Jhr beobachtet die kleine Veränderung der Stelle des Polarsterns? Verwendet Tage dar- auf, auszurechnen, in welchem Jahrhundert er dem Pol am nächsten seyn werde -- und ich ver- achte die Bemühung nicht. --
Aber daran liegt euch nichts, --
Daran liegt Vätern, Müttern, Kindererziehern, Lehrern, Freunden, Staatsleuten nichts, zu wissen, was aus einem Manne hätte werden können, oder noch werden kann? aus diesem oder jenem Jünglingskopf, so und so geleitet und gebildet, werden muß?
Manche Narren gleichen vortrefflichen Uhren, denen nichts fehlt, als daß man die Zahlen- tafel zu recht setze.
Euch ist nichts an der innern Güte der Uhr gelegen? Euch ist's gleichgültig, daß der Uhr- kunstverständige euch sage -- "Das war und ist ein vortreffliches Werk -- ein Meisterstück -- und "hundertmal besser, als jenes dort, mit Brillianten reichlich besetzt, das freylich ein Vierteljahr vor- "trefflich geht -- und dann stockt -- Reinigt's nur! zieht's nur auf! helft nur diesem krummgedrück- "ten Zähngen zurecht!" -- An dem liegt euch nichts -- Jhr wollt nicht wissen, was hätte werden können, vielleicht werden kann, diese Uhr -- nur was sie ist -- Nichts wissen vom Capitalschatz, der da begraben liegt, und also freylich noch nichts abgeworfen hat, aber unendlich viel abwerfen kann? -- Jhr seyd zufrieden mit dem kleinen Jnteresse dieses oder jenes ungleich geringern Capitals?
Jhr bekümmert euch nur um die dießjährige vielleicht nur erzwungene Frucht -- nicht um die Grundgüte des Baumes, der vielleicht mit geringer Wartung tausendfältige Früchte bringen kann, ob er gleich unter diesen oder jenen Umständen noch keine gebracht? -- Ach! der warme Süd- wind hat dieses Baumes Blätter schwarz gesengt -- und der Sturm seine halbreifen Früchte zu tau- senden abgeworfen, und ihr wollt nicht wissen, ob der Stamm unverdorben geblieben sey?
Jch fühle, daß ich müde bin und müde mache; zumal da ich immer der Ueberzeugung nä- her zu kommen scheine: "Die gute Laune unsers Verfassers wolle uns wenigstens bisweilen nur "zum Besten haben."
Nur
I.Abſchnitt.I.Fragment.
Jhr beobachtet die kleine Veraͤnderung der Stelle des Polarſterns? Verwendet Tage dar- auf, auszurechnen, in welchem Jahrhundert er dem Pol am naͤchſten ſeyn werde — und ich ver- achte die Bemuͤhung nicht. —
Aber daran liegt euch nichts, —
Daran liegt Vaͤtern, Muͤttern, Kindererziehern, Lehrern, Freunden, Staatsleuten nichts, zu wiſſen, was aus einem Manne haͤtte werden koͤnnen, oder noch werden kann? aus dieſem oder jenem Juͤnglingskopf, ſo und ſo geleitet und gebildet, werden muß?
Manche Narren gleichen vortrefflichen Uhren, denen nichts fehlt, als daß man die Zahlen- tafel zu recht ſetze.
Euch iſt nichts an der innern Guͤte der Uhr gelegen? Euch iſt’s gleichguͤltig, daß der Uhr- kunſtverſtaͤndige euch ſage — „Das war und iſt ein vortreffliches Werk — ein Meiſterſtuͤck — und „hundertmal beſſer, als jenes dort, mit Brillianten reichlich beſetzt, das freylich ein Vierteljahr vor- „trefflich geht — und dann ſtockt — Reinigt’s nur! zieht’s nur auf! helft nur dieſem krummgedruͤck- „ten Zaͤhngen zurecht!“ — An dem liegt euch nichts — Jhr wollt nicht wiſſen, was haͤtte werden koͤnnen, vielleicht werden kann, dieſe Uhr — nur was ſie iſt — Nichts wiſſen vom Capitalſchatz, der da begraben liegt, und alſo freylich noch nichts abgeworfen hat, aber unendlich viel abwerfen kann? — Jhr ſeyd zufrieden mit dem kleinen Jntereſſe dieſes oder jenes ungleich geringern Capitals?
