Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Abschnitt. X. Fragment. Genie.
kann -- und so giebt's auch unzählige Arten von Genieen. Jeder Gegenstand der sichtbaren oder
unsichtbaren Welt ist ein Element, worinn ein Genie als in seiner Welt, seinem Reiche, weben
und schweben, walten und herrschen kann -- Eine Welt voll Erscheinungen für das Genie, dem
die äußern und innern Sinne zu seiner unmittelbaren Erkennung und Berührung geöffnet sind.
Von was Art aber immer ein Genie seyn möge; aller Genieen Wesen und Natur ist -- Ueberna-
tur -- Ueberkunst, Uebergelehrsamkeit, Uebertalent -- Selbstleben!
-- Sein Weg ist
immer Weg des Blitzes, oder des Sturmwindes, oder des Adlers -- Man staunt seinem wehen-
den Schweben nach! hört sein Brausen! sieht seine Herrlichkeit -- aber wohin und woher weiß man
nicht? und seine Fußstapfen findet man nicht.

Genie! -- Tausendmal, und wann mehr als in unserer Aftergeniezeit weggeworfenes
Wort -- aber der Name bleibt nicht -- jeder Hauch des Windes weht ihn weg -- jedes kleine
Talentmännchen nennt ein noch kleineres Genie -- damit dasselbe hinwiederum zu kleinern her-
abrufe -- seht an die Höhe hinan!

Der Cherub eilt mit vollen Flügeln
Und überfliegt dich -- Libanon!

Aber Flieger, Rufer und Stauner -- die sich einander wechselsweise hinauf und herabräu-
cherten, und -- ver -- genierten -- die Sonne geht auf -- und wenn sie untergegangen ist -- wo
seyd ihr? -- Genieen -- Lichter der Welt! Salz der Erde! Substantife in der Grammatik
der Menschheit! "Ebenbilder der Gottheit -- an Ordnung, Schönheit und unsichtbaren Schö-
"pferskräften! Schätze eures Zeitalters! Sterne im Dunkeln, die durch ihr Wesen erleuch-
"ten und scheinen, so viel es die Finsterniß aufnimmt!" -- Menschengötter! Schöpfer! Zer-
störer! Offenbarer der Geheimnisse Gottes und der Menschen! Dollmetscher der Na-
tur! Aussprecher unaussprechlicher Dinge! Propheten! Priester! Könige der Welt
...
die die Gottheit organisirt und gebildet hat -- zu offenbaren durch sie sich selbst und ihre Schö-
pfungskraft und Weisheit und Huld -- Offenbarer der Majestät aller Dinge, und ihres
Verhältnisses zum ewigen Quell und Ziel aller Dinge: Genieen
-- von euch reden wir!
euch fragen wir -- hat euch die Gottheit bezeichnet -- und wie? -- wie hat sie euch bezeichnet? --
eure Gestalt? eure Züge? eure Miene? ... Gebärde? Was ist's, das euch auszeichnet vor allen

Sterb-
L 2

I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie.
kann — und ſo giebt’s auch unzaͤhlige Arten von Genieen. Jeder Gegenſtand der ſichtbaren oder
unſichtbaren Welt iſt ein Element, worinn ein Genie als in ſeiner Welt, ſeinem Reiche, weben
und ſchweben, walten und herrſchen kann — Eine Welt voll Erſcheinungen fuͤr das Genie, dem
die aͤußern und innern Sinne zu ſeiner unmittelbaren Erkennung und Beruͤhrung geoͤffnet ſind.
Von was Art aber immer ein Genie ſeyn moͤge; aller Genieen Weſen und Natur iſt — Ueberna-
tur — Ueberkunſt, Uebergelehrſamkeit, Uebertalent — Selbſtleben!
— Sein Weg iſt
immer Weg des Blitzes, oder des Sturmwindes, oder des Adlers — Man ſtaunt ſeinem wehen-
den Schweben nach! hoͤrt ſein Brauſen! ſieht ſeine Herrlichkeit — aber wohin und woher weiß man
nicht? und ſeine Fußſtapfen findet man nicht.

Genie! — Tauſendmal, und wann mehr als in unſerer Aftergeniezeit weggeworfenes
Wort — aber der Name bleibt nicht — jeder Hauch des Windes weht ihn weg — jedes kleine
Talentmaͤnnchen nennt ein noch kleineres Genie — damit daſſelbe hinwiederum zu kleinern her-
abrufe — ſeht an die Hoͤhe hinan!

Der Cherub eilt mit vollen Fluͤgeln
Und uͤberfliegt dich — Libanon!

