Daß es Nationalphysiognomien wie Nationalcharakter gebe, ist schlechterdings unläugbar. Wer dran zweifelt, muß nie Menschen von verschiedenen Nationen gesehen, nie die äußersten Enden zwoer Nationen neben einander gedacht haben. Man denke sich nur neben einander einen Mohren und einen Engländer; einen Lappen und einen Jtaliäner; einen Franzosen und einen Fue- goeser -- und vergleiche ihre Gestalten und Gesichtsbildungen und ihre Geistes- und Gemüths- charakter. Es ist nichts leichter, als diese erstaunliche Verschiedenheit überhaupt zu erkennen; aber es ist bisweilen sehr schwer, sie wissenschaftlich zu bestimmen.
Da ich sehr wenig Nationalkenntnisse habe und haben kann, so wird man nicht von mir er- warten, daß ich in diesem Fache vieles zu leisten im Stande sey. Größtentheils also werde ich andre, statt meiner müssen reden lassen, und kaum ein Schärfchen eigner Beobachtungen beyzuwerfen ver- mögend seyn.
Jch werde nicht wiederholen, was schon hin und wieder in diesen Fragmenten über diesen Punkt gesagt worden; nicht zu sagen nöthig haben: daß alles, was gesagt ist, und hier noch gesagt werden kann, in keine Vergleichung mit dem kömmt, was über diese äußerst wichtige Sache gesagt werden könnte. Genug, wenn dieß ganz unbeträchtliche Fragment dazu dient -- die Wichtigkeit einer tiefern Untersuchung, und genauern Bestimmung dieser Sache fühlbar zu machen! Genug, wenn man empfindet, daß sie ein eignes ausführliches Werk verdiente, das der ausdrücklichsten und überlegtesten Veranstaltung einer Akademie und der unmittelbarsten Unterstützung einer fürstlichen Casse würdig wäre. Bestimmen können, welches Grades und welcher Art von Cultur jede Nation überhaupt fähig ist -- wie auf jede gewirkt werden kann und soll, wenn sie diesen ihr erreichbaren Grad von Cultur erreichen soll, ist doch wohl eine Untersuchung -- deren bloße Möglichkeit der menschlichen Natur Ehre; -- deren Wirklichkeit ihr unbeschreiblichen Nutzen bringen müßte.
Man lernt vielleicht das Nationale eines Gesichtes leichter erkennen, wenn man allererst nicht die gesammten Nationen sieht, nicht zu ihnen geht; wenn uns die Nation erst nur in einzelnen
Personen
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Erſtes Fragment. Eigne Bemerkungen.
Daß es Nationalphyſiognomien wie Nationalcharakter gebe, iſt ſchlechterdings unlaͤugbar. Wer dran zweifelt, muß nie Menſchen von verſchiedenen Nationen geſehen, nie die aͤußerſten Enden zwoer Nationen neben einander gedacht haben. Man denke ſich nur neben einander einen Mohren und einen Englaͤnder; einen Lappen und einen Jtaliaͤner; einen Franzoſen und einen Fue- goeſer — und vergleiche ihre Geſtalten und Geſichtsbildungen und ihre Geiſtes- und Gemuͤths- charakter. Es iſt nichts leichter, als dieſe erſtaunliche Verſchiedenheit uͤberhaupt zu erkennen; aber es iſt bisweilen ſehr ſchwer, ſie wiſſenſchaftlich zu beſtimmen.
Da ich ſehr wenig Nationalkenntniſſe habe und haben kann, ſo wird man nicht von mir er- warten, daß ich in dieſem Fache vieles zu leiſten im Stande ſey. Groͤßtentheils alſo werde ich andre, ſtatt meiner muͤſſen reden laſſen, und kaum ein Schaͤrfchen eigner Beobachtungen beyzuwerfen ver- moͤgend ſeyn.
