Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite
Christusbilder.

Die Hände sind von großer Wahrheit, Bedeutung und Harmonie mit dem Ganzen; nicht
nur an sich vortrefflich gezeichnet, sondern eines edeln, gütigen, einfaltvollen Charakters. Am vör-
dersten Gelenke des Zeigefingers ist in der Copie etwas verfehlt. Und das Kind?*) Form, Umriß,
Gebärdung, Blick, Lage, alles spricht, alles blickt, alles athmet Einfalt und Kindlichkeit. Die frey
kindliche unakademische Lage allein schon zeigt uns den großen Sinn, der den Mahler beseelte. Und
was mir sehr gefällt, das Kind ist nichts weniger als Jdeal. Es giebt schönere Kinder, die aber
dann nicht diesen Charakter der reinen Einfalt haben. Mir scheint's Bild des Mahlers selbst in sei-
ner jugendlichen Unschuld zu seyn. Stirn und Nase wenigstens haben den Charakter der seinigen.
Die Oberlippe hätte ich etwas mehr gezeichnet, etwas vorstehender und von der Nase entfernter ge-
wünscht.

M. Ein
*) [Spaltenumbruch] Das Kind im Originalgemählde ist so unnach-
ahmlich sanft und rein colorirt, daß es scheint, der
Mahler habe seinen Pinsel in Morgenröthen der Unschuld
getaucht.
Beylage.
Aus einem Briefe des Verfassers an Herrn West,
der ihm das große kostbare Gemählde, wovon dieß die
Copie ist, zum Geschenke sendete.
"Mein vortrefflicher Freund! -- so muß ich Sie
"nennen; Jhre Güte giebt mir das Recht dazu. Nicht
"durch leere Worte, durch ein Geschenk von Jhrer theu-
"ren Hand, das mir auch noch Geschenk wäre, wenn
"Sie Bezahlung forderten -- Mein vortrefflicher
"Freund, wie soll ich das erstemal an Sie schreiben, da
"ich als doppelter Schuldner vor Jhnen erscheine --
"was kann ich sagen? Ach! wie nichts ist, wenn ich sa-
"ge: Auf den äußersten Zehen steht und horcht meine
"Dankempfindung etwas auszuhorchen, das Jhnen so
"viel Vergnügen machte, als mir Jhr Christus mit der
"kindlichen Unschuld macht. Lieber West, lassen Sie
"mich Jhnen unterdessen im Geiste die Hand küssen --
"und Jhnen einen Theil meiner Empfindungen bey Jh-
"rem Gemählde mittheilen; einen Theil, denn je mehr
"ichs besehe, desto mehr empfindet mein Herz dabey;
"desto mehr Weisheit, Ueberlegung, edle Einfalt finde
"ich drinn; desto mehr Adel und Harmonie im Gan-
"zen so still in Eins zusammenschmelzenden! Das Gan-
"ze hat so ganz das Gepräge, den Ton des Einzelnen;
[Spaltenumbruch] "das Einzelne des Ganzen. Alles ist Eins -- jeder
"Zug, jeder Farbenstrich -- geht aus Kindereinfalt in
"Kindereinfalt. Das Kind, wie ist's so ganz Kind! so
"ganz in Figur, Lage, Gebärdung, Blick, Colorit, Run-
"dung -- Der Mann Christus -- wie ist er Kind! Sein
"Gesicht sagt dem Auge, was sein offner Mund dem
"Ohre sagen würde, wenn er lebte! Welche Einfalt im
"Auge! welche Kindheit und Leidenschaftlosigkeit in der
"Nase .. und in der Stirne! die kleine (in der Copie
"weggelassene) Schattirung ausgenommen, deren Sinn
"ich noch nicht erreicht habe! das lichtbräunliche Haar,
"wie harmonisch! wie wahr! wie meisterhaft der helle
"Grund ums Haupt! die Hände, wie herrlich gezeich-
"net! wie edel! wie physiognomisch! -- Recht ganz
"scheinen Sie, mein Freund, das Physiognomische in
"den Händen, das von so wenig Mahlern und Phy-
"siognomisten gefühlt wird, zu fühlen. Wenn nur, mein
"Theurer! das Gemählde glücklich ins Kleine gebracht
"wird! Aber wie viel wird's verlieren, bis es vom Ku-
"pfer abgedruckt werden kann! Doch was möglich ist,
"soll geschehen! -- Jch kann und will nichts mehr sa-
"gen, als: Wenn ich diesen Kindersinn habe, den Sie
"so trefflich aus ihrer eignen Seele heraus gemahlt zu
"haben scheinen -- so wird es mir oft ein süßer Ge-
"danke seyn, wenn ich Sie in diesem Leben niemals se-
"hen soll -- daß ich Sie dort an der Hand dessen fin-
"den werde, den kein Engelspinsel nachzuzeichnen, kei-
"ne Zunge zu nennen würdig ist. Jch umarme Sie
"herzlich." Zürich, den 19. Sept. 1777.
