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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Erstes Fragment.
I. Stellen aus Winkelmanns Schriften.
*)
Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Mahlerey
und Bildhauerkunst.
1.

Die innere Empfindung bildet den Charakter der Wahrheit, und der Zeichner, welcher seinen Akademien densel-
ben geben will, wird nicht einen Schatten des Wahren, ohne eigne Ersetzung desjenigen erhalten, was eine unge-

rührte
*) [Spaltenumbruch] Es ist an einem andern Orte schon gesagt, und
ohne mein Sagen weiß es alle Leserwelt: Winkelmanns
Schriften sind für den Physiognomisten eine Fundgru-
be wenigstens von charakteristischen Ausdrücken -- und
freylich von noch unendlich viel mehr. Jhm scheint al-
lemal der schicklichste Ausdruck zu Gebote zu stehen. --
Durchaus ist wohl keine Kunstsprache zugleich so wahr,
so bestimmt, so kühn, so natürlich, und so schön! --
Jch kann mich nicht enthalten, für Physiognomisten und
Zeichner, Empfinder und Empfindler, Schöngeister und
Geschmäckler hier ein kleines Heer seiner unnachahmlich
zeichnenden Ausdrücke zum Nachfühlen -- nicht zum
Nachäffen
-- herzustellen. -- Sie scheinen recht ei-
gentlich für den Physiognomisten gemacht zu seyn.
"Langes Oval des Gesichtes. Ein sanftes, sehr
"gesenktes Profil; kleinliches Kinn; senkrechte, ab-
"gestutzte Haare. Aufwärts gezogene Winkel des
"Mundes.

"Bedeutend, aber hart. Mit nachdrücklicher
"Zärtlichkeit ausgeführt. Mit großem Verständ-
"niß und Feinheit ausgearbeitet. Peinlich und ver-
"zagt gearbeitet. Aufs feinste vollendet. Strenge
"Richtigkeit, hoher Ausdruck. Scharf gezogene Au-
[Spaltenumbruch] "genbraunen. Zierliche Wölbung des Kinnes. Run-
"dung und Lindigkeit. Steife und platte Zeichnung;
"nachdrücklich harte; mächtig aber ohne Grazie.
"Der starke Ausdruck vermindert die Schönheit.
"Großheit der Augen. Harmonie und Großheit.
"Trockne und magere, kleinliche Art im Zeichnen und
"Ausführen. Gezierte Zierlichkeit. Erzwungene
"und übel verstandene Grazie. Uebertriebene und
"verdrehte Gelenksamkeit -- Haut, die nicht ange-
"spannt, sondern sanft gezogen ist über ein gesundes
"Fleisch, welches dieselbe ohne schwülstige Ausdeh-
"nung füllet. -- Sanft ablenkende Umrisse. Flüßig
"unterbrochene Theile. Völlig, ohne erfüllt zu seyn;
"Unbezeichnung der Form. Schwebende Züge, die
"nach Art der Wellen sich heben und sinken. Ent-
"scheidende, viel sprechende Züge. Göttliche Ge-
"nügsamkeit; gereinigt von den Schlacken der
"Menschheit; abgewogene oder überflüßige Flei-
"schigkeit; Kräfte, wie verborgene Funken im Kie-
"sel. Viel Göttlichkeit auch in den kleinen Zügen
"seines Gesichtes. Schön von Gestalt und mit Gra-
"zie übergossen. Schwindsüchtige, wassersüchtige
"Figuren -- dünnes, spielenmäßiges Aussehen.

Schiefe
Phys. Fragm. IV Versuch. Y
Erſtes Fragment.
I. Stellen aus Winkelmanns Schriften.
*)
Gedanken uͤber die Nachahmung der griechiſchen Werke in der Mahlerey
und Bildhauerkunſt.
1.

