
haupt von der Physiognomie desselben stark affizirt zu werden, nicht nur diesen und jenen besondern Charakter an
demselben zu entdecken, sondern den eigenthümlichen individuellen Charakter einer jeden Gemüthsart und Gei-
stesfähigkeit zu erkennen, und den ihm angewiesenen unüberschreitbaren Spielraum bestimmen zu können; be-
stimmen zu können: was sich von dem Menschen, den wir vor uns haben, für Empfindungen, für Handlun-
gen, für Urtheile erwarten und nicht erwarten lassen; daß wir keine Kräfte an ihm verschwenden, und gerade
die Kräfte gegen ihn in Bewegung setzen, welche auf ihn wirken müssen. Fehlte ein Mensch durch Eilfertig-
keit und Eturderie in diesem Stücke, so fehlte ich. Vier oder fünf Jahre physiognomischer Uebungen kostete es,
mich von solchen Uebereilungen und Verschwendungen zu heilen. Güte des Herzens heißt geben, trauen, sich
mittheilen. Physiognomischer Blick lehrt wann geben? wie geben? wem geben? lehrt also wahre Güte;

lehrt
*) "Sind einmal die Spensers, Shakespears, Miltons einer Nation da, für die Steele, Pope und
"Addison sind wir sicher." -- Herder.
Allerley.
3.

Naͤher kann uns in der ſichtbaren Welt und dem, was wir Natur heißen, die Gottheit nicht kommen,
als in dem Angeſicht eines großen und edlen Menſchen. Ein Chriſt kann nicht ohne Wahrheit ſagen: Wer
mich ſieht, der ſieht den Vater.
Durch nichts kann Gott natuͤrlicher Weiſe dem Menſchen gewiſſer werden,
als durch die Gegenwart eines guten Menſchen — So wie durch eine Silhouette das Daſeyn eines Menſchen
mir gewiſſer und gegenwaͤrtiger wird, als ohne dieſelbe!

4.

Ein großes Geſicht erweckt große Geſichter; erweckt alles erweckbare große in jedem Menſchen um ſich
her. *) Es hat das Creditif eines hoͤhern Urſprungs in ſich ſelbſt. Naͤhere dich mit ſtiller Ehrfurcht und Ein-
falt jedem großen Geſichte. Es wird eine Kraft von ihm ausgehn, die dich tragen und erheben wird. Ein groſ-
ſes Geſicht in Ruhe wirkt mehr als ein gemeines durch die lebendigſte Leidenſchaft. Seine Wirkung iſt, obgleich
ungleich, dennoch allgemein. Auch da ſie ihn nicht kannten, jene zween Gluͤcklichen, brannte dennoch ihr
Herz, als er auf der Straße mit ihnen redete, und ihnen die Schriften eroͤffnete.
— Auch wagte es
vorher keiner der Kaͤufer und Verkaͤufer — die er vertrieb, ſich ihm zu widerſetzen.

Hieraus laͤßt ſich auch begreifen, warum gewiſſe Perſonen bloß durch ihre Gegenwart eine unruhige
Menge auf einmal zur Pflicht und Unterthaͤnigkeit gebracht haben, wenn gleich dieſe die hoͤhere Macht in ihren
Haͤnden hatte. Uebergewalt, natuͤrliche, unentlehnte, innwohnende — mithin aller willkuͤhrlichen Macht
ſuperioͤre Uebergewalt — das iſt eine Sprache fuͤr alle Augen, wie der Donner Gottes fuͤr alle Ohren.

5.

Die groͤßte Weisheit iſt’s, nicht nur uͤberhaupt den Charakter eines Geſichtes zu erkennen, und uͤber-
haupt von der Phyſiognomie deſſelben ſtark affizirt zu werden, nicht nur dieſen und jenen beſondern Charakter an
demſelben zu entdecken, ſondern den eigenthuͤmlichen individuellen Charakter einer jeden Gemuͤthsart und Gei-
ſtesfaͤhigkeit zu erkennen, und den ihm angewieſenen unuͤberſchreitbaren Spielraum beſtimmen zu koͤnnen; be-
ſtimmen zu koͤnnen: was ſich von dem Menſchen, den wir vor uns haben, fuͤr Empfindungen, fuͤr Handlun-
gen, fuͤr Urtheile erwarten und nicht erwarten laſſen; daß wir keine Kraͤfte an ihm verſchwenden, und gerade
die Kraͤfte gegen ihn in Bewegung ſetzen, welche auf ihn wirken muͤſſen. Fehlte ein Menſch durch Eilfertig-
keit und Eturderie in dieſem Stuͤcke, ſo fehlte ich. Vier oder fuͤnf Jahre phyſiognomiſcher Uebungen koſtete es,
mich von ſolchen Uebereilungen und Verſchwendungen zu heilen. Guͤte des Herzens heißt geben, trauen, ſich
mittheilen. Phyſiognomiſcher Blick lehrt wann geben? wie geben? wem geben? lehrt alſo wahre Guͤte;

