Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite
I. Abschnitt. X. Fragment. Genie.

2) Jnspirationsähnlicher Sinn und unnachahmliche Kraft für ganze Felder, ganze Ta-
bleaux, ganze Massen -- Genie fürs Große -- mit Vorbeygehung, Verachtung des kleinen De-
tails -- hat sein Zeichen in größern Gesichtstheilen, und weniger kleinlichen Zügen -- wie Ru-
bens -- Vandyk.

3) Jnspirationsähnlicher Sinn und unnachahmliche Kraft fürs Große und Kleine zu-
gleich -- Ganzer Natursinn, denn die Natur schafft den ganzen herrlichen Baum, und bildet je-
des Blatt aufs fleißigste, besinnteste aus -- die Natur ist frey ohne Zügellosigkeit, und bestimmt
ohne Härte -- dieß allein reine, allein ächte Genie -- wo ist's? wo sind erläuternde Beyspiele? --
Jn der Künstler-Dichter-Philosophen-Heldenwelt? -- Wo Umfasser des Ganzen, und Entziefe-
rer jeder Einzelnheit? Wo? daß ich ihre Züge bezeichnen, und sie auf den ersten Blick kennbar ma-
chen könne? -- Jch kenne nur zwey, die ich nicht nennen, und deren Köpfe ich nicht hersetzen und sie
von dieser Seite kommentiren mag -- weil sie meine Freunde sind, und weil ich mein Werk nicht
weiter (wie einer von ihnen sagte) zu einer Schädelstätte meiner Freunde machen darf. -- So
viel aber kann ich sagen -- im Ganzen, im Ganzen ihrer Gestalt, ihrer Farbe, ihrer Bewegungen,
ihres Ganges u. s. f. in allen Theilen, allen Zügen, allen Nüancen muß sich dieß ausdrücken. Nicht
hier und dort, nicht dann und wann nur Ein Zug! Ein Blick! Ein Ton! Ein Tritt! -- Alles ist
Harmonie! Leben Alles! Alles Ein Leben! dasselbe belebende Leben! -- Jhre Gestalt ist fest und
schnellbeweglich zugleich; ihr Blick weit umsehend und schneidend! Jmmer Mikroskop oder Teles-
cop -- nach Belieben -- divergierend und konvergierend! langsam und schnell! Jhre Farbe gelb-
licht blaß oder violetröthlicht! Niemals weißlicht; milchigt; niemals hochroth; oft sich wandelnd
und wendend! Jhr Gang ist leicht und fest -- schwebend und auftretend -- sie fliegen und wurzeln
sich! treten unhörbar und stampfen u. s. f.



Genieen der Tugend und Religion -- die Tugend und Gottheit ahnden, wo niemand sie
ahndet -- wirken und leiden, wo niemand gelehrt und geschult werden kann; die in sich und aus-
ser sich Kräfte, Anlagen, Wirkungen entdecken, die in keinem Wörterbuche Namen haben -- Din-
ge empfinden, sehen, wirken, die kein Auge sah, kein Ohr hörte, und die in keines Menschen Herz
kamen, die nur von dem herrühren, der alle Tiefen der Gottheit ergründet, und weiß, was in Gott

ist:
I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie.

2) Jnſpirationsaͤhnlicher Sinn und unnachahmliche Kraft fuͤr ganze Felder, ganze Ta-
bleaux, ganze Maſſen — Genie fuͤrs Große — mit Vorbeygehung, Verachtung des kleinen De-
tails — hat ſein Zeichen in groͤßern Geſichtstheilen, und weniger kleinlichen Zuͤgen — wie Ru-
bens — Vandyk.