Jch werde nicht wiederholen, was ſchon hin und wieder in dieſen Fragmenten uͤber dieſen Punkt geſagt worden; nicht zu ſagen noͤthig haben: daß alles, was geſagt iſt, und hier noch geſagt werden kann, in keine Vergleichung mit dem koͤmmt, was uͤber dieſe aͤußerſt wichtige Sache geſagt werden koͤnnte. Genug, wenn dieß ganz unbetraͤchtliche Fragment dazu dient — die Wichtigkeit einer tiefern Unterſuchung, und genauern Beſtimmung dieſer Sache fuͤhlbar zu machen! Genug, wenn man empfindet, daß ſie ein eignes ausfuͤhrliches Werk verdiente, das der ausdruͤcklichſten und uͤberlegteſten Veranſtaltung einer Akademie und der unmittelbarſten Unterſtuͤtzung einer fuͤrſtlichen Caſſe wuͤrdig waͤre. Beſtimmen koͤnnen, welches Grades und welcher Art von Cultur jede Nation uͤberhaupt faͤhig iſt — wie auf jede gewirkt werden kann und ſoll, wenn ſie dieſen ihr erreichbaren Grad von Cultur erreichen ſoll, iſt doch wohl eine Unterſuchung — deren bloße Moͤglichkeit der menſchlichen Natur Ehre; — deren Wirklichkeit ihr unbeſchreiblichen Nutzen bringen muͤßte.
Man lernt vielleicht das Nationale eines Geſichtes leichter erkennen, wenn man allererſt nicht die geſammten Nationen ſieht, nicht zu ihnen geht; wenn uns die Nation erſt nur in einzelnen
Perſonen
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Erſtes Fragment.
Eigne Bemerkungen.
Daß es Nationalphyſiognomien wie Nationalcharakter gebe, iſt ſchlechterdings unlaͤugbar. Wer
dran zweifelt, muß nie Menſchen von verſchiedenen Nationen geſehen, nie die aͤußerſten Enden
zwoer Nationen neben einander gedacht haben. Man denke ſich nur neben einander einen Mohren
und einen Englaͤnder; einen Lappen und einen Jtaliaͤner; einen Franzoſen und einen Fue-
goeſer — und vergleiche ihre Geſtalten und Geſichtsbildungen und ihre Geiſtes- und Gemuͤths-
charakter. Es iſt nichts leichter, als dieſe erſtaunliche Verſchiedenheit uͤberhaupt zu erkennen; aber
es iſt bisweilen ſehr ſchwer, ſie wiſſenſchaftlich zu beſtimmen.
Da ich ſehr wenig Nationalkenntniſſe habe und haben kann, ſo wird man nicht von mir er-
warten, daß ich in dieſem Fache vieles zu leiſten im Stande ſey. Groͤßtentheils alſo werde ich andre,
ſtatt meiner muͤſſen reden laſſen, und kaum ein Schaͤrfchen eigner Beobachtungen beyzuwerfen ver-
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Jch werde nicht wiederholen, was ſchon hin und wieder in dieſen Fragmenten uͤber dieſen
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werden kann, in keine Vergleichung mit dem koͤmmt, was uͤber dieſe aͤußerſt wichtige Sache geſagt
werden koͤnnte. Genug, wenn dieß ganz unbetraͤchtliche Fragment dazu dient — die Wichtigkeit
einer tiefern Unterſuchung, und genauern Beſtimmung dieſer Sache fuͤhlbar zu machen! Genug,
wenn man empfindet, daß ſie ein eignes ausfuͤhrliches Werk verdiente, das der ausdruͤcklichſten und
uͤberlegteſten Veranſtaltung einer Akademie und der unmittelbarſten Unterſtuͤtzung einer fuͤrſtlichen
Caſſe wuͤrdig waͤre. Beſtimmen koͤnnen, welches Grades und welcher Art von Cultur jede Nation
uͤberhaupt faͤhig iſt — wie auf jede gewirkt werden kann und ſoll, wenn ſie dieſen ihr erreichbaren
Grad von Cultur erreichen ſoll, iſt doch wohl eine Unterſuchung — deren bloße Moͤglichkeit der
menſchlichen Natur Ehre; — deren Wirklichkeit ihr unbeſchreiblichen Nutzen bringen muͤßte.
Man lernt vielleicht das Nationale eines Geſichtes leichter erkennen, wenn man allererſt
nicht die geſammten Nationen ſieht, nicht zu ihnen geht; wenn uns die Nation erſt nur in einzelnen
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/307>, abgerufen am 23.11.2024.
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