Aber Flieger, Rufer und Stauner — die ſich einander wechſelsweiſe hinauf und herabraͤu-
cherten, und — ver — genierten — die Sonne geht auf — und wenn ſie untergegangen iſt — wo
ſeyd ihr? — Genieen — Lichter der Welt! Salz der Erde! Subſtantife in der Grammatik
der Menſchheit! „Ebenbilder der Gottheit — an Ordnung, Schoͤnheit und unſichtbaren Schoͤ-
„pferskraͤften! Schaͤtze eures Zeitalters! Sterne im Dunkeln, die durch ihr Weſen erleuch-
„ten und ſcheinen, ſo viel es die Finſterniß aufnimmt!“ — Menſchengoͤtter! Schoͤpfer! Zer-
ſtoͤrer! Offenbarer der Geheimniſſe Gottes und der Menſchen! Dollmetſcher der Na-
tur! Ausſprecher unausſprechlicher Dinge! Propheten! Prieſter! Koͤnige der Welt
...
die die Gottheit organiſirt und gebildet hat — zu offenbaren durch ſie ſich ſelbſt und ihre Schoͤ-
pfungskraft und Weisheit und Huld — Offenbarer der Majeſtaͤt aller Dinge, und ihres
Verhaͤltniſſes zum ewigen Quell und Ziel aller Dinge: Genieen
— von euch reden wir!
euch fragen wir — hat euch die Gottheit bezeichnet — und wie? — wie hat ſie euch bezeichnet? —
eure Geſtalt? eure Zuͤge? eure Miene? ... Gebaͤrde? Was iſt’s, das euch auszeichnet vor allen

