wichtigste. Oft ist ein unbeträchtlicher Nebenzug in einem Gesichte Schlüssel zum ganzen Gesichte, und zu den wichtigsten Hauptzügen. Es gilt auch hier -- die feyerliche Bezeugung Paulus -- Es ist an sich selber nichts gemein, als nur dem, der es gemein achtet. Es gilt auch hier: Eher wird Himmel und Erde vergehen, ehe ein Buchstabe oder ein Pünktlein vom Ge- sichte seine bedeutende Kraft verliert. --
Du bist nicht werth; das heißt: du bist nicht fähig, das Menschengesicht zu studieren, wenn du von deiner Beobachtung das mindeste geflissentlich ausschließest.
Doch, thue ich sogleich wieder hinzu -- du hast vielleicht für diesen oder jenen besondern Zug, dieses oder jenes besondere Glied gleichsam einen besondern Sinn. So wie jeden Menschen besondere Talente und Eigenschaften des Menschen besonders affiziren -- so mit den Gesichtszügen. Also ist's natürlich: Prüfe dich genau, wofür du besondern offnen Sinn hast, und das Glied, den Zug, wofür du diesen Sinn hast, studiere du am ersten und meisten, und so, als wenn du nur diesen und keinen andern zu studieren hättest, und als wenn allein in diesem Einen Zuge der ganze Charakter läge. --
Wer Physiognomik studieren will, mache sich ein besonderes Studium aus den Schatten- rissen. Wer diese verachtet, verachtet die Physiognomik. Wer keinen Sinn für diese hat, hat keinen für die menschlichen Gesichter. Sicherlich aber, wer seinen physiognomischen Sinn an der Silhouette übt und befestigt -- der wird in lebendigen menschlichen Gesichtern, wie in einem offnen vor ihm liegenden Buche fertig zu lesen im Stande seyn.
Und wie soll nun der Schüler der Physiognomik mit den Schattenrissen zu Werke gehen? Erst soll er sie aufs genaueste machen lernen -- selber machen. Unter dem Ziehen der Silhouette schärft sich der Beobachtungsgeist ungemein; übt sich, jedes Gesicht in seine Silhouette aufzulösen, mithin seine charakteristische Gränzlinie leicht zu finden. Selber machen soll er seine Silhouetten, und sich üben, den höchsten Punkt von Reinheit und Schärfe mit Sicherheit zu erreichen. Unter unzähligen Silhouetten, die mir durch die Hände gegangen, sind sehr wenige, die ich für physiog- nomisch genau erklären kann. Da alles auf die äußerste Gränze des Schattens ankömmt; und die- ser selten scharf genug aufs Papier fällt, und von einer unzeichnerischen Hand unmöglich rein und
wahr
II. Abſchnitt. V. Fragment.
wichtigſte. Oft iſt ein unbetraͤchtlicher Nebenzug in einem Geſichte Schluͤſſel zum ganzen Geſichte, und zu den wichtigſten Hauptzuͤgen. Es gilt auch hier — die feyerliche Bezeugung Paulus — Es iſt an ſich ſelber nichts gemein, als nur dem, der es gemein achtet. Es gilt auch hier: Eher wird Himmel und Erde vergehen, ehe ein Buchſtabe oder ein Puͤnktlein vom Ge- ſichte ſeine bedeutende Kraft verliert. —
Du biſt nicht werth; das heißt: du biſt nicht faͤhig, das Menſchengeſicht zu ſtudieren, wenn du von deiner Beobachtung das mindeſte gefliſſentlich ausſchließeſt.
Doch, thue ich ſogleich wieder hinzu — du haſt vielleicht fuͤr dieſen oder jenen beſondern Zug, dieſes oder jenes beſondere Glied gleichſam einen beſondern Sinn. So wie jeden Menſchen beſondere Talente und Eigenſchaften des Menſchen beſonders affiziren — ſo mit den Geſichtszuͤgen. Alſo iſt’s natuͤrlich: Pruͤfe dich genau, wofuͤr du beſondern offnen Sinn haſt, und das Glied, den Zug, wofuͤr du dieſen Sinn haſt, ſtudiere du am erſten und meiſten, und ſo, als wenn du nur dieſen und keinen andern zu ſtudieren haͤtteſt, und als wenn allein in dieſem Einen Zuge der ganze Charakter laͤge. —
Wer Phyſiognomik ſtudieren will, mache ſich ein beſonderes Studium aus den Schatten- riſſen. Wer dieſe verachtet, verachtet die Phyſiognomik. Wer keinen Sinn fuͤr dieſe hat, hat keinen fuͤr die menſchlichen Geſichter. Sicherlich aber, wer ſeinen phyſiognomiſchen Sinn an der Silhouette uͤbt und befeſtigt — der wird in lebendigen menſchlichen Geſichtern, wie in einem offnen vor ihm liegenden Buche fertig zu leſen im Stande ſeyn.