L l l 2
Chriſtusbilder.

Die Haͤnde ſind von großer Wahrheit, Bedeutung und Harmonie mit dem Ganzen; nicht
nur an ſich vortrefflich gezeichnet, ſondern eines edeln, guͤtigen, einfaltvollen Charakters. Am voͤr-
derſten Gelenke des Zeigefingers iſt in der Copie etwas verfehlt. Und das Kind?*) Form, Umriß,
Gebaͤrdung, Blick, Lage, alles ſpricht, alles blickt, alles athmet Einfalt und Kindlichkeit. Die frey
kindliche unakademiſche Lage allein ſchon zeigt uns den großen Sinn, der den Mahler beſeelte. Und
was mir ſehr gefaͤllt, das Kind iſt nichts weniger als Jdeal. Es giebt ſchoͤnere Kinder, die aber
dann nicht dieſen Charakter der reinen Einfalt haben. Mir ſcheint’s Bild des Mahlers ſelbſt in ſei-
ner jugendlichen Unſchuld zu ſeyn. Stirn und Naſe wenigſtens haben den Charakter der ſeinigen.
Die Oberlippe haͤtte ich etwas mehr gezeichnet, etwas vorſtehender und von der Naſe entfernter ge-
wuͤnſcht.

M. Ein
*) [Spaltenumbruch] Das Kind im Originalgemaͤhlde iſt ſo unnach-
ahmlich ſanft und rein colorirt, daß es ſcheint, der
Mahler habe ſeinen Pinſel in Morgenroͤthen der Unſchuld
getaucht.
Beylage.
Aus einem Briefe des Verfaſſers an Herrn Weſt,
der ihm das große koſtbare Gemaͤhlde, wovon dieß die
Copie iſt, zum Geſchenke ſendete.
„Mein vortrefflicher Freund! — ſo muß ich Sie
„nennen; Jhre Guͤte giebt mir das Recht dazu. Nicht
„durch leere Worte, durch ein Geſchenk von Jhrer theu-
„ren Hand, das mir auch noch Geſchenk waͤre, wenn
„Sie Bezahlung forderten — Mein vortrefflicher
„Freund, wie ſoll ich das erſtemal an Sie ſchreiben, da
„ich als doppelter Schuldner vor Jhnen erſcheine —
„was kann ich ſagen? Ach! wie nichts iſt, wenn ich ſa-
„ge: Auf den aͤußerſten Zehen ſteht und horcht meine
„Dankempfindung etwas auszuhorchen, das Jhnen ſo
„viel Vergnuͤgen machte, als mir Jhr Chriſtus mit der
„kindlichen Unſchuld macht. Lieber Weſt, laſſen Sie
„mich Jhnen unterdeſſen im Geiſte die Hand kuͤſſen —
„und Jhnen einen Theil meiner Empfindungen bey Jh-
„rem Gemaͤhlde mittheilen; einen Theil, denn je mehr
„ichs beſehe, deſto mehr empfindet mein Herz dabey;
„deſto mehr Weisheit, Ueberlegung, edle Einfalt finde
„ich drinn; deſto mehr Adel und Harmonie im Gan-
„zen ſo ſtill in Eins zuſammenſchmelzenden! Das Gan-
„ze hat ſo ganz das Gepraͤge, den Ton des Einzelnen;
[Spaltenumbruch] „das Einzelne des Ganzen. Alles iſt Eins — jeder
„Zug, jeder Farbenſtrich — geht aus Kindereinfalt in
„Kindereinfalt. Das Kind, wie iſt’s ſo ganz Kind! ſo
„ganz in Figur, Lage, Gebaͤrdung, Blick, Colorit, Run-
„dung — Der Mann Chriſtus — wie iſt er Kind! Sein
„Geſicht ſagt dem Auge, was ſein offner Mund dem
„Ohre ſagen wuͤrde, wenn er lebte! Welche Einfalt im
„Auge! welche Kindheit und Leidenſchaftloſigkeit in der
„Naſe .. und in der Stirne! die kleine (in der Copie