Sterb-
L 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0111" n="83"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">X.</hi> Fragment. Genie.</hi></fw><lb/>
kann &#x2014; und &#x017F;o giebt&#x2019;s auch unza&#x0364;hlige Arten von <hi rendition="#b">Genieen.</hi> Jeder Gegen&#x017F;tand der &#x017F;ichtbaren oder<lb/>
un&#x017F;ichtbaren Welt i&#x017F;t ein Element, worinn ein Genie als in <hi rendition="#b">&#x017F;einer</hi> Welt, <hi rendition="#b">&#x017F;einem</hi> Reiche, weben<lb/>
und &#x017F;chweben, walten und herr&#x017F;chen kann &#x2014; Eine Welt voll Er&#x017F;cheinungen fu&#x0364;r das <hi rendition="#b">Genie,</hi> dem<lb/>
die a&#x0364;ußern und innern Sinne zu &#x017F;einer unmittelbaren Erkennung und Beru&#x0364;hrung geo&#x0364;ffnet &#x017F;ind.<lb/>
Von was Art aber immer ein Genie &#x017F;eyn mo&#x0364;ge; aller Genieen We&#x017F;en und Natur i&#x017F;t &#x2014; <hi rendition="#b">Ueberna-<lb/>
tur &#x2014; Ueberkun&#x017F;t, Uebergelehr&#x017F;amkeit, Uebertalent &#x2014; Selb&#x017F;tleben!</hi> &#x2014; Sein Weg i&#x017F;t<lb/>
immer Weg des Blitzes, oder des Sturmwindes, oder des Adlers &#x2014; Man &#x017F;taunt &#x017F;einem wehen-<lb/>
den Schweben nach! ho&#x0364;rt &#x017F;ein Brau&#x017F;en! &#x017F;ieht &#x017F;eine Herrlichkeit &#x2014; aber wohin und woher weiß man<lb/>
nicht? und &#x017F;eine Fuß&#x017F;tapfen findet man nicht.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#b">Genie!</hi> &#x2014; Tau&#x017F;endmal, und wann mehr als in un&#x017F;erer <hi rendition="#b">Aftergeniezeit</hi> weggeworfenes<lb/>
Wort &#x2014; aber der Name bleibt nicht &#x2014; jeder Hauch des Windes weht ihn weg &#x2014; jedes kleine<lb/><hi rendition="#b">Talentma&#x0364;nnchen</hi> nennt ein noch kleineres <hi rendition="#b">Genie</hi> &#x2014; damit da&#x017F;&#x017F;elbe hinwiederum zu kleinern her-<lb/>
abrufe &#x2014; &#x017F;eht an die Ho&#x0364;he hinan!</p><lb/>
            <lg type="poem">
              <l>Der Cherub eilt mit vollen Flu&#x0364;geln</l><lb/>
              <l>Und u&#x0364;berfliegt dich &#x2014; Libanon!</l>
            </lg><lb/>
            <p>Aber Flieger, Rufer und Stauner &#x2014; die &#x017F;ich einander wech&#x017F;elswei&#x017F;e hinauf und herabra&#x0364;u-<lb/>
cherten, und &#x2014; ver &#x2014; <hi rendition="#b">genierten</hi> &#x2014; die Sonne geht auf &#x2014; und wenn &#x017F;ie untergegangen i&#x017F;t &#x2014; wo<lb/>
&#x017F;eyd ihr? &#x2014; <hi rendition="#b">Genieen &#x2014; Lichter der Welt! Salz der Erde! Sub&#x017F;tantife</hi> in der Grammatik<lb/>
der Men&#x017F;chheit! <hi rendition="#b">&#x201E;Ebenbilder der Gottheit</hi> &#x2014; an Ordnung, Scho&#x0364;nheit und un&#x017F;ichtbaren Scho&#x0364;-<lb/>
&#x201E;pferskra&#x0364;ften! <hi rendition="#b">Scha&#x0364;tze eures Zeitalters! Sterne im Dunkeln,</hi> die durch ihr We&#x017F;en erleuch-<lb/>
&#x201E;ten und &#x017F;cheinen, &#x017F;o viel es die Fin&#x017F;terniß aufnimmt!&#x201C; &#x2014; <hi rendition="#b">Men&#x017F;chengo&#x0364;tter! Scho&#x0364;pfer! Zer-<lb/>
&#x017F;to&#x0364;rer! Offenbarer der Geheimni&#x017F;&#x017F;e Gottes und der Men&#x017F;chen! Dollmet&#x017F;cher der Na-<lb/>
tur! Aus&#x017F;precher unaus&#x017F;prechlicher Dinge! Propheten! Prie&#x017F;ter! Ko&#x0364;nige der Welt</hi> ...<lb/>
die die Gottheit organi&#x017F;irt und gebildet hat &#x2014; zu offenbaren durch &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t und ihre Scho&#x0364;-<lb/>
pfungskraft und Weisheit und Huld &#x2014; <hi rendition="#b">Offenbarer der Maje&#x017F;ta&#x0364;t aller Dinge, und ihres<lb/>
Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;es zum ewigen Quell und Ziel aller Dinge: Genieen</hi> &#x2014; von euch reden wir!<lb/>
euch fragen wir &#x2014; hat euch die Gottheit bezeichnet &#x2014; und wie? &#x2014; wie hat &#x017F;ie euch bezeichnet? &#x2014;<lb/>
eure Ge&#x017F;talt? eure Zu&#x0364;ge? eure Miene? ... Geba&#x0364;rde? Was i&#x017F;t&#x2019;s, das euch auszeichnet vor allen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Sterb-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0111] I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. kann — und ſo giebt’s auch unzaͤhlige Arten von Genieen. Jeder Gegenſtand der ſichtbaren oder unſichtbaren Welt iſt ein Element, worinn ein Genie als in ſeiner Welt, ſeinem Reiche, weben und ſchweben, walten und herrſchen kann — Eine Welt voll Erſcheinungen fuͤr das Genie, dem die aͤußern und innern Sinne zu ſeiner unmittelbaren Erkennung und Beruͤhrung geoͤffnet ſind. Von was Art aber immer ein Genie ſeyn moͤge; aller Genieen Weſen und Natur iſt — Ueberna- tur — Ueberkunſt, Uebergelehrſamkeit, Uebertalent — Selbſtleben! — Sein Weg iſt immer Weg des Blitzes, oder des Sturmwindes, oder des Adlers — Man ſtaunt ſeinem wehen- den Schweben nach! hoͤrt ſein Brauſen! ſieht ſeine Herrlichkeit — aber wohin und woher weiß man nicht? und ſeine Fußſtapfen findet man nicht. Genie! — Tauſendmal, und wann mehr als in unſerer Aftergeniezeit weggeworfenes Wort — aber der Name bleibt nicht — jeder Hauch des Windes weht ihn weg — jedes kleine Talentmaͤnnchen nennt ein noch kleineres Genie — damit daſſelbe hinwiederum zu kleinern her- abrufe — ſeht an die Hoͤhe hinan! Der Cherub eilt mit vollen Fluͤgeln Und uͤberfliegt dich — Libanon! Aber Flieger, Rufer und Stauner — die ſich einander wechſelsweiſe hinauf und herabraͤu- cherten, und — ver — genierten — die Sonne geht auf — und wenn ſie untergegangen iſt — wo ſeyd ihr? — Genieen — Lichter der Welt! Salz der Erde! Subſtantife in der Grammatik der Menſchheit! „Ebenbilder der Gottheit — an Ordnung, Schoͤnheit und unſichtbaren Schoͤ- „pferskraͤften! Schaͤtze eures Zeitalters! Sterne im Dunkeln, die durch ihr Weſen erleuch- „ten und ſcheinen, ſo viel es die Finſterniß aufnimmt!“ — Menſchengoͤtter! Schoͤpfer! Zer- ſtoͤrer! Offenbarer der Geheimniſſe Gottes und der Menſchen! Dollmetſcher der Na- tur! Ausſprecher unausſprechlicher Dinge! Propheten! Prieſter! Koͤnige der Welt ... die die Gottheit organiſirt und gebildet hat — zu offenbaren durch ſie ſich ſelbſt und ihre Schoͤ- pfungskraft und Weisheit und Huld — Offenbarer der Majeſtaͤt aller Dinge, und ihres Verhaͤltniſſes zum ewigen Quell und Ziel aller Dinge: Genieen — von euch reden wir! euch fragen wir — hat euch die Gottheit bezeichnet — und wie? — wie hat ſie euch bezeichnet? — eure Geſtalt? eure Zuͤge? eure Miene? ... Gebaͤrde? Was iſt’s, das euch auszeichnet vor allen Sterb- L 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/111
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/111>, abgerufen am 24.11.2024.