Und wie ſoll nun der Schuͤler der Phyſiognomik mit den Schattenriſſen zu Werke gehen? Erſt ſoll er ſie aufs genaueſte machen lernen — ſelber machen. Unter dem Ziehen der Silhouette ſchaͤrft ſich der Beobachtungsgeiſt ungemein; uͤbt ſich, jedes Geſicht in ſeine Silhouette aufzuloͤſen, mithin ſeine charakteriſtiſche Graͤnzlinie leicht zu finden. Selber machen ſoll er ſeine Silhouetten, und ſich uͤben, den hoͤchſten Punkt von Reinheit und Schaͤrfe mit Sicherheit zu erreichen. Unter unzaͤhligen Silhouetten, die mir durch die Haͤnde gegangen, ſind ſehr wenige, die ich fuͤr phyſiog- nomiſch genau erklaͤren kann. Da alles auf die aͤußerſte Graͤnze des Schattens ankoͤmmt; und die- ſer ſelten ſcharf genug aufs Papier faͤllt, und von einer unzeichneriſchen Hand unmoͤglich rein und
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II. Abſchnitt. V. Fragment.
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und zu den wichtigſten Hauptzuͤgen. Es gilt auch hier — die feyerliche Bezeugung Paulus — Es
iſt an ſich ſelber nichts gemein, als nur dem, der es gemein achtet. Es gilt auch hier:
Eher wird Himmel und Erde vergehen, ehe ein Buchſtabe oder ein Puͤnktlein vom Ge-
ſichte ſeine bedeutende Kraft verliert. —
Du biſt nicht werth; das heißt: du biſt nicht faͤhig, das Menſchengeſicht zu ſtudieren, wenn
du von deiner Beobachtung das mindeſte gefliſſentlich ausſchließeſt.
Doch, thue ich ſogleich wieder hinzu — du haſt vielleicht fuͤr dieſen oder jenen beſondern
Zug, dieſes oder jenes beſondere Glied gleichſam einen beſondern Sinn. So wie jeden Menſchen
beſondere Talente und Eigenſchaften des Menſchen beſonders affiziren — ſo mit den Geſichtszuͤgen.
Alſo iſt’s natuͤrlich: Pruͤfe dich genau, wofuͤr du beſondern offnen Sinn haſt, und das Glied, den
Zug, wofuͤr du dieſen Sinn haſt, ſtudiere du am erſten und meiſten, und ſo, als wenn du nur
dieſen und keinen andern zu ſtudieren haͤtteſt, und als wenn allein in dieſem Einen Zuge der ganze
Charakter laͤge. —
Wer Phyſiognomik ſtudieren will, mache ſich ein beſonderes Studium aus den Schatten-
riſſen. Wer dieſe verachtet, verachtet die Phyſiognomik. Wer keinen Sinn fuͤr dieſe hat, hat
keinen fuͤr die menſchlichen Geſichter. Sicherlich aber, wer ſeinen phyſiognomiſchen Sinn an der
Silhouette uͤbt und befeſtigt — der wird in lebendigen menſchlichen Geſichtern, wie in einem offnen
vor ihm liegenden Buche fertig zu leſen im Stande ſeyn.
Und wie ſoll nun der Schuͤler der Phyſiognomik mit den Schattenriſſen zu Werke gehen?
Erſt ſoll er ſie aufs genaueſte machen lernen — ſelber machen. Unter dem Ziehen der Silhouette
ſchaͤrft ſich der Beobachtungsgeiſt ungemein; uͤbt ſich, jedes Geſicht in ſeine Silhouette aufzuloͤſen,
mithin ſeine charakteriſtiſche Graͤnzlinie leicht zu finden. Selber machen ſoll er ſeine Silhouetten,
und ſich uͤben, den hoͤchſten Punkt von Reinheit und Schaͤrfe mit Sicherheit zu erreichen. Unter
unzaͤhligen Silhouetten, die mir durch die Haͤnde gegangen, ſind ſehr wenige, die ich fuͤr phyſiog-
nomiſch genau erklaͤren kann. Da alles auf die aͤußerſte Graͤnze des Schattens ankoͤmmt; und die-
ſer ſelten ſcharf genug aufs Papier faͤllt, und von einer unzeichneriſchen Hand unmoͤglich rein und
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/180>, abgerufen am 16.07.2024.
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