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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Zweytes Fragment.
Ueber Christusbilder.

Vielleicht sollte es kein Sterblicher wagen, ein Bild von Christus zu zeichnen. Gewiß kann
keiner ein würdiges zeichnen.

Es ist sonderbar, daß uns die Evangelisten, selbst der Schooßjünger des Herrn, nichts von
seiner Gestalt und seiner Gesichtsbildung sagen.

Und dennoch denke ich nicht, daß wir uns kein Bild von ihm machen dürfen. Es ist theils
nach der eignen Beschaffenheit und Lage der Dinge unausweichlich, theils nach der Natur unserer
Einbildungskraft unmöglich -- uns ihn nicht in irgend einer unbestimmten oder bestimmten Men-
schengestalt zu gedenken.

So unmöglich es aber ist, daß wir uns ein würdiges, das ist, richtiges Bild von ihm ma-
chen -- so ist es dennoch sehr leicht möglich, die Unwürdigkeit und Unrichtigkeit so vieler Bilder von
ihm zu fühlen. Ohne ein Jdeal von ihm entwerfen zu können -- können wir mit Gewißheit sa-
gen: Von allen vorhandenen Christusköpfen ist keiner -- des großen Charakters würdig.*) Alle,
die wenigstens, die ich gesehen, sind, wo nicht erweisliche Lästerungen, doch gelind ausgedrückt --
entweder zu sehr menschlich, oder zu wenig, ohne jedoch deswegen göttlich zu seyn.**)

Es ist immer wenigstens Ein Hauptingrediens, ohne welches Christus nicht mehr Christus
ist, vergessen oder vernachläßigt. Entweder das Menschliche, oder das Göttliche, oder das

Jsraeli-
*) [Spaltenumbruch]
"Caracci hat den Heiland als einen jungen Hel-
"den ohne Bart gebildet, und demselben eine hohe Jdee
"gegeben, die er von den schönsten Köpfen der Alten
"genommen hat, um den Schönsten der Menschenkin-
"der vorzustellen. Ein ähnliches heldenmäßiges Ge-
"sicht ohne Bart hat Guercino seinem verstorbenen
"Christus in einem schönen Gemählde des Pallastes
"Pamfili, auf dem Platze Navona, gegeben, zu Be-
[Spaltenumbruch] "schämung der niedrigen und pöbelhaften Gestalt des
"Heilandes in dessen Köpfen von Michael Angelo."
Winkelmann.
**) "Unser Künstler hat noch eine Jkonologie unse-
"rer Religion zu wünschen, die ihn nicht bloß vor un-
"würdigen
Vorstellungen bewahre, sondern ihn mit
"würdigen Bildern versehe." Herder.
Phys. Fragm. IV Versuch. J i i
Zweytes Fragment.
Ueber Chriſtusbilder.

Vielleicht ſollte es kein Sterblicher wagen, ein Bild von Chriſtus zu zeichnen. Gewiß kann
keiner ein wuͤrdiges zeichnen.

Es iſt ſonderbar, daß uns die Evangeliſten, ſelbſt der Schooßjuͤnger des Herrn, nichts von
ſeiner Geſtalt und ſeiner Geſichtsbildung ſagen.

Und dennoch denke ich nicht, daß wir uns kein Bild von ihm machen duͤrfen. Es iſt theils
nach der eignen Beſchaffenheit und Lage der Dinge unausweichlich, theils nach der Natur unſerer
Einbildungskraft unmoͤglich — uns ihn nicht in irgend einer unbeſtimmten oder beſtimmten Men-
ſchengeſtalt zu gedenken.

So unmoͤglich es aber iſt, daß wir uns ein wuͤrdiges, das iſt, richtiges Bild von ihm ma-
chen — ſo iſt es dennoch ſehr leicht moͤglich, die Unwuͤrdigkeit und Unrichtigkeit ſo vieler Bilder von
ihm zu fuͤhlen. Ohne ein Jdeal von ihm entwerfen zu koͤnnen — koͤnnen wir mit Gewißheit ſa-
gen: Von allen vorhandenen Chriſtuskoͤpfen iſt keiner — des großen Charakters wuͤrdig.*) Alle,
die wenigſtens, die ich geſehen, ſind, wo nicht erweisliche Laͤſterungen, doch gelind ausgedruͤckt —
entweder zu ſehr menſchlich, oder zu wenig, ohne jedoch deswegen goͤttlich zu ſeyn.**)