3) Jnſpirationsaͤhnlicher Sinn und unnachahmliche Kraft fuͤrs Große und Kleine zu-
gleich — Ganzer Naturſinn, denn die Natur ſchafft den ganzen herrlichen Baum, und bildet je-
des Blatt aufs fleißigſte, beſinnteſte aus — die Natur iſt frey ohne Zuͤgelloſigkeit, und beſtimmt
ohne Haͤrte — dieß allein reine, allein aͤchte Genie — wo iſt’s? wo ſind erlaͤuternde Beyſpiele? —
Jn der Kuͤnſtler-Dichter-Philoſophen-Heldenwelt? — Wo Umfaſſer des Ganzen, und Entziefe-
rer jeder Einzelnheit? Wo? daß ich ihre Zuͤge bezeichnen, und ſie auf den erſten Blick kennbar ma-
chen koͤnne? — Jch kenne nur zwey, die ich nicht nennen, und deren Koͤpfe ich nicht herſetzen und ſie
von dieſer Seite kommentiren mag — weil ſie meine Freunde ſind, und weil ich mein Werk nicht
weiter (wie einer von ihnen ſagte) zu einer Schaͤdelſtaͤtte meiner Freunde machen darf. — So
viel aber kann ich ſagen — im Ganzen, im Ganzen ihrer Geſtalt, ihrer Farbe, ihrer Bewegungen,
ihres Ganges u. ſ. f. in allen Theilen, allen Zuͤgen, allen Nuͤancen muß ſich dieß ausdruͤcken. Nicht
hier und dort, nicht dann und wann nur Ein Zug! Ein Blick! Ein Ton! Ein Tritt! — Alles iſt
Harmonie! Leben Alles! Alles Ein Leben! daſſelbe belebende Leben! — Jhre Geſtalt iſt feſt und
ſchnellbeweglich zugleich; ihr Blick weit umſehend und ſchneidend! Jmmer Mikroſkop oder Teles-
cop — nach Belieben — divergierend und konvergierend! langſam und ſchnell! Jhre Farbe gelb-
licht blaß oder violetroͤthlicht! Niemals weißlicht; milchigt; niemals hochroth; oft ſich wandelnd
und wendend! Jhr Gang iſt leicht und feſt — ſchwebend und auftretend — ſie fliegen und wurzeln
ſich! treten unhoͤrbar und ſtampfen u. ſ. f.



Genieen der Tugend und Religion — die Tugend und Gottheit ahnden, wo niemand ſie
ahndet — wirken und leiden, wo niemand gelehrt und geſchult werden kann; die in ſich und auſ-
ſer ſich Kraͤfte, Anlagen, Wirkungen entdecken, die in keinem Woͤrterbuche Namen haben — Din-
ge empfinden, ſehen, wirken, die kein Auge ſah, kein Ohr hoͤrte, und die in keines Menſchen Herz
kamen, die nur von dem herruͤhren, der alle Tiefen der Gottheit ergruͤndet, und weiß, was in Gott

