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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Ein Wort an Reisende.
"Urtheil" -- Freylich also könnt ihr viel lernen, lernensbegierige Schüler der Natur -- vor dem
Angesichte allberühmter Namen -- auch lernen, daß -- "auf der Nase des Helden die Fliege sich
"entnothdürften darf" -- -- Und mir ist lieb, wenn ihr alles das lernet -- wenn ihr dazu physiog-
nomischen Sinn habt. -- Denn ohne diesen reisen, heißt blind seyn, und sich in eine Gallerie führen
lassen, um sagen zu können: "Jch war auch in der Gallerie." --

Jch, wenn ich unbekannt reisen könnte -- würde sie zwar auch besuchen, die Gelehrten,
Weisen, Künstler -- und Männer, von denen viel Sagens im Lande ist -- aber entweder zuletzt,
als die Nebensache -- oder zuerst, um die Beschwerde abgethan zu haben -- Verzeiht mir, Männer
von großem Namen -- ich war leichtgläubig an euch -- ich werde mit jedem Tage schwergläubi-
ger! -- Verachten will ich euch nicht! das sey ferne -- Jch kenne manchen würdigen, dessen Prae-
sentia non minuit samam, sed auxit
-- aber sehr will ich auf meiner Hut seyn, daß euer Name,
und die Sage von euch -- weder Blendlicht noch Nebel mir werde! --

Lieber mischte ich mich unbemerkt unter unbekannte Menschenhaufen; besuchte die Kirchen,
die Spatziergänge, die Hospitäler, die Waisenhäuser -- und wo möglich Versammlungen von geist-
lichen und obrigkeitlichen Personen -- und -- -- betrachtete allervörderst die Hauptformen der Ein-
wohner des Ortes -- betrachtete das Ganze ihrer Länge, Proportion, Stärke, Schwäche, Lang-
samkeit, Schnelle, Farbe, Stellung, Haltung, Ganges u. s. f. aber erst jedes allein, jedes
einzeln
-- sähe, verglieche, schlösse die Augen, imaginirte mir alles Gesehene, öffnete die Augen
wieder, corrigirte meine Jmaginationen, schlösse wieder, öffnete wieder, übte mich, Worte der
Beschreibung zu finden, schrieb, um zu finden, was zu finden ist -- und zeichnete mit wenigen be-
stimmten Zügen diese leicht zu findenden Hauptformen -- und vergliech diese mit dem bekannten
Hauptcharakter der Einwohner -- Wie ließen sich da Totalformen, Totalbuchstaben der Mensch-
heit finden, nachbilden, darstellen! Sodann -- wenn ich mich einmal ins Freye hinaus gearbeitet
hätte -- heftete ich mich mehr aufs Besondere, betrachtete erst Hauptformen der Köpfe -- "sind
"sie im Ganzen genommen, fragte ich z. E. cylindrisch, kugelrund, geviert -- vorgebogen, ein-
"gedrückt?
die Angesichter offen -- oder schief -- frey oder gefurchet" -- Dann besonders ein-
mal die Stirnen -- dann die Augenbraunen, dann die Umrisse und Farben der Augen, dann
die Nasen -- dann besonders, um das Charakteristischnationale zu finden, den Mund, wenn

er

Ein Wort an Reiſende.
„Urtheil“ — Freylich alſo koͤnnt ihr viel lernen, lernensbegierige Schuͤler der Natur — vor dem
Angeſichte allberuͤhmter Namen — auch lernen, daß — „auf der Naſe des Helden die Fliege ſich
„entnothduͤrften darf“ — — Und mir iſt lieb, wenn ihr alles das lernet — wenn ihr dazu phyſiog-
nomiſchen Sinn habt. — Denn ohne dieſen reiſen, heißt blind ſeyn, und ſich in eine Gallerie fuͤhren
laſſen, um ſagen zu koͤnnen: „Jch war auch in der Gallerie.“ —

Jch, wenn ich unbekannt reiſen koͤnnte — wuͤrde ſie zwar auch beſuchen, die Gelehrten,
Weiſen, Kuͤnſtler — und Maͤnner, von denen viel Sagens im Lande iſt — aber entweder zuletzt,
als die Nebenſache — oder zuerſt, um die Beſchwerde abgethan zu haben — Verzeiht mir, Maͤnner
von großem Namen — ich war leichtglaͤubig an euch — ich werde mit jedem Tage ſchwerglaͤubi-
ger! — Verachten will ich euch nicht! das ſey ferne — Jch kenne manchen wuͤrdigen, deſſen Prae-
ſentia non minuit ſamam, ſed auxit
— aber ſehr will ich auf meiner Hut ſeyn, daß euer Name,
und die Sage von euch — weder Blendlicht noch Nebel mir werde! —