lehrt
*) „Sind einmal die Spenſers, Shakeſpears, Miltons einer Nation da, fuͤr die Steele, Pope und
Addiſon ſind wir ſicher.“ — Herder.
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[479/0623] Allerley. 3. Naͤher kann uns in der ſichtbaren Welt und dem, was wir Natur heißen, die Gottheit nicht kommen, als in dem Angeſicht eines großen und edlen Menſchen. Ein Chriſt kann nicht ohne Wahrheit ſagen: Wer mich ſieht, der ſieht den Vater. Durch nichts kann Gott natuͤrlicher Weiſe dem Menſchen gewiſſer werden, als durch die Gegenwart eines guten Menſchen — So wie durch eine Silhouette das Daſeyn eines Menſchen mir gewiſſer und gegenwaͤrtiger wird, als ohne dieſelbe! 4. Ein großes Geſicht erweckt große Geſichter; erweckt alles erweckbare große in jedem Menſchen um ſich her. *) Es hat das Creditif eines hoͤhern Urſprungs in ſich ſelbſt. Naͤhere dich mit ſtiller Ehrfurcht und Ein- falt jedem großen Geſichte. Es wird eine Kraft von ihm ausgehn, die dich tragen und erheben wird. Ein groſ- ſes Geſicht in Ruhe wirkt mehr als ein gemeines durch die lebendigſte Leidenſchaft. Seine Wirkung iſt, obgleich ungleich, dennoch allgemein. Auch da ſie ihn nicht kannten, jene zween Gluͤcklichen, brannte dennoch ihr Herz, als er auf der Straße mit ihnen redete, und ihnen die Schriften eroͤffnete. — Auch wagte es vorher keiner der Kaͤufer und Verkaͤufer — die er vertrieb, ſich ihm zu widerſetzen. Hieraus laͤßt ſich auch begreifen, warum gewiſſe Perſonen bloß durch ihre Gegenwart eine unruhige Menge auf einmal zur Pflicht und Unterthaͤnigkeit gebracht haben, wenn gleich dieſe die hoͤhere Macht in ihren Haͤnden hatte. Uebergewalt, natuͤrliche, unentlehnte, innwohnende — mithin aller willkuͤhrlichen Macht ſuperioͤre Uebergewalt — das iſt eine Sprache fuͤr alle Augen, wie der Donner Gottes fuͤr alle Ohren. 5. Die groͤßte Weisheit iſt’s, nicht nur uͤberhaupt den Charakter eines Geſichtes zu erkennen, und uͤber- haupt von der Phyſiognomie deſſelben ſtark affizirt zu werden, nicht nur dieſen und jenen beſondern Charakter an demſelben zu entdecken, ſondern den eigenthuͤmlichen individuellen Charakter einer jeden Gemuͤthsart und Gei- ſtesfaͤhigkeit zu erkennen, und den ihm angewieſenen unuͤberſchreitbaren Spielraum beſtimmen zu koͤnnen; be- ſtimmen zu koͤnnen: was ſich von dem Menſchen, den wir vor uns haben, fuͤr Empfindungen, fuͤr Handlun- gen, fuͤr Urtheile erwarten und nicht erwarten laſſen; daß wir keine Kraͤfte an ihm verſchwenden, und gerade die Kraͤfte gegen ihn in Bewegung ſetzen, welche auf ihn wirken muͤſſen. Fehlte ein Menſch durch Eilfertig- keit und Eturderie in dieſem Stuͤcke, ſo fehlte ich. Vier oder fuͤnf Jahre phyſiognomiſcher Uebungen koſtete es, mich von ſolchen Uebereilungen und Verſchwendungen zu heilen. Guͤte des Herzens heißt geben, trauen, ſich mittheilen. Phyſiognomiſcher Blick lehrt wann geben? wie geben? wem geben? lehrt alſo wahre Guͤte; lehrt *) „Sind einmal die Spenſers, Shakeſpears, Miltons einer Nation da, fuͤr die Steele, Pope und „Addiſon ſind wir ſicher.“ — Herder.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/623>, abgerufen am 24.11.2024.