"Nehmen wir, fährt unser Philosoph fort, nicht das für Ursache an, was sie nicht eigent- "lich ist? Der Vater hat einen Buckel, das Kind auch, sogleich schließt man, das Kind habe sei- "nen Buckel von seinem Vater. Das kann wahr seyn, aber auch falsch. Der Buckel des einen "und des andern können von sehr verschiedenen Ursachen entspringen, und diese Ursachen können sich "tausendfach ändern.
"Die Erbkrankheiten zu erklären giebt weniger Schwierigkeit. Man begreift leicht, daß "verdorbene Säfte in dem Beschaffenheitszustande des Keims Veränderungen von Gewicht bringen "müssen. Und wenn die gleichen Theile des Leibes, die im Vater oder in der Mutter mit Gebre- "chen behaftet sind, es auch im Kinde so sind, so kömmt das von der Gleichförmigkeit dieser Theile, "die sie den gleichen Beschwerden unterwürfig macht. Jm übrigen kommen die Ungestalten des "Körpers öfters von Erbübeln. Dieß vermindert die vorige Schwierigkeit sehr. Da die Säfte "von übler Beschaffenheit sind, die sich zu gewissen Theilen hinbegeben sollten, so werden auch diese "Theile davon mehr oder weniger übel gebildet, je mehr oder weniger sie eben solcher schlimmen Ein- "drücke fähig sind."
Reflektion.
Bonnet konnte den Grund von Familienähnlichkeiten nach seiner Hypothese nicht finden. Allein laßt uns ihm nachgehen, wo er noch was findet im natürlichen Grunde der Erbkrankheiten. Müssen verdorbene Säfte von Vater oder Mutter den Keim sehr alteriren, und in eben denselben Thei- len, wo Vater oder Mutter affizirt ist, wichtige ähnliche Veränderung zu mehr oder weniger übler Bildung, nach Fähigkeit des Keims, der mehr oder weniger in seinen Umständen zu widerstehen ver- mag, hervorbringen: Warum sollen hingegen gesunde Säfte der Aeltern den Keim bloß so lassen, wie er an sich selber ist? Und müssen ihn doch so wohl durchdringen und entwickeln helfen, als verdorbene? Und führen im Kleinen die Natur von Mischungsart und Einwirkungsart mit sich, wie Vater und Mutter im Großen haben? -- Da Vater und Mutter alle Nahrung, die sie be- kommen, sich verähnlichen, und ihre Saamenfeuchtigkeiten ein konzentrirter geistvoller Auszug vom Ueberfluß aller ihrer Säfte und Kräfte sind, wie man nach allseitigen tiefen Beobachtungen wohl annehmen kann, warum sollen sie nun nicht auch natürlich kraftvoll am Keime so viel möglich zur
Verähn-
T t 3
Aehnlichkeit der Aeltern und Kinder.
„Nehmen wir, faͤhrt unſer Philoſoph fort, nicht das fuͤr Urſache an, was ſie nicht eigent- „lich iſt? Der Vater hat einen Buckel, das Kind auch, ſogleich ſchließt man, das Kind habe ſei- „nen Buckel von ſeinem Vater. Das kann wahr ſeyn, aber auch falſch. Der Buckel des einen „und des andern koͤnnen von ſehr verſchiedenen Urſachen entſpringen, und dieſe Urſachen koͤnnen ſich „tauſendfach aͤndern.
„Die Erbkrankheiten zu erklaͤren giebt weniger Schwierigkeit. Man begreift leicht, daß „verdorbene Saͤfte in dem Beſchaffenheitszuſtande des Keims Veraͤnderungen von Gewicht bringen „muͤſſen. Und wenn die gleichen Theile des Leibes, die im Vater oder in der Mutter mit Gebre- „chen behaftet ſind, es auch im Kinde ſo ſind, ſo koͤmmt das von der Gleichfoͤrmigkeit dieſer Theile, „die ſie den gleichen Beſchwerden unterwuͤrfig macht. Jm uͤbrigen kommen die Ungeſtalten des „Koͤrpers oͤfters von Erbuͤbeln. Dieß vermindert die vorige Schwierigkeit ſehr. Da die Saͤfte „von uͤbler Beſchaffenheit ſind, die ſich zu gewiſſen Theilen hinbegeben ſollten, ſo werden auch dieſe „Theile davon mehr oder weniger uͤbel gebildet, je mehr oder weniger ſie eben ſolcher ſchlimmen Ein- „druͤcke faͤhig ſind.“
Reflektion.