„weggelaſſene) Schattirung ausgenommen, deren Sinn
„ich noch nicht erreicht habe! das lichtbraͤunliche Haar,
„wie harmoniſch! wie wahr! wie meiſterhaft der helle
„Grund ums Haupt! die Haͤnde, wie herrlich gezeich-
„net! wie edel! wie phyſiognomiſch! — Recht ganz
„ſcheinen Sie, mein Freund, das Phyſiognomiſche in
„den Haͤnden, das von ſo wenig Mahlern und Phy-
„ſiognomiſten gefuͤhlt wird, zu fuͤhlen. Wenn nur, mein
„Theurer! das Gemaͤhlde gluͤcklich ins Kleine gebracht
„wird! Aber wie viel wird’s verlieren, bis es vom Ku-
„pfer abgedruckt werden kann! Doch was moͤglich iſt,
„ſoll geſchehen! — Jch kann und will nichts mehr ſa-
„gen, als: Wenn ich dieſen Kinderſinn habe, den Sie
„ſo trefflich aus ihrer eignen Seele heraus gemahlt zu
„haben ſcheinen — ſo wird es mir oft ein ſuͤßer Ge-
„danke ſeyn, wenn ich Sie in dieſem Leben niemals ſe-
„hen ſoll — daß ich Sie dort an der Hand deſſen fin-
„den werde, den kein Engelspinſel nachzuzeichnen, kei-
„ne Zunge zu nennen wuͤrdig iſt. Jch umarme Sie
„herzlich.“ Zuͤrich, den 19. Sept. 1777.
L l l 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0591" n="451"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tusbilder.</hi> </hi> </fw><lb/>
              <p>Die Ha&#x0364;nde &#x017F;ind von großer Wahrheit, Bedeutung und Harmonie mit dem Ganzen; nicht<lb/>
nur an &#x017F;ich vortrefflich gezeichnet, &#x017F;ondern eines edeln, gu&#x0364;tigen, einfaltvollen Charakters. Am vo&#x0364;r-<lb/>
der&#x017F;ten Gelenke des Zeigefingers i&#x017F;t in der Copie etwas verfehlt. Und das Kind?<note place="foot" n="*)"><cb/>
Das Kind im Originalgema&#x0364;hlde i&#x017F;t &#x017F;o unnach-<lb/>
ahmlich &#x017F;anft und rein colorirt, daß es &#x017F;cheint, der<lb/>
Mahler habe &#x017F;einen Pin&#x017F;el in Morgenro&#x0364;then der Un&#x017F;chuld<lb/>
getaucht.<lb/><hi rendition="#c"><hi rendition="#fr"><hi rendition="#g">Beylage.</hi></hi></hi><lb/>
Aus einem Briefe des Verfa&#x017F;&#x017F;ers an Herrn <hi rendition="#fr">We&#x017F;t,</hi><lb/>
der ihm das große ko&#x017F;tbare Gema&#x0364;hlde, wovon dieß die<lb/>
Copie i&#x017F;t, zum Ge&#x017F;chenke &#x017F;endete.<lb/>
&#x201E;Mein vortrefflicher Freund! &#x2014; &#x017F;o muß ich Sie<lb/>
&#x201E;nennen; Jhre Gu&#x0364;te giebt mir das Recht dazu. Nicht<lb/>
&#x201E;durch leere Worte, durch ein Ge&#x017F;chenk von Jhrer theu-<lb/>
&#x201E;ren Hand, das mir auch noch Ge&#x017F;chenk wa&#x0364;re, wenn<lb/>
&#x201E;Sie Bezahlung forderten &#x2014; Mein vortrefflicher<lb/>
&#x201E;Freund, wie &#x017F;oll ich das er&#x017F;temal an Sie &#x017F;chreiben, da<lb/>
&#x201E;ich als doppelter Schuldner vor Jhnen er&#x017F;cheine &#x2014;<lb/>
&#x201E;was kann ich &#x017F;agen? Ach! wie nichts i&#x017F;t, wenn ich &#x017F;a-<lb/>
