Nicht Denkmal will ich dem edeln Entschlafenen aufrichten. Er bedarf's nicht; ich kann's nicht. -- Nur, wie, wenn er mich nichts angienge, setze ich wenige Zeilen kalt hin -- mit verschlossenem Herzen.
Ruhe, Treue, Festigkeit, Zuverläßigkeit, Truglosigkeit, Muth ohne Frechheit und Tollheit in der Form des ganzen Gesichts -- helle weite Offenheit in der Stirne -- Reichthum und Heiter- keit der Bilder ohne Poesie und glühendes Kolorit; Ueberschauung mehr als Durchschauung -- aber so helle Ueberschauung, die jedes Wölkgen, jede Unbestimmtheit, jede nähere Bestimmbarkeit haarscharf bemerkte. Heller Verstand in der Form und im Blicke des Auges, und oben drein die edelste Offenheit und Freymüthigkeit. Festigkeit, Treue und Adel der Seele -- Ernst und Güte durch Weisheit verschwistert -- in der Stirne, der Augenbraune, dem Munde, der Form des Gan- zen. Das sollte jeder Physiognomist, der nichts von dem Urbilde wissen kann, in diesem Bilde sehen. Und wer den Mann kannte -- der wird es wissen, wie dieß alles und mehr als dieß im Gesichte und im Charakter lag. --
Es ist nicht der Umriß der Stirn eines scharf und tiefdenkenden Ministers -- nicht der Tiefblick eines Entwurfmachers -- aber Stirn und Blick heller, richtiger, reiner Beurtheilungs- kraft, und kluger männlicher Bedächtlichkeit eines treuen, warmen, durchaus patriotischen Patrio- ten -- der thut, und gethan wissen will, was er einmal als nützlich und gut erkannt hat, es koste was es wolle; der den geradesten Weg geht, und wenn Stimmen ohne Zahl riefen: "Hier zur "Rechten!" und Stimmen ohne Zahl riefen -- "Hier zur Linken!"
Kein Mensch kann eine gewisse Respekt einflößende Größe -- dem ganzen Bilde ab- sprechen.
Zu sanftlächelnder Huld öffnete sich der Mund. Zu würdigem Witze; nie zu boshaften Reden, nie zur Unwahrheit, nie zu Urtheilen und Erzählungen des Neides. Aber öffnete sich zu Worten ernster wohlthätiger Weisheit. Ein Hauptzug seines Charakters war die seltene, seltene Gabe zu hören, zu fragen, zu lernen, wie ein Kind; und das Gehörte, Geprüfte, Gelernte festzuhal- ten, wie ein Mann, und nach Möglichkeit Gebrauch davon zu machen. Ausdruck von dieser
Fähigkeit
VIII. Abſchnitt. VIII. Fragment.
Beylage C. Heinrich Eſcher.
Des IV Ban- des XLII. Ta- fel. Heinrich Eſcher.
Nicht Denkmal will ich dem edeln Entſchlafenen aufrichten. Er bedarf’s nicht; ich kann’s nicht. — Nur, wie, wenn er mich nichts angienge, ſetze ich wenige Zeilen kalt hin — mit verſchloſſenem Herzen.
Ruhe, Treue, Feſtigkeit, Zuverlaͤßigkeit, Trugloſigkeit, Muth ohne Frechheit und Tollheit in der Form des ganzen Geſichts — helle weite Offenheit in der Stirne — Reichthum und Heiter- keit der Bilder ohne Poeſie und gluͤhendes Kolorit; Ueberſchauung mehr als Durchſchauung — aber ſo helle Ueberſchauung, die jedes Woͤlkgen, jede Unbeſtimmtheit, jede naͤhere Beſtimmbarkeit haarſcharf bemerkte. Heller Verſtand in der Form und im Blicke des Auges, und oben drein die edelſte Offenheit und Freymuͤthigkeit. Feſtigkeit, Treue und Adel der Seele — Ernſt und Guͤte durch Weisheit verſchwiſtert — in der Stirne, der Augenbraune, dem Munde, der Form des Gan- zen. Das ſollte jeder Phyſiognomiſt, der nichts von dem Urbilde wiſſen kann, in dieſem Bilde ſehen. Und wer den Mann kannte — der wird es wiſſen, wie dieß alles und mehr als dieß im Geſichte und im Charakter lag. —
Es iſt nicht der Umriß der Stirn eines ſcharf und tiefdenkenden Miniſters — nicht der Tiefblick eines Entwurfmachers — aber Stirn und Blick heller, richtiger, reiner Beurtheilungs- kraft, und kluger maͤnnlicher Bedaͤchtlichkeit eines treuen, warmen, durchaus patriotiſchen Patrio- ten — der thut, und gethan wiſſen will, was er einmal als nuͤtzlich und gut erkannt hat, es koſte was es wolle; der den geradeſten Weg geht, und wenn Stimmen ohne Zahl riefen: „Hier zur „Rechten!“ und Stimmen ohne Zahl riefen — „Hier zur Linken!“
Kein Menſch kann eine gewiſſe Reſpekt einfloͤßende Groͤße — dem ganzen Bilde ab- ſprechen.
