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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. I. Fragment.
"per jammert? -- Könnt' es also nicht auch Gottes Wohlgefallen seyn, daß der Tugendhafte ein
"Gesicht hätte, wie Holbeins schmieriger Betteljude -- oder ein Gesicht, wie Sie, statt dessen,
"ihm geben?" -- Hieße das würdig, weise, männlich -- räsonnirt? welch ungeheurer Unterschied
zwischen leidender und zwischen häßlicher Tugend? und weil es eine leidende giebt; eine häßli-
che
zugeben? ist das Logik? gehört Leiden nicht wesentlich zur Tugend? Fragen: warum
der Tugendhafte leiden müsse?
-- heißt fragen -- warum will Gott Tugendhafte? --
Jsts also eine ähnliche Jncongruenz, "daß der Tugendhafte leide -- und daß der Tugendhafte wie
"ein Schurk aussehe." Tugend ohne Widerstand, ohne Aufopferung, Selbstverläug-
nung, mithin ohne Leiden, ist keine Tugend.
Also ists, genau erwogen, thöricht zu fra-
gen -- "warum muß der Tugendhafte leiden?" -- Das liegt in der Natur der Dinge --
aber nicht in der Natur der Dinge, nicht im Verhältniß von Ursach und Wirkung liegt's -- daß
ein Tugendhafter wie ein Schurke, und ein Weiser wie ein Thor aussehe. Und wie, mein Lieber,
konnten Sie dann vergessen, was Sie hinten nach so schön, so menschlich sagen -- "Es ist kein
"daurender Reiz ohne Tugend möglich, und die auffallendste Häßlichkeit vermag sich Reize durch
"sie zu geben, die irgend jemand unwiderstehlich sind -- Dem Verfasser (Seite 25.) sind Beyspiele
"von Frauenzimmern bekannt, die auch die Häßlichsten mit Muth erfüllen würden." --

Nicht von Kränkeley eines Tugendhaften ist die Rede -- so wenig, wie davon -- ob
nicht ein Genie ein Narr werden könne? Sondern davon ist die Rede -- ob der Tugendhafte,
als solcher, wie der Lasterhafte, als solcher, der Thor, als solcher, wie der Weise, der weise ist --
aussehen könne? Wer? Sie gewiß nicht, feiner, tiefer Menschenforscher -- Niemand weniger,
als Sie -- wird jemals zugeben, jemals den Gedanken erträglich finden -- "Jn diesem schmieri-
"gen, häßlichen Betteljuden Holbeins -- in dieser seiner Stirn u. s. f. hätte (ohne Wunder) eine
"Johannesseele -- oder wohl gar der Weltheiland wohnen und frey darinn, wie in jedem an-
"dern Körper, wirken können." -- Und würden Sie sich weiter mit dem in philosophische Unter-
suchungen einlassen -- der, nach dieser gegebenen unsinnigen Behauptung, mit der frömmelnden
Antwort Sie abfertigen wollte -- "Bist du, Elender, denn Richter von Gottes Werken?" --

Und nun, bedarf es auch noch weiter Einer Sylbe -- gewiß nicht! -- "Doch --
"wo blieben die Erfahrungen? die Thatsachen?" -- Nun, wenn Sie an Judas

nicht

I. Abſchnitt. I. Fragment.
„per jammert? — Koͤnnt’ es alſo nicht auch Gottes Wohlgefallen ſeyn, daß der Tugendhafte ein
„Geſicht haͤtte, wie Holbeins ſchmieriger Betteljude — oder ein Geſicht, wie Sie, ſtatt deſſen,
„ihm geben?“ — Hieße das wuͤrdig, weiſe, maͤnnlich — raͤſonnirt? welch ungeheurer Unterſchied
zwiſchen leidender und zwiſchen haͤßlicher Tugend? und weil es eine leidende giebt; eine haͤßli-
che
zugeben? iſt das Logik? gehoͤrt Leiden nicht weſentlich zur Tugend? Fragen: warum
der Tugendhafte leiden muͤſſe?
— heißt fragen — warum will Gott Tugendhafte?
Jſts alſo eine aͤhnliche Jncongruenz, „daß der Tugendhafte leide — und daß der Tugendhafte wie
„ein Schurk ausſehe.“ Tugend ohne Widerſtand, ohne Aufopferung, Selbſtverlaͤug-
nung, mithin ohne Leiden, iſt keine Tugend.
Alſo iſts, genau erwogen, thoͤricht zu fra-
gen — „warum muß der Tugendhafte leiden?“ — Das liegt in der Natur der Dinge
aber nicht in der Natur der Dinge, nicht im Verhaͤltniß von Urſach und Wirkung liegt’s — daß
ein Tugendhafter wie ein Schurke, und ein Weiſer wie ein Thor ausſehe. Und wie, mein Lieber,
konnten Sie dann vergeſſen, was Sie hinten nach ſo ſchoͤn, ſo menſchlich ſagen — „Es iſt kein
„daurender Reiz ohne Tugend moͤglich, und die auffallendſte Haͤßlichkeit vermag ſich Reize durch
„ſie zu geben, die irgend jemand unwiderſtehlich ſind — Dem Verfaſſer (Seite 25.) ſind Beyſpiele
„von Frauenzimmern bekannt, die auch die Haͤßlichſten mit Muth erfuͤllen wuͤrden.“ —

Nicht von Kraͤnkeley eines Tugendhaften iſt die Rede — ſo wenig, wie davon — ob
nicht ein Genie ein Narr werden koͤnne? Sondern davon iſt die Rede — ob der Tugendhafte,
als ſolcher, wie der Laſterhafte, als ſolcher, der Thor, als ſolcher, wie der Weiſe, der weiſe iſt —
ausſehen koͤnne? Wer? Sie gewiß nicht, feiner, tiefer Menſchenforſcher — Niemand weniger,
als Sie — wird jemals zugeben, jemals den Gedanken ertraͤglich finden — „Jn dieſem ſchmieri-
„gen, haͤßlichen Betteljuden Holbeins — in dieſer ſeiner Stirn u. ſ. f. haͤtte (ohne Wunder) eine
Johannesſeele — oder wohl gar der Weltheiland wohnen und frey darinn, wie in jedem an-
„dern Koͤrper, wirken koͤnnen.“ — Und wuͤrden Sie ſich weiter mit dem in philoſophiſche Unter-
ſuchungen einlaſſen — der, nach dieſer gegebenen unſinnigen Behauptung, mit der froͤmmelnden
Antwort Sie abfertigen wollte — „Biſt du, Elender, denn Richter von Gottes Werken?“ —

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/26>, abgerufen am 22.11.2024.