&#x201E;ge: Auf den a&#x0364;ußer&#x017F;ten Zehen &#x017F;teht und horcht meine<lb/>
&#x201E;Dankempfindung etwas auszuhorchen, das Jhnen &#x017F;o<lb/>
&#x201E;viel Vergnu&#x0364;gen machte, als mir Jhr Chri&#x017F;tus mit der<lb/>
&#x201E;kindlichen Un&#x017F;chuld macht. Lieber <hi rendition="#fr">We&#x017F;t,</hi> la&#x017F;&#x017F;en Sie<lb/>
&#x201E;mich Jhnen unterde&#x017F;&#x017F;en im Gei&#x017F;te die Hand ku&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x2014;<lb/>
&#x201E;und Jhnen einen Theil meiner Empfindungen bey Jh-<lb/>
&#x201E;rem Gema&#x0364;hlde mittheilen; einen Theil, denn je mehr<lb/>
&#x201E;ichs be&#x017F;ehe, de&#x017F;to mehr empfindet mein Herz dabey;<lb/>
&#x201E;de&#x017F;to mehr Weisheit, Ueberlegung, edle Einfalt finde<lb/>
&#x201E;ich drinn; de&#x017F;to mehr Adel und Harmonie im Gan-<lb/>
&#x201E;zen &#x017F;o &#x017F;till in Eins zu&#x017F;ammen&#x017F;chmelzenden! Das Gan-<lb/>
&#x201E;ze hat &#x017F;o ganz das Gepra&#x0364;ge, den Ton des Einzelnen;<lb/><cb/>
&#x201E;das Einzelne des Ganzen. Alles i&#x017F;t Eins &#x2014; jeder<lb/>
&#x201E;Zug, jeder Farben&#x017F;trich &#x2014; geht aus Kindereinfalt in<lb/>
&#x201E;Kindereinfalt. Das Kind, wie i&#x017F;t&#x2019;s &#x017F;o ganz Kind! &#x017F;o<lb/>
&#x201E;ganz in Figur, Lage, Geba&#x0364;rdung, Blick, Colorit, Run-<lb/>
&#x201E;dung &#x2014; Der Mann Chri&#x017F;tus &#x2014; wie i&#x017F;t er Kind! Sein<lb/>
&#x201E;Ge&#x017F;icht &#x017F;agt dem Auge, was &#x017F;ein offner Mund dem<lb/>
&#x201E;Ohre &#x017F;agen wu&#x0364;rde, wenn er lebte! Welche Einfalt im<lb/>
&#x201E;Auge! welche Kindheit und Leiden&#x017F;chaftlo&#x017F;igkeit in der<lb/>
&#x201E;Na&#x017F;e .. und in der Stirne! die kleine (in der Copie<lb/>
&#x201E;weggela&#x017F;&#x017F;ene) Schattirung ausgenommen, deren Sinn<lb/>
&#x201E;ich noch nicht erreicht habe! das lichtbra&#x0364;unliche Haar,<lb/>
&#x201E;wie harmoni&#x017F;ch! wie wahr! wie mei&#x017F;terhaft der helle<lb/>
&#x201E;Grund ums Haupt! die Ha&#x0364;nde, wie herrlich gezeich-<lb/>
&#x201E;net! wie edel! wie phy&#x017F;iognomi&#x017F;ch! &#x2014; Recht ganz<lb/>
&#x201E;&#x017F;cheinen Sie, mein Freund, das Phy&#x017F;iognomi&#x017F;che in<lb/>
&#x201E;den Ha&#x0364;nden, das von &#x017F;o wenig Mahlern und Phy-<lb/>
&#x201E;&#x017F;iognomi&#x017F;ten gefu&#x0364;hlt wird, zu fu&#x0364;hlen. Wenn nur, mein<lb/>
&#x201E;Theurer! das Gema&#x0364;hlde glu&#x0364;cklich ins Kleine gebracht<lb/>
&#x201E;wird! Aber wie viel wird&#x2019;s verlieren, bis es vom Ku-<lb/>
&#x201E;pfer abgedruckt werden kann! Doch was mo&#x0364;glich i&#x017F;t,<lb/>
&#x201E;&#x017F;oll ge&#x017F;chehen! &#x2014; Jch kann und will nichts mehr &#x017F;a-<lb/>
&#x201E;gen, als: Wenn ich die&#x017F;en Kinder&#x017F;inn habe, den Sie<lb/>
