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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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II. Abschnitt. V. Fragment.
entsprechen zu wollen. Man muß haben, ehe man geben kann. -- Drum sage ich jedem Anfänger:
"Uebe dich, und urtheile vor Freunden im Stillen -- aber neugierigen Fräglern, denen nicht um
"Wahrheit, sondern nur um deines Wissens wissen zu thun ist, antworte nicht. Jst dir darum zu
"thun, mit physiognomischen Urtheilen zu prahlen und zu spiegeln -- ist dir die Sache nicht heili-
"ger -- nimmermehr wirst du es in der Erkenntniß der Wahrheit weit bringen -- Suche der
"Wahrheit für dich erst recht gewiß zu werden, und dann entdecke sie einem scharfprüfenden Freun-
"de -- und verwahre sie so lange, bis du ihrer mehrere gefunden hast, die so helle sind wie der
"Tag, und so gewiß wie dein Leben -- weise sie weg die indiskreten Ausförschler, und mache dir
"den auch so mühsamen Weg eigner Untersuchung durch voreilige Urtheile nicht noch schwerer.



Eine Sammlung Gipsabgüsse von Medaillen alter und neuer Köpfe ist dem Physiogno-
misten wohl eines der wichtigsten, der unentbehrlichsten Hülfsmittel; alles Profile, kleine, be-
stimmte Profile, die leicht zu reihen und zu versetzen sind. Sind die Mienen der Köpfe in Medail-
len sehr selten wahr, desto wahrer sind größtentheils die Hauptformen der Profile. Und wenn sie
auch nicht wahr sind, zur Uebung des physiognomischen Sinnes, zur Klassifikation der Gesichter --
sind sie dem Physiognomisten immer wichtig.



Sprache, Sprache -- kannst du nicht genug studieren.

Alle Jrrthümer in der Welt -- alle kommen nur vom Mangel der Sprache, der speziellsten
charakteristischten Zeichen her. Alle Wahrheit, bestimmt genug ausgedrückt, individualisirt genug,
vereinfacht und beleuchtet genug, muß erkannt werden. Man kann jeder Wahrheit, wie seines Da-
seyns, gewiß werden, wenn sie unvermischt, unbenebelt, geläutert genug gesehen oder zu sehen gege-
ben wird -- Also, also -- studiere mit besonderstem Fleiße die Sprache; deine Muttersprache, und
anderer Völker, besonders die französische, die an physiognomischen und charakteristischen Benen-
nungen so reich ist. Bey aller deiner Lektüre, allem deinem Umgange horch und laure auf jedes

speziell

II. Abſchnitt. V. Fragment.
entſprechen zu wollen. Man muß haben, ehe man geben kann. — Drum ſage ich jedem Anfaͤnger:
„Uebe dich, und urtheile vor Freunden im Stillen — aber neugierigen Fraͤglern, denen nicht um
„Wahrheit, ſondern nur um deines Wiſſens wiſſen zu thun iſt, antworte nicht. Jſt dir darum zu
„thun, mit phyſiognomiſchen Urtheilen zu prahlen und zu ſpiegeln — iſt dir die Sache nicht heili-
„ger — nimmermehr wirſt du es in der Erkenntniß der Wahrheit weit bringen — Suche der
„Wahrheit fuͤr dich erſt recht gewiß zu werden, und dann entdecke ſie einem ſcharfpruͤfenden Freun-
„de — und verwahre ſie ſo lange, bis du ihrer mehrere gefunden haſt, die ſo helle ſind wie der
„Tag, und ſo gewiß wie dein Leben — weiſe ſie weg die indiskreten Ausfoͤrſchler, und mache dir
„den auch ſo muͤhſamen Weg eigner Unterſuchung durch voreilige Urtheile nicht noch ſchwerer.



Eine Sammlung Gipsabguͤſſe von Medaillen alter und neuer Koͤpfe iſt dem Phyſiogno-
miſten wohl eines der wichtigſten, der unentbehrlichſten Huͤlfsmittel; alles Profile, kleine, be-
ſtimmte Profile, die leicht zu reihen und zu verſetzen ſind. Sind die Mienen der Koͤpfe in Medail-
len ſehr ſelten wahr, deſto wahrer ſind groͤßtentheils die Hauptformen der Profile. Und wenn ſie
auch nicht wahr ſind, zur Uebung des phyſiognomiſchen Sinnes, zur Klaſſifikation der Geſichter —
ſind ſie dem Phyſiognomiſten immer wichtig.



