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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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VI. Abschnitt. I. Fragment.

Bey der Schätzung der Temperamente, oder, wie ich lieber sagen möchte, des Grades der
Reizbarkeit, nämlich bey einem Punkte, müssen immer zwo Sachen sorgfältig unterschieden wer-
den; momentane Spannung, und Reizbarkeit überhaupt, oder die Physiognomie und das
Pathos des Temperamentes. Wie kann der Mensch gereizt werden? wie wird er itzt gereizt?
wie groß ist sein Spielraum, sein Reich überhaupt? und dann: wo ist seine gegenwärtige Resi-
denz?
wie viel kann dieser Arm heben? wie viel hebt er gerade itzt? Das Kapital also von Tem-
perament (wie wir uns anderswo schon ausgedrückt haben) wäre im Umrisse des ruhenden Kör-
pers; der Zins, den dieß Kapital abwirft, im bewegten Auge, der Augenbraune, dem Munde,
und der aktuellen Farbe zu suchen.

Es wird sich noch finden, daß die Temperatur oder Nervenreizbarkeit der organischen
Leben sich in bestimmten und bestimmbaren Umrissen endigt, daß das bloße Profil z. E. solche Linien
abwirft, aus deren Biegung sich der Grad der Reizbarkeit in Höhe, Weite, Tiefe, Horizontal-
ruhe bestimmen läßt.

Alle Profilumrisse eines Gesichtes und des ganzen Menschen liefern uns charakteristische
Linien,
die auf zweyerley Weise wenigstens betrachtet werden können. Vors erste ihrer innern
Natur
nach, sodann ihrer Lage nach. Jhre innere Natur ist zweyerley, gerade oder krumm;
ihre äußere ebenfalls, perpendikulär oder schief. -- Beyde haben ihre mannichfaltigen Unterord-
nungen, die sich aber, wie schon bey Anlaß der Stirnen eine Probe gegeben worden, leicht klassi-
fiziren lassen. -- Kämen zu diesen Profilumrissen noch einige über einander stehende Grundlinien der
Stirne -- ich habe gar keinen Grund zu zweifeln, daß auf diese Weise sich nicht die Temperatur
eines jeden Menschen überhaupt, das höchste und tiefste seiner Reizbarkeit gegen jeden gegebenen Ge-
genstand bestimmen lasse.

Das Pathos des Temperamentes, der Moment ihrer wirklichen Gereiztheit zeigt sich in
Bewegung der Muskeln, die sich in jedem animalischen Körper nach der Beschaffenheit und
Form desselben richtet. Zwar ist jeder Menschenkopf aller Bewegungsarten der Leidenschaften fä-
hig. Jedoch jeder nur bis auf einen gewissen Grad. Da aber dieser Grad viel schwerer zu finden
und schwerer zu bestimmen ist, als die Umrisse der Ruhe, auch sich daraus so leicht nicht auf den
Grad der Elastizität und Reizbarkeit überhaupt schließen ließe -- wie aus den ruhenden Umrissen,

so
VI. Abſchnitt. I. Fragment.

Bey der Schaͤtzung der Temperamente, oder, wie ich lieber ſagen moͤchte, des Grades der
Reizbarkeit, naͤmlich bey einem Punkte, muͤſſen immer zwo Sachen ſorgfaͤltig unterſchieden wer-
den; momentane Spannung, und Reizbarkeit uͤberhaupt, oder die Phyſiognomie und das
Pathos des Temperamentes. Wie kann der Menſch gereizt werden? wie wird er itzt gereizt?
wie groß iſt ſein Spielraum, ſein Reich uͤberhaupt? und dann: wo iſt ſeine gegenwaͤrtige Reſi-
denz?
wie viel kann dieſer Arm heben? wie viel hebt er gerade itzt? Das Kapital alſo von Tem-
perament (wie wir uns anderswo ſchon ausgedruͤckt haben) waͤre im Umriſſe des ruhenden Koͤr-
pers; der Zins, den dieß Kapital abwirft, im bewegten Auge, der Augenbraune, dem Munde,
und der aktuellen Farbe zu ſuchen.

Es wird ſich noch finden, daß die Temperatur oder Nervenreizbarkeit der organiſchen
Leben ſich in beſtimmten und beſtimmbaren Umriſſen endigt, daß das bloße Profil z. E. ſolche Linien
abwirft, aus deren Biegung ſich der Grad der Reizbarkeit in Hoͤhe, Weite, Tiefe, Horizontal-
ruhe beſtimmen laͤßt.