Bonnet konnte den Grund von Familienaͤhnlichkeiten nach ſeiner Hypotheſe nicht finden. Allein laßt uns ihm nachgehen, wo er noch was findet im natuͤrlichen Grunde der Erbkrankheiten. Muͤſſen verdorbene Saͤfte von Vater oder Mutter den Keim ſehr alteriren, und in eben denſelben Thei- len, wo Vater oder Mutter affizirt iſt, wichtige aͤhnliche Veraͤnderung zu mehr oder weniger uͤbler Bildung, nach Faͤhigkeit des Keims, der mehr oder weniger in ſeinen Umſtaͤnden zu widerſtehen ver- mag, hervorbringen: Warum ſollen hingegen geſunde Saͤfte der Aeltern den Keim bloß ſo laſſen, wie er an ſich ſelber iſt? Und muͤſſen ihn doch ſo wohl durchdringen und entwickeln helfen, als verdorbene? Und fuͤhren im Kleinen die Natur von Miſchungsart und Einwirkungsart mit ſich, wie Vater und Mutter im Großen haben? — Da Vater und Mutter alle Nahrung, die ſie be- kommen, ſich veraͤhnlichen, und ihre Saamenfeuchtigkeiten ein konzentrirter geiſtvoller Auszug vom Ueberfluß aller ihrer Saͤfte und Kraͤfte ſind, wie man nach allſeitigen tiefen Beobachtungen wohl annehmen kann, warum ſollen ſie nun nicht auch natuͤrlich kraftvoll am Keime ſo viel moͤglich zur
Veraͤhn-
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Aehnlichkeit der Aeltern und Kinder.
„Nehmen wir, faͤhrt unſer Philoſoph fort, nicht das fuͤr Urſache an, was ſie nicht eigent-
„lich iſt? Der Vater hat einen Buckel, das Kind auch, ſogleich ſchließt man, das Kind habe ſei-
„nen Buckel von ſeinem Vater. Das kann wahr ſeyn, aber auch falſch. Der Buckel des einen
„und des andern koͤnnen von ſehr verſchiedenen Urſachen entſpringen, und dieſe Urſachen koͤnnen ſich
„tauſendfach aͤndern.
„Die Erbkrankheiten zu erklaͤren giebt weniger Schwierigkeit. Man begreift leicht, daß
„verdorbene Saͤfte in dem Beſchaffenheitszuſtande des Keims Veraͤnderungen von Gewicht bringen
„muͤſſen. Und wenn die gleichen Theile des Leibes, die im Vater oder in der Mutter mit Gebre-
„chen behaftet ſind, es auch im Kinde ſo ſind, ſo koͤmmt das von der Gleichfoͤrmigkeit dieſer Theile,
„die ſie den gleichen Beſchwerden unterwuͤrfig macht. Jm uͤbrigen kommen die Ungeſtalten des
„Koͤrpers oͤfters von Erbuͤbeln. Dieß vermindert die vorige Schwierigkeit ſehr. Da die Saͤfte
„von uͤbler Beſchaffenheit ſind, die ſich zu gewiſſen Theilen hinbegeben ſollten, ſo werden auch dieſe
„Theile davon mehr oder weniger uͤbel gebildet, je mehr oder weniger ſie eben ſolcher ſchlimmen Ein-
„druͤcke faͤhig ſind.“
Reflektion.
Bonnet konnte den Grund von Familienaͤhnlichkeiten nach ſeiner Hypotheſe nicht finden.
Allein laßt uns ihm nachgehen, wo er noch was findet im natuͤrlichen Grunde der Erbkrankheiten.
Muͤſſen verdorbene Saͤfte von Vater oder Mutter den Keim ſehr alteriren, und in eben denſelben Thei-
len, wo Vater oder Mutter affizirt iſt, wichtige aͤhnliche Veraͤnderung zu mehr oder weniger uͤbler
Bildung, nach Faͤhigkeit des Keims, der mehr oder weniger in ſeinen Umſtaͤnden zu widerſtehen ver-
mag, hervorbringen: Warum ſollen hingegen geſunde Saͤfte der Aeltern den Keim bloß ſo laſſen,
wie er an ſich ſelber iſt? Und muͤſſen ihn doch ſo wohl durchdringen und entwickeln helfen, als
verdorbene? Und fuͤhren im Kleinen die Natur von Miſchungsart und Einwirkungsart mit ſich,
wie Vater und Mutter im Großen haben? — Da Vater und Mutter alle Nahrung, die ſie be-
kommen, ſich veraͤhnlichen, und ihre Saamenfeuchtigkeiten ein konzentrirter geiſtvoller Auszug vom
Ueberfluß aller ihrer Saͤfte und Kraͤfte ſind, wie man nach allſeitigen tiefen Beobachtungen wohl
annehmen kann, warum ſollen ſie nun nicht auch natuͤrlich kraftvoll am Keime ſo viel moͤglich zur
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/393>, abgerufen am 22.11.2024.
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