Sprache, Sprache — kannſt du nicht genug ſtudieren.

Alle Jrrthuͤmer in der Welt — alle kommen nur vom Mangel der Sprache, der ſpeziellſten
charakteriſtiſchten Zeichen her. Alle Wahrheit, beſtimmt genug ausgedruͤckt, individualiſirt genug,
vereinfacht und beleuchtet genug, muß erkannt werden. Man kann jeder Wahrheit, wie ſeines Da-
ſeyns, gewiß werden, wenn ſie unvermiſcht, unbenebelt, gelaͤutert genug geſehen oder zu ſehen gege-
ben wird — Alſo, alſo — ſtudiere mit beſonderſtem Fleiße die Sprache; deine Mutterſprache, und
anderer Voͤlker, beſonders die franzoͤſiſche, die an phyſiognomiſchen und charakteriſtiſchen Benen-
nungen ſo reich iſt. Bey aller deiner Lektuͤre, allem deinem Umgange horch und laure auf jedes

ſpeziell
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[156/0186] II. Abſchnitt. V. Fragment. entſprechen zu wollen. Man muß haben, ehe man geben kann. — Drum ſage ich jedem Anfaͤnger: „Uebe dich, und urtheile vor Freunden im Stillen — aber neugierigen Fraͤglern, denen nicht um „Wahrheit, ſondern nur um deines Wiſſens wiſſen zu thun iſt, antworte nicht. Jſt dir darum zu „thun, mit phyſiognomiſchen Urtheilen zu prahlen und zu ſpiegeln — iſt dir die Sache nicht heili- „ger — nimmermehr wirſt du es in der Erkenntniß der Wahrheit weit bringen — Suche der „Wahrheit fuͤr dich erſt recht gewiß zu werden, und dann entdecke ſie einem ſcharfpruͤfenden Freun- „de — und verwahre ſie ſo lange, bis du ihrer mehrere gefunden haſt, die ſo helle ſind wie der „Tag, und ſo gewiß wie dein Leben — weiſe ſie weg die indiskreten Ausfoͤrſchler, und mache dir „den auch ſo muͤhſamen Weg eigner Unterſuchung durch voreilige Urtheile nicht noch ſchwerer. Eine Sammlung Gipsabguͤſſe von Medaillen alter und neuer Koͤpfe iſt dem Phyſiogno- miſten wohl eines der wichtigſten, der unentbehrlichſten Huͤlfsmittel; alles Profile, kleine, be- ſtimmte Profile, die leicht zu reihen und zu verſetzen ſind. Sind die Mienen der Koͤpfe in Medail- len ſehr ſelten wahr, deſto wahrer ſind groͤßtentheils die Hauptformen der Profile. Und wenn ſie auch nicht wahr ſind, zur Uebung des phyſiognomiſchen Sinnes, zur Klaſſifikation der Geſichter — ſind ſie dem Phyſiognomiſten immer wichtig. Sprache, Sprache — kannſt du nicht genug ſtudieren. Alle Jrrthuͤmer in der Welt — alle kommen nur vom Mangel der Sprache, der ſpeziellſten charakteriſtiſchten Zeichen her. Alle Wahrheit, beſtimmt genug ausgedruͤckt, individualiſirt genug, vereinfacht und beleuchtet genug, muß erkannt werden. Man kann jeder Wahrheit, wie ſeines Da- ſeyns, gewiß werden, wenn ſie unvermiſcht, unbenebelt, gelaͤutert genug geſehen oder zu ſehen gege- ben wird — Alſo, alſo — ſtudiere mit beſonderſtem Fleiße die Sprache; deine Mutterſprache, und anderer Voͤlker, beſonders die franzoͤſiſche, die an phyſiognomiſchen und charakteriſtiſchen Benen- nungen ſo reich iſt. Bey aller deiner Lektuͤre, allem deinem Umgange horch und laure auf jedes ſpeziell

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/186>, abgerufen am 22.11.2024.