Es iſt immer wenigſtens Ein Hauptingrediens, ohne welches Chriſtus nicht mehr Chriſtus
iſt, vergeſſen oder vernachlaͤßigt. Entweder das Menſchliche, oder das Goͤttliche, oder das

Jſraeli-
*) [Spaltenumbruch]
Caracci hat den Heiland als einen jungen Hel-
„den ohne Bart gebildet, und demſelben eine hohe Jdee
„gegeben, die er von den ſchoͤnſten Koͤpfen der Alten
„genommen hat, um den Schoͤnſten der Menſchenkin-
„der vorzuſtellen. Ein aͤhnliches heldenmaͤßiges Ge-
„ſicht ohne Bart hat Guercino ſeinem verſtorbenen
„Chriſtus in einem ſchoͤnen Gemaͤhlde des Pallaſtes
„Pamfili, auf dem Platze Navona, gegeben, zu Be-
[Spaltenumbruch] „ſchaͤmung der niedrigen und poͤbelhaften Geſtalt des
„Heilandes in deſſen Koͤpfen von Michael Angelo.“
Winkelmann.
**) „Unſer Kuͤnſtler hat noch eine Jkonologie unſe-
„rer Religion zu wuͤnſchen, die ihn nicht bloß vor un-
„wuͤrdigen
Vorſtellungen bewahre, ſondern ihn mit
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Phyſ. Fragm. IV Verſuch. J i i
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[433/0553] Zweytes Fragment. Ueber Chriſtusbilder. Vielleicht ſollte es kein Sterblicher wagen, ein Bild von Chriſtus zu zeichnen. Gewiß kann keiner ein wuͤrdiges zeichnen. Es iſt ſonderbar, daß uns die Evangeliſten, ſelbſt der Schooßjuͤnger des Herrn, nichts von ſeiner Geſtalt und ſeiner Geſichtsbildung ſagen. Und dennoch denke ich nicht, daß wir uns kein Bild von ihm machen duͤrfen. Es iſt theils nach der eignen Beſchaffenheit und Lage der Dinge unausweichlich, theils nach der Natur unſerer Einbildungskraft unmoͤglich — uns ihn nicht in irgend einer unbeſtimmten oder beſtimmten Men- ſchengeſtalt zu gedenken. So unmoͤglich es aber iſt, daß wir uns ein wuͤrdiges, das iſt, richtiges Bild von ihm ma- chen — ſo iſt es dennoch ſehr leicht moͤglich, die Unwuͤrdigkeit und Unrichtigkeit ſo vieler Bilder von ihm zu fuͤhlen. Ohne ein Jdeal von ihm entwerfen zu koͤnnen — koͤnnen wir mit Gewißheit ſa- gen: Von allen vorhandenen Chriſtuskoͤpfen iſt keiner — des großen Charakters wuͤrdig. *) Alle, die wenigſtens, die ich geſehen, ſind, wo nicht erweisliche Laͤſterungen, doch gelind ausgedruͤckt — entweder zu ſehr menſchlich, oder zu wenig, ohne jedoch deswegen goͤttlich zu ſeyn. **) Es iſt immer wenigſtens Ein Hauptingrediens, ohne welches Chriſtus nicht mehr Chriſtus iſt, vergeſſen oder vernachlaͤßigt. Entweder das Menſchliche, oder das Goͤttliche, oder das Jſraeli- *) „Caracci hat den Heiland als einen jungen Hel- „den ohne Bart gebildet, und demſelben eine hohe Jdee „gegeben, die er von den ſchoͤnſten Koͤpfen der Alten „genommen hat, um den Schoͤnſten der Menſchenkin- „der vorzuſtellen. Ein aͤhnliches heldenmaͤßiges Ge- „ſicht ohne Bart hat Guercino ſeinem verſtorbenen „Chriſtus in einem ſchoͤnen Gemaͤhlde des Pallaſtes „Pamfili, auf dem Platze Navona, gegeben, zu Be- „ſchaͤmung der niedrigen und poͤbelhaften Geſtalt des „Heilandes in deſſen Koͤpfen von Michael Angelo.“ Winkelmann. **) „Unſer Kuͤnſtler hat noch eine Jkonologie unſe- „rer Religion zu wuͤnſchen, die ihn nicht bloß vor un- „wuͤrdigen Vorſtellungen bewahre, ſondern ihn mit „wuͤrdigen Bildern verſehe.“ Herder. Phyſ. Fragm. IV Verſuch. J i i

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/553>, abgerufen am 23.11.2024.