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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Anmerkungen über eine Stelle aus Büffon.
"Bewegungen der Seele aus den Bewegungen der Augen, des Gesichtes und des Leibes zu erkennen; und daß
"die Gestalt der Nase, des Mundes und anderer Gesichtszüge mit der Form der Seele, der Gemüthsbeschaffen-
"heit der Person, nicht mehr zu thun haben, als die Größe und Stärke der Gliedmaßen mit den Gedanken."
Auch die Größe und Stärke der Gliedmaßen hat offenbar mit den Gedanken zu thun. -- Es giebt solche Massen
von Knochen und Fleisch, die keine feine scharfprüfende Geistesschnelligkeit zulassen, -- und wiederum solche Grös-
sen und Arten der Gliedmaßen, denen man (ohne Rücksicht auf ihre Bewegung) ihre Behendigkeit und Leichtigkeit
zu erkennen, und zu begreifen, ansehen kann. -- "Wird ein Mensch deswegen mehr Witz haben, weil er eine
"wohlgebildete Nase hat? oder weniger Verstand besitzen, weil seine Augen klein sind, und sein Mund groß ist? --
"Man muß also gestehen;" -- --!!! (Dieß muß und dieß also sind in der That einleuchtende Gründe!)
"Man muß also gestehen, daß alles, was die Physiognomisten sagen -- ohne den geringsten Grund ist, und
"nichts so eingebildet ist, als die Folgerungen, die sie aus ihren angeblichen metoposkopischen Beobachtungen er-
"zwingen wollen."

Kann der unwissendste Mensch unwissender absprechen, und kann es eine größere Dreistigkeit geben, als
in unserm Jahrzehend so zu schreiben? So die ungleichsten Dinge mit einander zu verwirren? Metoposkopie mit
der Physiognomik erst zu verwechseln, dann mit einander zu verwerfen? Darum, weil es Thorheit ist, aus den
planetarisch seyn sollenden Lineamenten der Stirn alle Krankheiten und Heyrathen, Freundschaften und Feindse-
ligkeiten und Schicksale des Menschen vorherzusagen -- weil das Thorheit ist, so soll's auch Thorheit seyn --
zu sagen: "Die eine Seirn ist weiser, als die andere -- Apolls Nase zeigt mehr Klugheit, Besonnenheit, Geist,
"Kraft, Gefühl, als des Mohren?" Hier vermiß ich gänzlich den Philosophen -- und den gemeinsten Menschen-
sinn, und es wäre wohl nichts leichter, als den Herrn von Büffon durch sich selbst, und durch das zu widerlegen,
was er von dem Unterschiede der Thierphysiognomien und der Nationalgesichter sagt. Jede Vorweisung einer Rei-
he von einzelnen Stirnen, Augen, Nasen, Mäulern -- widerlegt augenblicklich. Es ist wahr, die Alten ver-
mengten Physiognomie und Metoposkopie gar sehr. Und es ist kaum einer zu finden, der nicht noch oben drein
Chiromantist war. Es wäre also jedem gemeinen Leser der alten Physiognomiker -- aber kaum ist's Herrn
Büffon zu verzeihen, daß er diese in der Natur so himmelweit von einander abstehenden Dinge in einen Topf ge-
than, und das Wahre mit dem Falschen, das Lächerliche mit dem Ehrwürdigen pro more faeculi kurzum weg-
zuschmeißen beliebt hat! -- Verdient der, ich will nicht sagen widerlegt -- nur angeführt, gelesen, genannt zu
werden, der -- z. E. in dem Munde unsers Baschkiren, unserer Fuegoeser, bevor er sich Thorheit oder Weis-
heit auszusprechen öffnete, von ihrer Nase -- ihren Augen, ihrem Munde -- je die Möglichkeit vermuthete,
daß von ihnen eine einzige Seite herrühren könnte, so schön geschrieben, wie Herr von Büffon mehrere Bände ge-
schrieben hat? -- Vor dem bloßen Gedanken würde gewiß niemand mehr zurückspringen, als er selber -- und
dennoch darf er schreiben -- "Wird ein Mensch weniger Verstand haben, weil sein Mund groß ist?" -- Die
leichteste, sicherste Prüfung der Wahrheit ist Anwendung allgemeiner Sätze auf einzelne Fälle -- und bey dieser
Anwendung der Büffonschen Sentenz -- wohin kommen wir? --

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Anmerkungen uͤber eine Stelle aus Buͤffon.