Die innere Empfindung bildet den Charakter der Wahrheit, und der Zeichner, welcher ſeinen Akademien denſel-
ben geben will, wird nicht einen Schatten des Wahren, ohne eigne Erſetzung desjenigen erhalten, was eine unge-

ruͤhrte
*) [Spaltenumbruch] Es iſt an einem andern Orte ſchon geſagt, und
ohne mein Sagen weiß es alle Leſerwelt: Winkelmanns
Schriften ſind fuͤr den Phyſiognomiſten eine Fundgru-
be wenigſtens von charakteriſtiſchen Ausdruͤcken — und
freylich von noch unendlich viel mehr. Jhm ſcheint al-
lemal der ſchicklichſte Ausdruck zu Gebote zu ſtehen. —
Durchaus iſt wohl keine Kunſtſprache zugleich ſo wahr,
ſo beſtimmt, ſo kuͤhn, ſo natuͤrlich, und ſo ſchoͤn! —
Jch kann mich nicht enthalten, fuͤr Phyſiognomiſten und
Zeichner, Empfinder und Empfindler, Schoͤngeiſter und
Geſchmaͤckler hier ein kleines Heer ſeiner unnachahmlich
zeichnenden Ausdruͤcke zum Nachfuͤhlen — nicht zum
Nachaͤffen
— herzuſtellen. — Sie ſcheinen recht ei-
gentlich fuͤr den Phyſiognomiſten gemacht zu ſeyn.
Langes Oval des Geſichtes. Ein ſanftes, ſehr
„geſenktes Profil; kleinliches Kinn; ſenkrechte, ab-
„geſtutzte Haare. Aufwaͤrts gezogene Winkel des
„Mundes.

Bedeutend, aber hart. Mit nachdruͤcklicher
„Zaͤrtlichkeit ausgefuͤhrt. Mit großem Verſtaͤnd-
„niß und Feinheit ausgearbeitet. Peinlich und ver-
„zagt gearbeitet. Aufs feinſte vollendet. Strenge
„Richtigkeit, hoher Ausdruck. Scharf gezogene Au-
[Spaltenumbruch] „genbraunen. Zierliche Woͤlbung des Kinnes. Run-
„dung und Lindigkeit. Steife und platte Zeichnung;
„nachdruͤcklich harte; maͤchtig aber ohne Grazie.
„Der ſtarke Ausdruck vermindert die Schoͤnheit.
„Großheit der Augen. Harmonie und Großheit.
„Trockne und magere, kleinliche Art im Zeichnen und
„Ausfuͤhren. Gezierte Zierlichkeit. Erzwungene
„und uͤbel verſtandene Grazie. Uebertriebene und
„verdrehte Gelenkſamkeit — Haut, die nicht ange-
„ſpannt, ſondern ſanft gezogen iſt uͤber ein geſundes
„Fleiſch, welches dieſelbe ohne ſchwuͤlſtige Ausdeh-
„nung fuͤllet. — Sanft ablenkende Umriſſe. Fluͤßig
„unterbrochene Theile. Voͤllig, ohne erfuͤllt zu ſeyn;
„Unbezeichnung der Form. Schwebende Zuͤge, die
„nach Art der Wellen ſich heben und ſinken. Ent-
„ſcheidende, viel ſprechende Zuͤge. Goͤttliche Ge-
„nuͤgſamkeit; gereinigt von den Schlacken der
„Menſchheit; abgewogene oder uͤberfluͤßige Flei-
„ſchigkeit; Kraͤfte, wie verborgene Funken im Kie-
„ſel. Viel Goͤttlichkeit auch in den kleinen Zuͤgen
„ſeines Geſichtes. Schoͤn von Geſtalt und mit Gra-
„zie uͤbergoſſen. Schwindſuͤchtige, waſſerſuͤchtige
„Figuren — duͤnnes, ſpielenmaͤßiges Ausſehen.