Jhr bekuͤmmert euch nur um die dießjaͤhrige vielleicht nur erzwungene Frucht — nicht um die Grundguͤte des Baumes, der vielleicht mit geringer Wartung tauſendfaͤltige Fruͤchte bringen kann, ob er gleich unter dieſen oder jenen Umſtaͤnden noch keine gebracht? — Ach! der warme Suͤd- wind hat dieſes Baumes Blaͤtter ſchwarz geſengt — und der Sturm ſeine halbreifen Fruͤchte zu tau- ſenden abgeworfen, und ihr wollt nicht wiſſen, ob der Stamm unverdorben geblieben ſey?
Jch fuͤhle, daß ich muͤde bin und muͤde mache; zumal da ich immer der Ueberzeugung naͤ- her zu kommen ſcheine: „Die gute Laune unſers Verfaſſers wolle uns wenigſtens bisweilen nur „zum Beſten haben.“
Nur
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I. Abſchnitt. I. Fragment.
Jhr beobachtet die kleine Veraͤnderung der Stelle des Polarſterns? Verwendet Tage dar-
auf, auszurechnen, in welchem Jahrhundert er dem Pol am naͤchſten ſeyn werde — und ich ver-
achte die Bemuͤhung nicht. —
Aber daran liegt euch nichts, —
Daran liegt Vaͤtern, Muͤttern, Kindererziehern, Lehrern, Freunden, Staatsleuten nichts,
zu wiſſen, was aus einem Manne haͤtte werden koͤnnen, oder noch werden kann? aus dieſem oder
jenem Juͤnglingskopf, ſo und ſo geleitet und gebildet, werden muß?
Manche Narren gleichen vortrefflichen Uhren, denen nichts fehlt, als daß man die Zahlen-
tafel zu recht ſetze.
Euch iſt nichts an der innern Guͤte der Uhr gelegen? Euch iſt’s gleichguͤltig, daß der Uhr-
kunſtverſtaͤndige euch ſage — „Das war und iſt ein vortreffliches Werk — ein Meiſterſtuͤck — und
„hundertmal beſſer, als jenes dort, mit Brillianten reichlich beſetzt, das freylich ein Vierteljahr vor-
„trefflich geht — und dann ſtockt — Reinigt’s nur! zieht’s nur auf! helft nur dieſem krummgedruͤck-
„ten Zaͤhngen zurecht!“ — An dem liegt euch nichts — Jhr wollt nicht wiſſen, was haͤtte werden
koͤnnen, vielleicht werden kann, dieſe Uhr — nur was ſie iſt — Nichts wiſſen vom Capitalſchatz,
der da begraben liegt, und alſo freylich noch nichts abgeworfen hat, aber unendlich viel abwerfen
kann? — Jhr ſeyd zufrieden mit dem kleinen Jntereſſe dieſes oder jenes ungleich geringern
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Jhr bekuͤmmert euch nur um die dießjaͤhrige vielleicht nur erzwungene Frucht — nicht um
die Grundguͤte des Baumes, der vielleicht mit geringer Wartung tauſendfaͤltige Fruͤchte bringen
kann, ob er gleich unter dieſen oder jenen Umſtaͤnden noch keine gebracht? — Ach! der warme Suͤd-
wind hat dieſes Baumes Blaͤtter ſchwarz geſengt — und der Sturm ſeine halbreifen Fruͤchte zu tau-
ſenden abgeworfen, und ihr wollt nicht wiſſen, ob der Stamm unverdorben geblieben ſey?
Jch fuͤhle, daß ich muͤde bin und muͤde mache; zumal da ich immer der Ueberzeugung naͤ-
her zu kommen ſcheine: „Die gute Laune unſers Verfaſſers wolle uns wenigſtens bisweilen nur
„zum Beſten haben.“
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/56>, abgerufen am 22.11.2024.
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