Daß man hier in einer Gesellschaft großer Männer ist, fühlt man, denke ich, beym ersten Anblicke dieser Gestalten und Mienen.
Nicht ein einziges gemeines Gesicht unter allen. Doch an Würde, Ruhe, Proportion, innerer Sanftheit und Festigkeit übertrifft der Herr alle. Das Große in seinem Gesichte liegt in der länglicht gevierten Form; in der Proportion der Haupttheile des Gesichts; in dem horizon- talen Parallelismus der Augenbraunen, Augen, Nase, des Mundes; in der senkrechten La- ge der breitrückigen Nase. Die Miene sagt viel weniger, als das Gesicht. Auch die Stellung ist für den großen stillruhigen Meister die würdigste, und macht mit allen übrigen Personen einen sehr bedeutenden Kontrast.
Jn keinem der übrigen Gesichter ist so ganz reine Proportion. Jn vielen scheint die Nase sich zu nahe gegen das Auge hinaufzuziehen, oder gegen die Stirne nicht das gehörige Verhältniß zu haben; dieß ist besonders in 1, 2, 11, 12. auffallend. Jch suchte unter diesen Gesichtern lange das des Verräthers, und fand, vermuthlich durch die Schuld des Copisten, mehrere, die es allen- falls seyn könnten, aber keines, das es wirklich, das es ganz ist. 1. 3. 11. 12. haben bey aller Größe etwas kleines und schiefes.
Die
IX. Abſchnitt. III. Fragment.
O. Umriß eines Abendmahls nach Raphael.
[Abbildung]
Daß man hier in einer Geſellſchaft großer Maͤnner iſt, fuͤhlt man, denke ich, beym erſten Anblicke dieſer Geſtalten und Mienen.
Nicht ein einziges gemeines Geſicht unter allen. Doch an Wuͤrde, Ruhe, Proportion, innerer Sanftheit und Feſtigkeit uͤbertrifft der Herr alle. Das Große in ſeinem Geſichte liegt in der laͤnglicht gevierten Form; in der Proportion der Haupttheile des Geſichts; in dem horizon- talen Parallelismus der Augenbraunen, Augen, Naſe, des Mundes; in der ſenkrechten La- ge der breitruͤckigen Naſe. Die Miene ſagt viel weniger, als das Geſicht. Auch die Stellung iſt fuͤr den großen ſtillruhigen Meiſter die wuͤrdigſte, und macht mit allen uͤbrigen Perſonen einen ſehr bedeutenden Kontraſt.
Jn keinem der uͤbrigen Geſichter iſt ſo ganz reine Proportion. Jn vielen ſcheint die Naſe ſich zu nahe gegen das Auge hinaufzuziehen, oder gegen die Stirne nicht das gehoͤrige Verhaͤltniß zu haben; dieß iſt beſonders in 1, 2, 11, 12. auffallend. Jch ſuchte unter dieſen Geſichtern lange das des Verraͤthers, und fand, vermuthlich durch die Schuld des Copiſten, mehrere, die es allen- falls ſeyn koͤnnten, aber keines, das es wirklich, das es ganz iſt. 1. 3. 11. 12. haben bey aller Groͤße etwas kleines und ſchiefes.
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IX. Abſchnitt. III. Fragment.
O. Umriß eines Abendmahls nach Raphael.
[Abbildung]
Daß man hier in einer Geſellſchaft großer Maͤnner iſt, fuͤhlt man, denke ich, beym erſten Anblicke
dieſer Geſtalten und Mienen.
Nicht ein einziges gemeines Geſicht unter allen. Doch an Wuͤrde, Ruhe, Proportion,
innerer Sanftheit und Feſtigkeit uͤbertrifft der Herr alle. Das Große in ſeinem Geſichte liegt in
der laͤnglicht gevierten Form; in der Proportion der Haupttheile des Geſichts; in dem horizon-
talen Parallelismus der Augenbraunen, Augen, Naſe, des Mundes; in der ſenkrechten La-
ge der breitruͤckigen Naſe. Die Miene ſagt viel weniger, als das Geſicht. Auch die Stellung iſt
fuͤr den großen ſtillruhigen Meiſter die wuͤrdigſte, und macht mit allen uͤbrigen Perſonen einen ſehr
bedeutenden Kontraſt.
Jn keinem der uͤbrigen Geſichter iſt ſo ganz reine Proportion. Jn vielen ſcheint die Naſe
ſich zu nahe gegen das Auge hinaufzuziehen, oder gegen die Stirne nicht das gehoͤrige Verhaͤltniß
zu haben; dieß iſt beſonders in 1, 2, 11, 12. auffallend. Jch ſuchte unter dieſen Geſichtern lange
das des Verraͤthers, und fand, vermuthlich durch die Schuld des Copiſten, mehrere, die es allen-
falls ſeyn koͤnnten, aber keines, das es wirklich, das es ganz iſt. 1. 3. 11. 12. haben bey aller Groͤße
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/598>, abgerufen am 22.11.2024.
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