iſt:
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0120" n="92"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">X.</hi> Fragment. Genie.</hi> </fw><lb/>
            <p>2) Jn&#x017F;pirationsa&#x0364;hnlicher Sinn und unnachahmliche Kraft fu&#x0364;r ganze Felder, ganze Ta-<lb/>
bleaux, ganze Ma&#x017F;&#x017F;en &#x2014; <hi rendition="#b">Genie fu&#x0364;rs Große</hi> &#x2014; mit Vorbeygehung, Verachtung des kleinen De-<lb/>
tails &#x2014; hat &#x017F;ein Zeichen in gro&#x0364;ßern Ge&#x017F;ichtstheilen, und weniger kleinlichen Zu&#x0364;gen &#x2014; wie <hi rendition="#b">Ru-<lb/>
bens &#x2014; Vandyk.</hi></p><lb/>
            <p>3) Jn&#x017F;pirationsa&#x0364;hnlicher Sinn und unnachahmliche Kraft fu&#x0364;rs Große und Kleine zu-<lb/>
gleich &#x2014; <hi rendition="#b">Ganzer Natur&#x017F;inn,</hi> denn die Natur &#x017F;chafft den ganzen herrlichen Baum, und bildet je-<lb/>
des Blatt aufs fleißig&#x017F;te, be&#x017F;innte&#x017F;te aus &#x2014; die Natur i&#x017F;t frey ohne Zu&#x0364;gello&#x017F;igkeit, und be&#x017F;timmt<lb/>
ohne Ha&#x0364;rte &#x2014; dieß allein reine, allein a&#x0364;chte Genie &#x2014; wo i&#x017F;t&#x2019;s? wo &#x017F;ind erla&#x0364;uternde Bey&#x017F;piele? &#x2014;<lb/>
Jn der Ku&#x0364;n&#x017F;tler-Dichter-Philo&#x017F;ophen-Heldenwelt? &#x2014; Wo Umfa&#x017F;&#x017F;er des Ganzen, und Entziefe-<lb/>
rer jeder Einzelnheit? Wo? daß ich ihre Zu&#x0364;ge bezeichnen, und &#x017F;ie auf den er&#x017F;ten Blick kennbar ma-<lb/>
chen ko&#x0364;nne? &#x2014; Jch kenne nur zwey, die ich nicht nennen, und deren Ko&#x0364;pfe ich nicht her&#x017F;etzen und &#x017F;ie<lb/>
von die&#x017F;er Seite kommentiren mag &#x2014; weil &#x017F;ie meine Freunde &#x017F;ind, und weil ich mein Werk nicht<lb/>
weiter (wie einer von ihnen &#x017F;agte) zu einer <hi rendition="#b">Scha&#x0364;del&#x017F;ta&#x0364;tte meiner Freunde</hi> machen darf. &#x2014; So<lb/>
viel aber kann ich &#x017F;agen &#x2014; im Ganzen, im Ganzen ihrer Ge&#x017F;talt, ihrer Farbe, ihrer Bewegungen,<lb/>
ihres Ganges u. &#x017F;. f. in allen Theilen, allen Zu&#x0364;gen, allen Nu&#x0364;ancen muß &#x017F;ich dieß ausdru&#x0364;cken. Nicht<lb/>
hier und dort, nicht dann und wann nur Ein Zug! Ein Blick! Ein Ton! Ein Tritt! &#x2014; Alles i&#x017F;t<lb/>
Harmonie! Leben Alles! Alles <hi rendition="#b">Ein</hi> Leben! da&#x017F;&#x017F;elbe belebende Leben! &#x2014; Jhre Ge&#x017F;talt i&#x017F;t fe&#x017F;t und<lb/>
&#x017F;chnellbeweglich zugleich; ihr Blick weit um&#x017F;ehend und &#x017F;chneidend! Jmmer Mikro&#x017F;kop oder Teles-<lb/>
cop &#x2014; nach Belieben &#x2014; divergierend und konvergierend! lang&#x017F;am und &#x017F;chnell! Jhre Farbe gelb-<lb/>
licht blaß oder violetro&#x0364;thlicht! Niemals weißlicht; milchigt; niemals hochroth; oft &#x017F;ich wandelnd<lb/>
und wendend! Jhr Gang i&#x017F;t leicht und fe&#x017F;t &#x2014; &#x017F;chwebend und auftretend &#x2014; &#x017F;ie fliegen und wurzeln<lb/>
&#x017F;ich! treten unho&#x0364;rbar und &#x017F;tampfen u. &#x017F;. f.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p>Genieen der Tugend und Religion &#x2014; die Tugend und Gottheit ahnden, wo niemand &#x017F;ie<lb/>
