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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Vermischte Stellen.
beym zweyten Anblick ist es wenig mehr, als Spiel der Jmagination. Das Ganze hat er schon; und weil die
Seele nicht mehr erschüttert, nicht mehr entzückt noch gequält wird, so hält er sich ruhig an die Theile, und läßt
sie die Musterung passiren. Der erste Eindruck giebt mir eigentlich das, was die Natur dem Menschen auf-
geprägt hat, und das doch eigentlich allen seinen Handlungen, Sentiments etc. Farbe, Gestalt und Umriß giebt.
Denn Tugend, was ist sie, als Ausbildung dieser individuellen Bestimmung? Jch sehe nicht beym ersten An-
blicke, wie gut oder böse der Mensch sey, sondern was für Organe und Jnstrumente ihm die Natur gegeben
habe es zu seyn; nicht, wie er in allen einzelnen Fällen, sondern wie er in den meisten Fällen handeln werde?
Sollte ich mich auch an dem Faunsgesichte eines Sokrates einmal irren, so wird mich sein aufrichtiges Geständ-
niß von Bekämpfung des natürlichen Menschen in meiner physiognomischen Wahrnehmungsgabe stärken. Also
wir sehen nur einmal; und, wer dieß nicht glauben will, kann es nur bey allen Gegenständen versuchen, ob er
zum zweytenmal sehen kann? Ob ihm das Bildniß in seiner ganzen Fülle, Neuheit, und dunkelm, implizirtem
Genuß noch einmal vor die Seele komme? Oder ob nur die zweyten und dritten Eindrücke nicht wahre Gespen-
stererscheinungen sind, mit denen die Einbildungskraft machen kann, was sie will. -- -- Sie sind nicht mehr
Erscheinungen! -- Vielleicht erscheint aber -- in andern Lagen, in einem andern Medium --
etwas neues an dem Alten; und dieß ist dann wieder erster Eindruck.

Roußeau hat Recht, wenn er von D. sagt: Der Mann gefällt mir nicht, und er hat mir doch
nichts zu Leide gethan, aber ich muß mit ihm brechen, eh es dazu kömmt.

20.

Die Physiognomik ist dem Menschen so nöthig, (und so natürlich) wie Sprachfähigkeit.



Achtes
B b 3

Vermiſchte Stellen.
beym zweyten Anblick iſt es wenig mehr, als Spiel der Jmagination. Das Ganze hat er ſchon; und weil die
Seele nicht mehr erſchuͤttert, nicht mehr entzuͤckt noch gequaͤlt wird, ſo haͤlt er ſich ruhig an die Theile, und laͤßt
ſie die Muſterung paſſiren. Der erſte Eindruck giebt mir eigentlich das, was die Natur dem Menſchen auf-
gepraͤgt hat, und das doch eigentlich allen ſeinen Handlungen, Sentiments ꝛc. Farbe, Geſtalt und Umriß giebt.
Denn Tugend, was iſt ſie, als Ausbildung dieſer individuellen Beſtimmung? Jch ſehe nicht beym erſten An-
blicke, wie gut oder boͤſe der Menſch ſey, ſondern was fuͤr Organe und Jnſtrumente ihm die Natur gegeben
habe es zu ſeyn; nicht, wie er in allen einzelnen Faͤllen, ſondern wie er in den meiſten Faͤllen handeln werde?
Sollte ich mich auch an dem Faunsgeſichte eines Sokrates einmal irren, ſo wird mich ſein aufrichtiges Geſtaͤnd-
niß von Bekaͤmpfung des natuͤrlichen Menſchen in meiner phyſiognomiſchen Wahrnehmungsgabe ſtaͤrken. Alſo
wir ſehen nur einmal; und, wer dieß nicht glauben will, kann es nur bey allen Gegenſtaͤnden verſuchen, ob er
zum zweytenmal ſehen kann? Ob ihm das Bildniß in ſeiner ganzen Fuͤlle, Neuheit, und dunkelm, implizirtem
Genuß noch einmal vor die Seele komme? Oder ob nur die zweyten und dritten Eindruͤcke nicht wahre Geſpen-
ſtererſcheinungen ſind, mit denen die Einbildungskraft machen kann, was ſie will. — — Sie ſind nicht mehr
Erſcheinungen! — Vielleicht erſcheint aber — in andern Lagen, in einem andern Medium —
etwas neues an dem Alten; und dieß iſt dann wieder erſter Eindruck.

Roußeau hat Recht, wenn er von D. ſagt: Der Mann gefaͤllt mir nicht, und er hat mir doch
nichts zu Leide gethan, aber ich muß mit ihm brechen, eh es dazu koͤmmt.

20.

Die Phyſiognomik iſt dem Menſchen ſo noͤthig, (und ſo natuͤrlich) wie Sprachfaͤhigkeit.



Achtes
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[197/0227] Vermiſchte Stellen. beym zweyten Anblick iſt es wenig mehr, als Spiel der Jmagination. Das Ganze hat er ſchon; und weil die Seele nicht mehr erſchuͤttert, nicht mehr entzuͤckt noch gequaͤlt wird, ſo haͤlt er ſich ruhig an die Theile, und laͤßt ſie die Muſterung paſſiren. Der erſte Eindruck giebt mir eigentlich das, was die Natur dem Menſchen auf- gepraͤgt hat, und das doch eigentlich allen ſeinen Handlungen, Sentiments ꝛc. Farbe, Geſtalt und Umriß giebt. Denn Tugend, was iſt ſie, als Ausbildung dieſer individuellen Beſtimmung? Jch ſehe nicht beym erſten An- blicke, wie gut oder boͤſe der Menſch ſey, ſondern was fuͤr Organe und Jnſtrumente ihm die Natur gegeben habe es zu ſeyn; nicht, wie er in allen einzelnen Faͤllen, ſondern wie er in den meiſten Faͤllen handeln werde? Sollte ich mich auch an dem Faunsgeſichte eines Sokrates einmal irren, ſo wird mich ſein aufrichtiges Geſtaͤnd- niß von Bekaͤmpfung des natuͤrlichen Menſchen in meiner phyſiognomiſchen Wahrnehmungsgabe ſtaͤrken. Alſo wir ſehen nur einmal; und, wer dieß nicht glauben will, kann es nur bey allen Gegenſtaͤnden verſuchen, ob er zum zweytenmal ſehen kann? Ob ihm das Bildniß in ſeiner ganzen Fuͤlle, Neuheit, und dunkelm, implizirtem Genuß noch einmal vor die Seele komme? Oder ob nur die zweyten und dritten Eindruͤcke nicht wahre Geſpen- ſtererſcheinungen ſind, mit denen die Einbildungskraft machen kann, was ſie will. — — Sie ſind nicht mehr Erſcheinungen! — Vielleicht erſcheint aber — in andern Lagen, in einem andern Medium — etwas neues an dem Alten; und dieß iſt dann wieder erſter Eindruck. Roußeau hat Recht, wenn er von D. ſagt: Der Mann gefaͤllt mir nicht, und er hat mir doch nichts zu Leide gethan, aber ich muß mit ihm brechen, eh es dazu koͤmmt. 20. Die Phyſiognomik iſt dem Menſchen ſo noͤthig, (und ſo natuͤrlich) wie Sprachfaͤhigkeit. Achtes B b 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/227>, abgerufen am 24.11.2024.