&#x201E;&#x017F;o trefflich aus ihrer eignen Seele heraus gemahlt zu<lb/>
&#x201E;haben &#x017F;cheinen &#x2014; &#x017F;o wird es mir oft ein &#x017F;u&#x0364;ßer Ge-<lb/>
&#x201E;danke &#x017F;eyn, wenn ich Sie in die&#x017F;em Leben niemals &#x017F;e-<lb/>
&#x201E;hen &#x017F;oll &#x2014; daß ich Sie dort an der Hand de&#x017F;&#x017F;en fin-<lb/>
&#x201E;den werde, den kein Engelspin&#x017F;el nachzuzeichnen, kei-<lb/>
&#x201E;ne Zunge zu nennen wu&#x0364;rdig i&#x017F;t. Jch umarme Sie<lb/>
&#x201E;herzlich.&#x201C; Zu&#x0364;rich, den 19. Sept. 1777.</note> Form, Umriß,<lb/>
Geba&#x0364;rdung, Blick, Lage, alles &#x017F;pricht, alles blickt, alles athmet Einfalt und Kindlichkeit. Die frey<lb/>
kindliche unakademi&#x017F;che Lage allein &#x017F;chon zeigt uns den großen Sinn, der den Mahler be&#x017F;eelte. Und<lb/>
was mir &#x017F;ehr gefa&#x0364;llt, das Kind i&#x017F;t nichts weniger als Jdeal. Es giebt &#x017F;cho&#x0364;nere Kinder, die aber<lb/>
dann nicht die&#x017F;en Charakter der reinen Einfalt haben. Mir &#x017F;cheint&#x2019;s Bild des Mahlers &#x017F;elb&#x017F;t in &#x017F;ei-<lb/>
ner jugendlichen Un&#x017F;chuld zu &#x017F;eyn. Stirn und Na&#x017F;e wenig&#x017F;tens haben den Charakter der &#x017F;einigen.<lb/>
Die Oberlippe ha&#x0364;tte ich etwas mehr gezeichnet, etwas vor&#x017F;tehender und von der Na&#x017F;e entfernter ge-<lb/>
wu&#x0364;n&#x017F;cht.</p>
            </div><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">L l l 2</fw>
            <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">M.</hi> Ein</hi> </fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[451/0591] Chriſtusbilder. Die Haͤnde ſind von großer Wahrheit, Bedeutung und Harmonie mit dem Ganzen; nicht nur an ſich vortrefflich gezeichnet, ſondern eines edeln, guͤtigen, einfaltvollen Charakters. Am voͤr- derſten Gelenke des Zeigefingers iſt in der Copie etwas verfehlt. Und das Kind? *) Form, Umriß, Gebaͤrdung, Blick, Lage, alles ſpricht, alles blickt, alles athmet Einfalt und Kindlichkeit. Die frey kindliche unakademiſche Lage allein ſchon zeigt uns den großen Sinn, der den Mahler beſeelte. Und was mir ſehr gefaͤllt, das Kind iſt nichts weniger als Jdeal. Es giebt ſchoͤnere Kinder, die aber dann nicht dieſen Charakter der reinen Einfalt haben. Mir ſcheint’s Bild des Mahlers ſelbſt in ſei- ner jugendlichen Unſchuld zu ſeyn. Stirn und Naſe wenigſtens haben den Charakter der ſeinigen. Die Oberlippe haͤtte ich etwas mehr gezeichnet, etwas vorſtehender und von der Naſe entfernter ge- wuͤnſcht. M. Ein *) Das Kind im Originalgemaͤhlde iſt ſo unnach- ahmlich ſanft und rein colorirt, daß es ſcheint, der Mahler habe ſeinen Pinſel in Morgenroͤthen der Unſchuld getaucht. Beylage. Aus einem Briefe des Verfaſſers an Herrn Weſt, der ihm das