Alle Profilumriſſe eines Geſichtes und des ganzen Menſchen liefern uns charakteriſtiſche
Linien,
die auf zweyerley Weiſe wenigſtens betrachtet werden koͤnnen. Vors erſte ihrer innern
Natur
nach, ſodann ihrer Lage nach. Jhre innere Natur iſt zweyerley, gerade oder krumm;
ihre aͤußere ebenfalls, perpendikulaͤr oder ſchief. — Beyde haben ihre mannichfaltigen Unterord-
nungen, die ſich aber, wie ſchon bey Anlaß der Stirnen eine Probe gegeben worden, leicht klaſſi-
fiziren laſſen. — Kaͤmen zu dieſen Profilumriſſen noch einige uͤber einander ſtehende Grundlinien der
Stirne — ich habe gar keinen Grund zu zweifeln, daß auf dieſe Weiſe ſich nicht die Temperatur
eines jeden Menſchen uͤberhaupt, das hoͤchſte und tiefſte ſeiner Reizbarkeit gegen jeden gegebenen Ge-
genſtand beſtimmen laſſe.

Das Pathos des Temperamentes, der Moment ihrer wirklichen Gereiztheit zeigt ſich in
Bewegung der Muskeln, die ſich in jedem animaliſchen Koͤrper nach der Beſchaffenheit und
Form deſſelben richtet. Zwar iſt jeder Menſchenkopf aller Bewegungsarten der Leidenſchaften faͤ-
hig. Jedoch jeder nur bis auf einen gewiſſen Grad. Da aber dieſer Grad viel ſchwerer zu finden
und ſchwerer zu beſtimmen iſt, als die Umriſſe der Ruhe, auch ſich daraus ſo leicht nicht auf den
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[348/0410] VI. Abſchnitt. I. Fragment. Bey der Schaͤtzung der Temperamente, oder, wie ich lieber ſagen moͤchte, des Grades der Reizbarkeit, naͤmlich bey einem Punkte, muͤſſen immer zwo Sachen ſorgfaͤltig unterſchieden wer- den; momentane Spannung, und Reizbarkeit uͤberhaupt, oder die Phyſiognomie und das Pathos des Temperamentes. Wie kann der Menſch gereizt werden? wie wird er itzt gereizt? wie groß iſt ſein Spielraum, ſein Reich uͤberhaupt? und dann: wo iſt ſeine gegenwaͤrtige Reſi- denz? wie viel kann dieſer Arm heben? wie viel hebt er gerade itzt? Das Kapital alſo von Tem- perament (wie wir uns anderswo ſchon ausgedruͤckt haben) waͤre im Umriſſe des ruhenden Koͤr- pers; der Zins, den dieß Kapital abwirft, im bewegten Auge, der Augenbraune, dem Munde, und der aktuellen Farbe zu ſuchen. Es wird ſich noch finden, daß die Temperatur oder Nervenreizbarkeit der organiſchen Leben ſich in beſtimmten und beſtimmbaren Umriſſen endigt, daß das bloße Profil z. E. ſolche Linien abwirft, aus deren Biegung ſich der Grad der Reizbarkeit in Hoͤhe, Weite, Tiefe, Horizontal- ruhe beſtimmen laͤßt. Alle Profilumriſſe eines Geſichtes und des ganzen Menſchen liefern uns charakteriſtiſche Linien, die auf zweyerley Weiſe wenigſtens betrachtet werden koͤnnen. Vors erſte ihrer innern Natur nach, ſodann ihrer Lage nach. Jhre innere Natur iſt zweyerley, gerade oder krumm; ihre aͤußere ebenfalls, perpendikulaͤr oder ſchief. — Beyde haben ihre mannichfaltigen Unterord- nungen, die ſich aber, wie ſchon bey Anlaß der Stirnen eine Probe gegeben worden, leicht klaſſi- fiziren laſſen. — Kaͤmen zu dieſen Profilumriſſen noch einige uͤber einander ſtehende Grundlinien der Stirne — ich habe gar keinen Grund zu zweifeln, daß auf dieſe Weiſe ſich nicht die Temperatur eines jeden Menſchen uͤberhaupt, das hoͤchſte und tiefſte ſeiner Reizbarkeit gegen jeden gegebenen Ge- genſtand beſtimmen laſſe. Das Pathos des Temperamentes, der Moment ihrer wirklichen Gereiztheit zeigt ſich in Bewegung der Muskeln, die ſich in jedem animaliſchen Koͤrper nach der Beſchaffenheit und Form deſſelben richtet. Zwar iſt jeder Menſchenkopf aller Bewegungsarten der Leidenſchaften faͤ- hig. Jedoch jeder nur bis auf einen gewiſſen Grad. Da aber dieſer Grad viel ſchwerer zu finden und ſchwerer zu beſtimmen iſt, als die Umriſſe der Ruhe, auch ſich daraus ſo leicht nicht auf den Grad der Elaſtizitaͤt und Reizbarkeit uͤberhaupt ſchließen ließe — wie aus den ruhenden Umriſſen, ſo

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/410>, abgerufen am 23.11.2024.