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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Beschluß über Nationalphysiognomien.
Beschluß über Nationalphysiognomien.

Möglich und wichtig für den Philosophen, und den Menschen, den Denker und Wirker
ist die Naturgeschichte der Nationalgesichter. Sie ist einer der tiefsten, unerschütterlichsten, ewig-
sten Gründe der Physiognomik. Jch wiederhole, Nationalphysiognomien und Nationalcharakter
läugnen, heißt die Sonne am Himmel läugnen. Allenthalben, das weiß ich, kann Redlichkeit und
Weisheit wohnen -- unter jedem Himmelsstriche, in jeder Nationalgestalt -- auch das weiß ich,
daß Gott die Person und das Klima nicht ansieht, sondern aus allem Volke und in jedem Klima,
wer ihn ehrt und rechtschaffen ist, der ist ihm angenehm. Und Beyspiele genug beweisen Juve-
nals
Ausspruch:

Summos posse viros et magna exempla daturos
Vervecum in patria, crassoque sub aere nasci.

Alles dessen ungeachtet bleibt's dennoch augenscheinlichste Wahrheit, daß Gottes allerfreyste
Freyheit unter jedem Himmelsstriche, durch die daselbst vorhandenen und wirkenden, so und so be-
stimmten Mittelursachen, überhaupt solche Charakter bildet, die von andern Charaktern unter an-
dern Himmelsstrichen unvermischbar verschieden sind; und daß es ihm und allen vernünftigen Wesen
ein äußerst interessantes Schauspiel seyn muß, dieß tausendstimmige Conzert aller Nationalphysiog-
nomien mit Einem Blicke wahrzunehmen. Diese unendliche, und dennoch unzweifelhaft in Eins
zusammende Mannichfaltigkeit wird und muß ewig fortdauren; wie immer alles sich veredeln,
verwandeln und vergöttlichen mag -- Jedes wird sich nur nach seiner ursprünglichen Natur und
Bildsamkeit veredeln; nie eine Gattung in die andre, so wenig ein Jndividuum ins andre verwan-
deln. Wie's also für den einzelnen Menschen Gnade und Pfand ewiger Gnade ist, wenn er eine
geistreichere, glücklichere Physiognomie empfangen hat -- so ist's freye Gottesgnade für ganze
Nationen, wenn sie unter glücklichem Himmelsstriche ihr Daseyn und ihre Bildung empfangen ha-
ben. Gnade, die sich in ihnen ewige Anbetungen zubereitet. -- Die tiefsten Produkte der Mensch-
heit dürfen indessen auch nie verzagen -- Sie sind auch Kinder des Vaters aller -- und auch ihr
Bruder ist der Erstgeborne aller Brüder -- der sich aus allen Geschlechtern, Zungen und Völ-
kern Genossen seines Reichs sammelt und sammeln wird.

Neuntes
S s 3
Beſchluß uͤber Nationalphyſiognomien.
Beſchluß uͤber Nationalphyſiognomien.

Moͤglich und wichtig fuͤr den Philoſophen, und den Menſchen, den Denker und Wirker
iſt die Naturgeſchichte der Nationalgeſichter. Sie iſt einer der tiefſten, unerſchuͤtterlichſten, ewig-
ſten Gruͤnde der Phyſiognomik. Jch wiederhole, Nationalphyſiognomien und Nationalcharakter
laͤugnen, heißt die Sonne am Himmel laͤugnen. Allenthalben, das weiß ich, kann Redlichkeit und
Weisheit wohnen — unter jedem Himmelsſtriche, in jeder Nationalgeſtalt — auch das weiß ich,
daß Gott die Perſon und das Klima nicht anſieht, ſondern aus allem Volke und in jedem Klima,
wer ihn ehrt und rechtſchaffen iſt, der iſt ihm angenehm. Und Beyſpiele genug beweiſen Juve-
nals
Ausſpruch:

Summos poſſe viros et magna exempla daturos
Vervecum in patria, craſſoque ſub aere naſci.