Zu ſanftlaͤchelnder Huld oͤffnete ſich der Mund. Zu wuͤrdigem Witze; nie zu boshaften Reden, nie zur Unwahrheit, nie zu Urtheilen und Erzaͤhlungen des Neides. Aber oͤffnete ſich zu Worten ernſter wohlthaͤtiger Weisheit. Ein Hauptzug ſeines Charakters war die ſeltene, ſeltene Gabe zu hoͤren, zu fragen, zu lernen, wie ein Kind; und das Gehoͤrte, Gepruͤfte, Gelernte feſtzuhal- ten, wie ein Mann, und nach Moͤglichkeit Gebrauch davon zu machen. Ausdruck von dieſer
Faͤhigkeit
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VIII. Abſchnitt. VIII. Fragment.
Beylage C.
Heinrich Eſcher.
Nicht Denkmal will ich dem edeln Entſchlafenen aufrichten. Er bedarf’s nicht; ich
kann’s nicht. — Nur, wie, wenn er mich nichts angienge, ſetze ich wenige Zeilen kalt
hin — mit verſchloſſenem Herzen.
Ruhe, Treue, Feſtigkeit, Zuverlaͤßigkeit, Trugloſigkeit, Muth ohne Frechheit und Tollheit
in der Form des ganzen Geſichts — helle weite Offenheit in der Stirne — Reichthum und Heiter-
keit der Bilder ohne Poeſie und gluͤhendes Kolorit; Ueberſchauung mehr als Durchſchauung —
aber ſo helle Ueberſchauung, die jedes Woͤlkgen, jede Unbeſtimmtheit, jede naͤhere Beſtimmbarkeit
haarſcharf bemerkte. Heller Verſtand in der Form und im Blicke des Auges, und oben drein die
edelſte Offenheit und Freymuͤthigkeit. Feſtigkeit, Treue und Adel der Seele — Ernſt und Guͤte
durch Weisheit verſchwiſtert — in der Stirne, der Augenbraune, dem Munde, der Form des Gan-
zen. Das ſollte jeder Phyſiognomiſt, der nichts von dem Urbilde wiſſen kann, in dieſem Bilde ſehen.
Und wer den Mann kannte — der wird es wiſſen, wie dieß alles und mehr als dieß im Geſichte und
im Charakter lag. —
Es iſt nicht der Umriß der Stirn eines ſcharf und tiefdenkenden Miniſters — nicht der
Tiefblick eines Entwurfmachers — aber Stirn und Blick heller, richtiger, reiner Beurtheilungs-
kraft, und kluger maͤnnlicher Bedaͤchtlichkeit eines treuen, warmen, durchaus patriotiſchen Patrio-
ten — der thut, und gethan wiſſen will, was er einmal als nuͤtzlich und gut erkannt hat, es koſte
was es wolle; der den geradeſten Weg geht, und wenn Stimmen ohne Zahl riefen: „Hier zur
„Rechten!“ und Stimmen ohne Zahl riefen — „Hier zur Linken!“
Kein Menſch kann eine gewiſſe Reſpekt einfloͤßende Groͤße — dem ganzen Bilde ab-
ſprechen.
Zu ſanftlaͤchelnder Huld oͤffnete ſich der Mund. Zu wuͤrdigem Witze; nie zu boshaften
Reden, nie zur Unwahrheit, nie zu Urtheilen und Erzaͤhlungen des Neides. Aber oͤffnete ſich zu
Worten ernſter wohlthaͤtiger Weisheit. Ein Hauptzug ſeines Charakters war die ſeltene, ſeltene
Gabe zu hoͤren, zu fragen, zu lernen, wie ein Kind; und das Gehoͤrte, Gepruͤfte, Gelernte feſtzuhal-
ten, wie ein Mann, und nach Moͤglichkeit Gebrauch davon zu machen. Ausdruck von dieſer
Faͤhigkeit
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/506>, abgerufen am 22.11.2024.
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