große koſtbare Gemaͤhlde, wovon dieß die Copie iſt, zum Geſchenke ſendete. „Mein vortrefflicher Freund! — ſo muß ich Sie „nennen; Jhre Guͤte giebt mir das Recht dazu. Nicht „durch leere Worte, durch ein Geſchenk von Jhrer theu- „ren Hand, das mir auch noch Geſchenk waͤre, wenn „Sie Bezahlung forderten — Mein vortrefflicher „Freund, wie ſoll ich das erſtemal an Sie ſchreiben, da „ich als doppelter Schuldner vor Jhnen erſcheine — „was kann ich ſagen? Ach! wie nichts iſt, wenn ich ſa- „ge: Auf den aͤußerſten Zehen ſteht und horcht meine „Dankempfindung etwas auszuhorchen, das Jhnen ſo „viel Vergnuͤgen machte, als mir Jhr Chriſtus mit der „kindlichen Unſchuld macht. Lieber Weſt, laſſen Sie „mich Jhnen unterdeſſen im Geiſte die Hand kuͤſſen — „und Jhnen einen Theil meiner Empfindungen bey Jh- „rem Gemaͤhlde mittheilen; einen Theil, denn je mehr „ichs beſehe, deſto mehr empfindet mein Herz dabey; „deſto mehr Weisheit, Ueberlegung, edle Einfalt finde „ich drinn; deſto mehr Adel und Harmonie im Gan- „zen ſo ſtill in Eins zuſammenſchmelzenden! Das Gan- „ze hat ſo ganz das Gepraͤge, den Ton des Einzelnen; „das Einzelne des Ganzen. Alles iſt Eins — jeder „Zug, jeder Farbenſtrich — geht aus Kindereinfalt in „Kindereinfalt. Das Kind, wie iſt’s ſo ganz Kind! ſo „ganz in Figur, Lage, Gebaͤrdung, Blick, Colorit, Run- „dung — Der Mann Chriſtus — wie iſt er Kind! Sein „Geſicht ſagt dem Auge, was ſein offner Mund dem „Ohre ſagen wuͤrde, wenn er lebte! Welche Einfalt im „Auge! welche Kindheit und Leidenſchaftloſigkeit in der „Naſe .. und in der Stirne! die kleine (in der Copie „weggelaſſene) Schattirung ausgenommen, deren Sinn „ich noch nicht erreicht habe! das lichtbraͤunliche Haar, „wie harmoniſch! wie wahr! wie meiſterhaft der helle „Grund ums Haupt! die Haͤnde, wie herrlich gezeich- „net! wie edel! wie phyſiognomiſch! — Recht ganz „ſcheinen Sie, mein Freund, das Phyſiognomiſche in „den Haͤnden, das von ſo wenig Mahlern und Phy- „ſiognomiſten gefuͤhlt wird, zu fuͤhlen. Wenn nur, mein „Theurer! das Gemaͤhlde gluͤcklich ins Kleine gebracht „wird! Aber wie viel wird’s verlieren, bis es vom Ku- „pfer abgedruckt werden kann! Doch was moͤglich iſt, „ſoll geſchehen! — Jch kann und will nichts mehr ſa- „gen, als: Wenn ich dieſen Kinderſinn habe, den Sie „ſo trefflich aus ihrer eignen Seele heraus gemahlt zu „haben ſcheinen — ſo wird es mir oft ein ſuͤßer Ge- „danke ſeyn, wenn ich Sie in dieſem Leben niemals ſe- „hen ſoll — daß ich Sie dort an der Hand deſſen fin- „den werde, den kein Engelspinſel nachzuzeichnen, kei- „ne Zunge zu nennen wuͤrdig iſt. Jch umarme Sie „herzlich.“ Zuͤrich, den 19. Sept. 1777. L l l 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/591
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/591>, abgerufen am 30.11.2024.