Alles deſſen ungeachtet bleibt’s dennoch augenſcheinlichſte Wahrheit, daß Gottes allerfreyſte
Freyheit unter jedem Himmelsſtriche, durch die daſelbſt vorhandenen und wirkenden, ſo und ſo be-
ſtimmten Mittelurſachen, uͤberhaupt ſolche Charakter bildet, die von andern Charaktern unter an-
dern Himmelsſtrichen unvermiſchbar verſchieden ſind; und daß es ihm und allen vernuͤnftigen Weſen
ein aͤußerſt intereſſantes Schauſpiel ſeyn muß, dieß tauſendſtimmige Conzert aller Nationalphyſiog-
nomien mit Einem Blicke wahrzunehmen. Dieſe unendliche, und dennoch unzweifelhaft in Eins
zuſammende Mannichfaltigkeit wird und muß ewig fortdauren; wie immer alles ſich veredeln,
verwandeln und vergoͤttlichen mag — Jedes wird ſich nur nach ſeiner urſpruͤnglichen Natur und
Bildſamkeit veredeln; nie eine Gattung in die andre, ſo wenig ein Jndividuum ins andre verwan-
deln. Wie’s alſo fuͤr den einzelnen Menſchen Gnade und Pfand ewiger Gnade iſt, wenn er eine
geiſtreichere, gluͤcklichere Phyſiognomie empfangen hat — ſo iſt’s freye Gottesgnade fuͤr ganze
Nationen, wenn ſie unter gluͤcklichem Himmelsſtriche ihr Daſeyn und ihre Bildung empfangen ha-
ben. Gnade, die ſich in ihnen ewige Anbetungen zubereitet. — Die tiefſten Produkte der Menſch-
heit duͤrfen indeſſen auch nie verzagen — Sie ſind auch Kinder des Vaters aller — und auch ihr
Bruder iſt der Erſtgeborne aller Bruͤder — der ſich aus allen Geſchlechtern, Zungen und Voͤl-
kern Genoſſen ſeines Reichs ſammelt und ſammeln wird.

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[325/0385] Beſchluß uͤber Nationalphyſiognomien. Beſchluß uͤber Nationalphyſiognomien. Moͤglich und wichtig fuͤr den Philoſophen, und den Menſchen, den Denker und Wirker iſt die Naturgeſchichte der Nationalgeſichter. Sie iſt einer der tiefſten, unerſchuͤtterlichſten, ewig- ſten Gruͤnde der Phyſiognomik. Jch wiederhole, Nationalphyſiognomien und Nationalcharakter laͤugnen, heißt die Sonne am Himmel laͤugnen. Allenthalben, das weiß ich, kann Redlichkeit und Weisheit wohnen — unter jedem Himmelsſtriche, in jeder Nationalgeſtalt — auch das weiß ich, daß Gott die Perſon und das Klima nicht anſieht, ſondern aus allem Volke und in jedem Klima, wer ihn ehrt und rechtſchaffen iſt, der iſt ihm angenehm. Und Beyſpiele genug beweiſen Juve- nals Ausſpruch: Summos poſſe viros et magna exempla daturos Vervecum in patria, craſſoque ſub aere naſci. Alles deſſen ungeachtet bleibt’s dennoch augenſcheinlichſte Wahrheit, daß Gottes allerfreyſte Freyheit unter jedem Himmelsſtriche, durch die daſelbſt vorhandenen und wirkenden, ſo und ſo be- ſtimmten Mittelurſachen, uͤberhaupt ſolche Charakter bildet, die von andern Charaktern unter an- dern Himmelsſtrichen unvermiſchbar verſchieden ſind; und daß es ihm und allen vernuͤnftigen Weſen ein aͤußerſt intereſſantes Schauſpiel ſeyn muß, dieß tauſendſtimmige Conzert aller Nationalphyſiog- nomien mit Einem Blicke wahrzunehmen. Dieſe unendliche, und dennoch unzweifelhaft in Eins zuſammende Mannichfaltigkeit wird und muß ewig fortdauren; wie immer alles ſich veredeln, verwandeln und vergoͤttlichen mag — Jedes wird ſich nur nach ſeiner urſpruͤnglichen Natur und Bildſamkeit veredeln; nie eine Gattung in die andre, ſo wenig ein Jndividuum ins andre verwan- deln. Wie’s alſo fuͤr den einzelnen Menſchen Gnade und Pfand ewiger Gnade iſt, wenn er eine geiſtreichere, gluͤcklichere Phyſiognomie empfangen hat — ſo iſt’s freye Gottesgnade fuͤr ganze Nationen, wenn ſie unter gluͤcklichem Himmelsſtriche ihr Daſeyn und ihre Bildung empfangen ha- ben. Gnade, die ſich in ihnen ewige Anbetungen zubereitet. — Die tiefſten Produkte der Menſch- heit duͤrfen indeſſen auch nie verzagen — Sie ſind auch Kinder des Vaters aller — und auch ihr Bruder iſt der Erſtgeborne aller Bruͤder — der ſich aus allen Geſchlechtern, Zungen und Voͤl- kern Genoſſen ſeines Reichs ſammelt und ſammeln wird. Neuntes S s 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/385>, abgerufen am 25.11.2024.