Schiefe
Phyſ. Fragm. IV Verſuch. Y
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[169/0199] Erſtes Fragment. I. Stellen aus Winkelmanns Schriften. *) Gedanken uͤber die Nachahmung der griechiſchen Werke in der Mahlerey und Bildhauerkunſt. 1. Die innere Empfindung bildet den Charakter der Wahrheit, und der Zeichner, welcher ſeinen Akademien denſel- ben geben will, wird nicht einen Schatten des Wahren, ohne eigne Erſetzung desjenigen erhalten, was eine unge- ruͤhrte *) Es iſt an einem andern Orte ſchon geſagt, und ohne mein Sagen weiß es alle Leſerwelt: Winkelmanns Schriften ſind fuͤr den Phyſiognomiſten eine Fundgru- be wenigſtens von charakteriſtiſchen Ausdruͤcken — und freylich von noch unendlich viel mehr. Jhm ſcheint al- lemal der ſchicklichſte Ausdruck zu Gebote zu ſtehen. — Durchaus iſt wohl keine Kunſtſprache zugleich ſo wahr, ſo beſtimmt, ſo kuͤhn, ſo natuͤrlich, und ſo ſchoͤn! — Jch kann mich nicht enthalten, fuͤr Phyſiognomiſten und Zeichner, Empfinder und Empfindler, Schoͤngeiſter und Geſchmaͤckler hier ein kleines Heer ſeiner unnachahmlich zeichnenden Ausdruͤcke zum Nachfuͤhlen — nicht zum Nachaͤffen — herzuſtellen. — Sie ſcheinen recht ei- gentlich fuͤr den Phyſiognomiſten gemacht zu ſeyn. „Langes Oval des Geſichtes. Ein ſanftes, ſehr „geſenktes Profil; kleinliches Kinn; ſenkrechte, ab- „geſtutzte Haare. Aufwaͤrts gezogene Winkel des „Mundes. „Bedeutend, aber hart. Mit nachdruͤcklicher „Zaͤrtlichkeit ausgefuͤhrt. Mit großem Verſtaͤnd- „niß und Feinheit ausgearbeitet. Peinlich und ver- „zagt gearbeitet. Aufs feinſte vollendet. Strenge „Richtigkeit, hoher Ausdruck. Scharf gezogene Au- „genbraunen. Zierliche Woͤlbung des Kinnes. Run- „dung und Lindigkeit. Steife und platte Zeichnung; „nachdruͤcklich harte; maͤchtig aber ohne Grazie. „Der ſtarke Ausdruck vermindert die Schoͤnheit. „Großheit der Augen. Harmonie und Großheit. „Trockne und magere, kleinliche Art im Zeichnen und „Ausfuͤhren. Gezierte Zierlichkeit. Erzwungene „und uͤbel verſtandene Grazie. Uebertriebene und „verdrehte Gelenkſamkeit — Haut, die nicht ange- „ſpannt, ſondern ſanft gezogen iſt uͤber ein geſundes „Fleiſch, welches dieſelbe ohne ſchwuͤlſtige Ausdeh- „nung fuͤllet. — Sanft ablenkende Umriſſe. Fluͤßig „unterbrochene Theile. Voͤllig, ohne erfuͤllt zu ſeyn; „Unbezeichnung der Form. Schwebende Zuͤge, die „nach Art der Wellen ſich heben und ſinken. Ent- „ſcheidende, viel ſprechende Zuͤge. Goͤttliche Ge- „nuͤgſamkeit; gereinigt von den Schlacken der „Menſchheit; abgewogene oder uͤberfluͤßige Flei- „ſchigkeit; Kraͤfte, wie verborgene Funken im Kie- „ſel. Viel Goͤttlichkeit auch in den kleinen Zuͤgen „ſeines Geſichtes. Schoͤn von Geſtalt und mit Gra- „zie uͤbergoſſen. Schwindſuͤchtige, waſſerſuͤchtige „Figuren — duͤnnes, ſpielenmaͤßiges Ausſehen. Schiefe Phyſ. Fragm. IV Verſuch. Y

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/199>, abgerufen am 24.11.2024.