Bewegungen der Seele aus den Bewegungen der Augen, des Geſichtes und des Leibes zu erkennen; und daß
„die Geſtalt der Naſe, des Mundes und anderer Geſichtszuͤge mit der Form der Seele, der Gemuͤthsbeſchaffen-
„heit der Perſon, nicht mehr zu thun haben, als die Groͤße und Staͤrke der Gliedmaßen mit den Gedanken.“
Auch die Groͤße und Staͤrke der Gliedmaßen hat offenbar mit den Gedanken zu thun. — Es giebt ſolche Maſſen
von Knochen und Fleiſch, die keine feine ſcharfpruͤfende Geiſtesſchnelligkeit zulaſſen, — und wiederum ſolche Groͤſ-
ſen und Arten der Gliedmaßen, denen man (ohne Ruͤckſicht auf ihre Bewegung) ihre Behendigkeit und Leichtigkeit
zu erkennen, und zu begreifen, anſehen kann. — „Wird ein Menſch deswegen mehr Witz haben, weil er eine
„wohlgebildete Naſe hat? oder weniger Verſtand beſitzen, weil ſeine Augen klein ſind, und ſein Mund groß iſt? —
Man muß alſo geſtehen;“ — —!!! (Dieß muß und dieß alſo ſind in der That einleuchtende Gruͤnde!)
Man muß alſo geſtehen, daß alles, was die Phyſiognomiſten ſagen — ohne den geringſten Grund iſt, und
„nichts ſo eingebildet iſt, als die Folgerungen, die ſie aus ihren angeblichen metoposkopiſchen Beobachtungen er-
„zwingen wollen.“

Kann der unwiſſendſte Menſch unwiſſender abſprechen, und kann es eine groͤßere Dreiſtigkeit geben, als
in unſerm Jahrzehend ſo zu ſchreiben? So die ungleichſten Dinge mit einander zu verwirren? Metoposkopie mit
der Phyſiognomik erſt zu verwechſeln, dann mit einander zu verwerfen? Darum, weil es Thorheit iſt, aus den
planetariſch ſeyn ſollenden Lineamenten der Stirn alle Krankheiten und Heyrathen, Freundſchaften und Feindſe-
ligkeiten und Schickſale des Menſchen vorherzuſagen — weil das Thorheit iſt, ſo ſoll’s auch Thorheit ſeyn —
zu ſagen: „Die eine Seirn iſt weiſer, als die andere — Apolls Naſe zeigt mehr Klugheit, Beſonnenheit, Geiſt,
„Kraft, Gefuͤhl, als des Mohren?“ Hier vermiß ich gaͤnzlich den Philoſophen — und den gemeinſten Menſchen-
ſinn, und es waͤre wohl nichts leichter, als den Herrn von Buͤffon durch ſich ſelbſt, und durch das zu widerlegen,
was er von dem Unterſchiede der Thierphyſiognomien und der Nationalgeſichter ſagt. Jede Vorweiſung einer Rei-
he von einzelnen Stirnen, Augen, Naſen, Maͤulern — widerlegt augenblicklich. Es iſt wahr, die Alten ver-
mengten Phyſiognomie und Metoposkopie gar ſehr. Und es iſt kaum einer zu finden, der nicht noch oben drein
Chiromantiſt war. Es waͤre alſo jedem gemeinen Leſer der alten Phyſiognomiker — aber kaum iſt’s Herrn
Buͤffon zu verzeihen, daß er dieſe in der Natur ſo himmelweit von einander abſtehenden Dinge in einen Topf ge-
than, und das Wahre mit dem Falſchen, das Laͤcherliche mit dem Ehrwuͤrdigen pro more faeculi kurzum weg-
zuſchmeißen beliebt hat! — Verdient der, ich will nicht ſagen widerlegt — nur angefuͤhrt, geleſen, genannt zu
werden, der — z. E. in dem Munde unſers Baſchkiren, unſerer Fuegoeſer, bevor er ſich Thorheit oder Weis-
heit auszuſprechen oͤffnete, von ihrer Naſe — ihren Augen, ihrem Munde — je die Moͤglichkeit vermuthete,
daß von ihnen eine einzige Seite herruͤhren koͤnnte, ſo ſchoͤn geſchrieben, wie Herr von Buͤffon mehrere Baͤnde ge-
ſchrieben hat? — Vor dem bloßen Gedanken wuͤrde gewiß niemand mehr zuruͤckſpringen, als er ſelber — und
dennoch darf er ſchreiben — „Wird ein Menſch weniger Verſtand haben, weil ſein Mund groß iſt?“ — Die
leichteſte, ſicherſte Pruͤfung der Wahrheit iſt Anwendung allgemeiner Saͤtze auf einzelne Faͤlle — und bey dieſer
Anwendung der Buͤffonſchen Sentenz — wohin kommen wir? —