ahndet &#x2014; wirken und leiden, wo niemand gelehrt und ge&#x017F;chult werden kann; die in &#x017F;ich und au&#x017F;-<lb/>
&#x017F;er &#x017F;ich Kra&#x0364;fte, Anlagen, Wirkungen entdecken, die in keinem Wo&#x0364;rterbuche Namen haben &#x2014; Din-<lb/>
ge empfinden, &#x017F;ehen, wirken, die kein Auge &#x017F;ah, kein Ohr ho&#x0364;rte, und die in keines Men&#x017F;chen Herz<lb/>
kamen, die nur von dem herru&#x0364;hren, der alle Tiefen der Gottheit ergru&#x0364;ndet, und weiß, was in Gott<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">i&#x017F;t:</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0120] I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. 2) Jnſpirationsaͤhnlicher Sinn und unnachahmliche Kraft fuͤr ganze Felder, ganze Ta- bleaux, ganze Maſſen — Genie fuͤrs Große — mit Vorbeygehung, Verachtung des kleinen De- tails — hat ſein Zeichen in groͤßern Geſichtstheilen, und weniger kleinlichen Zuͤgen — wie Ru- bens — Vandyk. 3) Jnſpirationsaͤhnlicher Sinn und unnachahmliche Kraft fuͤrs Große und Kleine zu- gleich — Ganzer Naturſinn, denn die Natur ſchafft den ganzen herrlichen Baum, und bildet je- des Blatt aufs fleißigſte, beſinnteſte aus — die Natur iſt frey ohne Zuͤgelloſigkeit, und beſtimmt ohne Haͤrte — dieß allein reine, allein aͤchte Genie — wo iſt’s? wo ſind erlaͤuternde Beyſpiele? — Jn der Kuͤnſtler-Dichter-Philoſophen-Heldenwelt? — Wo Umfaſſer des Ganzen, und Entziefe- rer jeder Einzelnheit? Wo? daß ich ihre Zuͤge bezeichnen, und ſie auf den erſten Blick kennbar ma- chen koͤnne? — Jch kenne nur zwey, die ich nicht nennen, und deren Koͤpfe ich nicht herſetzen und ſie von dieſer Seite kommentiren mag — weil ſie meine Freunde ſind, und weil ich mein Werk nicht weiter (wie einer von ihnen ſagte) zu einer Schaͤdelſtaͤtte meiner Freunde machen darf. — So viel aber kann ich ſagen — im Ganzen, im Ganzen ihrer Geſtalt, ihrer Farbe, ihrer Bewegungen, ihres Ganges u. ſ. f. in allen Theilen, allen Zuͤgen, allen Nuͤancen muß ſich dieß ausdruͤcken. Nicht hier und dort, nicht dann und wann nur Ein Zug! Ein Blick! Ein Ton! Ein Tritt! — Alles iſt Harmonie! Leben Alles! Alles Ein Leben! daſſelbe belebende Leben! — Jhre Geſtalt iſt feſt und ſchnellbeweglich zugleich; ihr Blick weit umſehend und ſchneidend! Jmmer Mikroſkop oder Teles- cop — nach Belieben — divergierend und konvergierend! langſam und ſchnell! Jhre Farbe gelb- licht blaß oder violetroͤthlicht! Niemals weißlicht; milchigt; niemals hochroth; oft ſich wandelnd und wendend! Jhr Gang iſt leicht und feſt — ſchwebend und auftretend — ſie fliegen und wurzeln ſich! treten unhoͤrbar und ſtampfen u. ſ. f. Genieen der Tugend und Religion — die Tugend und Gottheit ahnden, wo niemand ſie ahndet — wirken und leiden, wo niemand gelehrt und geſchult werden kann; die in ſich und auſ- ſer ſich Kraͤfte, Anlagen, Wirkungen entdecken, die in keinem Woͤrterbuche Namen haben — Din- ge empfinden, ſehen, wirken, die kein Auge ſah, kein Ohr hoͤrte, und die in keines Menſchen Herz kamen, die nur von dem herruͤhren, der alle Tiefen der Gottheit ergruͤndet, und weiß, was in Gott iſt:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/120
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/120>, abgerufen am 06.05.2024.