Lieber miſchte ich mich unbemerkt unter unbekannte Menſchenhaufen; beſuchte die Kirchen,
die Spatziergaͤnge, die Hoſpitaͤler, die Waiſenhaͤuſer — und wo moͤglich Verſammlungen von geiſt-
lichen und obrigkeitlichen Perſonen — und — — betrachtete allervoͤrderſt die Hauptformen der Ein-
wohner des Ortes — betrachtete das Ganze ihrer Laͤnge, Proportion, Staͤrke, Schwaͤche, Lang-
ſamkeit, Schnelle, Farbe, Stellung, Haltung, Ganges u. ſ. f. aber erſt jedes allein, jedes
einzeln
— ſaͤhe, verglieche, ſchloͤſſe die Augen, imaginirte mir alles Geſehene, oͤffnete die Augen
wieder, corrigirte meine Jmaginationen, ſchloͤſſe wieder, oͤffnete wieder, uͤbte mich, Worte der
Beſchreibung zu finden, ſchrieb, um zu finden, was zu finden iſt — und zeichnete mit wenigen be-
ſtimmten Zuͤgen dieſe leicht zu findenden Hauptformen — und vergliech dieſe mit dem bekannten
Hauptcharakter der Einwohner — Wie ließen ſich da Totalformen, Totalbuchſtaben der Menſch-
heit finden, nachbilden, darſtellen! Sodann — wenn ich mich einmal ins Freye hinaus gearbeitet
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„ſie im Ganzen genommen, fragte ich z. E. cylindriſch, kugelrund, geviert — vorgebogen, ein-
„gedruͤckt?
die Angeſichter offen — oder ſchief — frey oder gefurchet“ — Dann beſonders ein-
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[135/0165] Ein Wort an Reiſende. „Urtheil“ — Freylich alſo koͤnnt ihr viel lernen, lernensbegierige Schuͤler der Natur — vor dem Angeſichte allberuͤhmter Namen — auch lernen, daß — „auf der Naſe des Helden die Fliege ſich „entnothduͤrften darf“ — — Und mir iſt lieb, wenn ihr alles das lernet — wenn ihr dazu phyſiog- nomiſchen Sinn habt. — Denn ohne dieſen reiſen, heißt blind ſeyn, und ſich in eine Gallerie fuͤhren laſſen, um ſagen zu koͤnnen: „Jch war auch in der Gallerie.“ — Jch, wenn ich unbekannt reiſen koͤnnte — wuͤrde ſie zwar auch beſuchen, die Gelehrten, Weiſen, Kuͤnſtler — und Maͤnner, von denen viel Sagens im Lande iſt — aber entweder zuletzt, als die Nebenſache — oder zuerſt, um die Beſchwerde abgethan zu haben — Verzeiht mir, Maͤnner von großem Namen — ich war leichtglaͤubig an euch — ich werde mit jedem Tage ſchwerglaͤubi- ger! — Verachten will ich euch nicht! das ſey ferne — Jch kenne manchen wuͤrdigen, deſſen Prae- ſentia non minuit ſamam, ſed auxit — aber ſehr will ich auf meiner Hut ſeyn, daß euer Name, und die Sage von euch — weder Blendlicht noch Nebel mir werde! — Lieber miſchte ich mich unbemerkt unter unbekannte Menſchenhaufen; beſuchte die Kirchen, die Spatziergaͤnge, die Hoſpitaͤler, die Waiſenhaͤuſer — und wo moͤglich Verſammlungen von geiſt- lichen und obrigkeitlichen Perſonen — und — — betrachtete allervoͤrderſt die Hauptformen der Ein- wohner des Ortes — betrachtete das Ganze ihrer Laͤnge, Proportion, Staͤrke, Schwaͤche, Lang- ſamkeit, Schnelle, Farbe, Stellung, Haltung, Ganges u. ſ. f. aber erſt jedes allein, jedes einzeln — ſaͤhe, verglieche, ſchloͤſſe die Augen, imaginirte mir alles Geſehene, oͤffnete die Augen wieder, corrigirte meine Jmaginationen, ſchloͤſſe wieder, oͤffnete wieder, uͤbte mich, Worte der Beſchreibung zu finden, ſchrieb, um zu finden, was zu finden iſt — und zeichnete mit wenigen be- ſtimmten Zuͤgen dieſe leicht zu findenden Hauptformen — und vergliech dieſe mit dem bekannten Hauptcharakter der Einwohner — Wie ließen ſich da Totalformen, Totalbuchſtaben der Menſch- heit finden, nachbilden, darſtellen! Sodann — wenn ich mich einmal ins Freye hinaus gearbeitet haͤtte — heftete ich mich mehr aufs Beſondere, betrachtete erſt Hauptformen der Koͤpfe — „ſind „ſie im Ganzen genommen, fragte ich z. E. cylindriſch, kugelrund, geviert — vorgebogen, ein- „gedruͤckt? die Angeſichter offen — oder ſchief — frey oder gefurchet“ — Dann beſonders ein- mal die Stirnen — dann die Augenbraunen, dann die Umriſſe und Farben der Augen, dann die Naſen — dann beſonders, um das Charakteriſtiſchnationale zu finden, den Mund, wenn er

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/165>, abgerufen am 23.11.2024.