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[389/0471] Anmerkungen uͤber eine Stelle aus Buͤffon. „Bewegungen der Seele aus den Bewegungen der Augen, des Geſichtes und des Leibes zu erkennen; und daß „die Geſtalt der Naſe, des Mundes und anderer Geſichtszuͤge mit der Form der Seele, der Gemuͤthsbeſchaffen- „heit der Perſon, nicht mehr zu thun haben, als die Groͤße und Staͤrke der Gliedmaßen mit den Gedanken.“ Auch die Groͤße und Staͤrke der Gliedmaßen hat offenbar mit den Gedanken zu thun. — Es giebt ſolche Maſſen von Knochen und Fleiſch, die keine feine ſcharfpruͤfende Geiſtesſchnelligkeit zulaſſen, — und wiederum ſolche Groͤſ- ſen und Arten der Gliedmaßen, denen man (ohne Ruͤckſicht auf ihre Bewegung) ihre Behendigkeit und Leichtigkeit zu erkennen, und zu begreifen, anſehen kann. — „Wird ein Menſch deswegen mehr Witz haben, weil er eine „wohlgebildete Naſe hat? oder weniger Verſtand beſitzen, weil ſeine Augen klein ſind, und ſein Mund groß iſt? — „Man muß alſo geſtehen;“ — —!!! (Dieß muß und dieß alſo ſind in der That einleuchtende Gruͤnde!) „Man muß alſo geſtehen, daß alles, was die Phyſiognomiſten ſagen — ohne den geringſten Grund iſt, und „nichts ſo eingebildet iſt, als die Folgerungen, die ſie aus ihren angeblichen metoposkopiſchen Beobachtungen er- „zwingen wollen.“ Kann der unwiſſendſte Menſch unwiſſender abſprechen, und kann es eine groͤßere Dreiſtigkeit geben, als in unſerm Jahrzehend ſo zu ſchreiben? So die ungleichſten Dinge mit einander zu verwirren? Metoposkopie mit der Phyſiognomik erſt zu verwechſeln, dann mit einander zu verwerfen? Darum, weil es Thorheit iſt, aus den planetariſch ſeyn ſollenden Lineamenten der Stirn alle Krankheiten und Heyrathen, Freundſchaften und Feindſe- ligkeiten und Schickſale des Menſchen vorherzuſagen — weil das Thorheit iſt, ſo ſoll’s auch Thorheit ſeyn — zu ſagen: „Die eine Seirn iſt weiſer, als die andere — Apolls Naſe zeigt mehr Klugheit, Beſonnenheit, Geiſt, „Kraft, Gefuͤhl, als des Mohren?“ Hier vermiß ich gaͤnzlich den Philoſophen — und den gemeinſten Menſchen- ſinn, und es waͤre wohl nichts leichter, als den Herrn von Buͤffon durch ſich ſelbſt, und durch das zu widerlegen, was er von dem Unterſchiede der Thierphyſiognomien und der Nationalgeſichter ſagt. Jede Vorweiſung einer Rei- he von einzelnen Stirnen, Augen, Naſen, Maͤulern — widerlegt augenblicklich. Es iſt wahr, die Alten ver- mengten Phyſiognomie und Metoposkopie gar ſehr. Und es iſt kaum einer zu finden, der nicht noch oben drein Chiromantiſt war. Es waͤre alſo jedem gemeinen Leſer der alten Phyſiognomiker — aber kaum iſt’s Herrn Buͤffon zu verzeihen, daß er dieſe in der Natur ſo himmelweit von einander abſtehenden Dinge in einen Topf ge- than, und das Wahre mit dem Falſchen, das Laͤcherliche mit dem Ehrwuͤrdigen pro more faeculi kurzum weg- zuſchmeißen beliebt hat! — Verdient der, ich will nicht ſagen widerlegt — nur angefuͤhrt, geleſen, genannt zu werden, der — z. E. in dem Munde unſers Baſchkiren, unſerer Fuegoeſer, bevor er ſich Thorheit oder Weis- heit auszuſprechen oͤffnete, von ihrer Naſe — ihren Augen, ihrem Munde — je die Moͤglichkeit vermuthete, daß von ihnen eine einzige Seite herruͤhren koͤnnte, ſo ſchoͤn geſchrieben, wie Herr von Buͤffon mehrere Baͤnde ge- ſchrieben hat? — Vor dem bloßen Gedanken wuͤrde gewiß niemand mehr zuruͤckſpringen, als er ſelber — und dennoch darf er ſchreiben — „Wird ein Menſch weniger Verſtand haben, weil ſein Mund groß iſt?“ — Die leichteſte, ſicherſte Pruͤfung der Wahrheit iſt Anwendung allgemeiner Saͤtze auf einzelne Faͤlle — und bey dieſer Anwendung der Buͤffonſchen Sentenz — wohin kommen wir? — Jch C c c 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/471>, abgerufen am 23.11.2024.