Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite
auf die menschliche Bildung. Riesen und Zwerge. II. Beylage.
Zweyte Beylage.
Melchior Thut, ein Riese.

Ohne alle Rücksicht auf unsere oben angeführte Hypothese rücken wir so, wie oben die Stöberin,
hier das Bild eines Riesen ein.

Ein kenntliches Porträt eines 35jährigen Glarners von Linthal, wohnend an einem
sehr einsamen Orte, der in seinem sechzehnten Jahre unter 12. bis 18. Knaben seines Alters der
kleinste war, so klein war, daß man ihn zum Nachtmahl zu lassen Bedenken trug; im siebenzehn-
ten Jahre fieng er an zu schwellen, und zwar zuerst auf der rechten Seite, wo es sich hernach auch
wieder verlor. Es war eine Art von Wassersucht; doch ließ er sich nie abzapfen, obschon aus jedem
Gliede, wenn ers auflegte, Wasser lief. Dieß hielt etwa sechs Wochen an. Auch war das Ge-
sicht ganz verschwollen. Auf ein glänzendes Pulver, wie er sagt, (vermuthlich Quecksilber) wurde
es besser. Nach der Krankheit blieb er noch zwey Jahre zu Hause, und wuchs in jedem Jahre vier
Zoll. Jtzt hat er sieben Fuß und sechs Zoll; noch einen Bruder und zwo verheyrathete Schwe-
stern von gemeiner Größe. Sein Vater und seine Mutter sind eher klein, als groß. Von 1765 bis
1777 war er, nach einer Reise in England und Holland, am würtembergischen Hofe, in welcher
Zeit er keine besondere Krankheit, doch sieben Jahre nach einander das Fieber gehabt hatte. Zu
Hause hatte er sich wenig Bewegung gegeben; oft ein Vierteljahr lang kein Brod gegessen. Milch
und Käse und Mehlspeisen waren seine einzige Nahrung. Er ißt sehr mäßig und trinkt wenig Wein.
Mit seinem schnellen Wachsthum verloren sich überall die Gliederschmerzen seiner frühern Jahre.
Seine Breite und Dicke ist seiner Höhe proportionirt. Sein Knochensystem wuchs in gleichem
Des IV. Ban-
des VI. Tafel.
Melchior
Thut.
Schritte mit dem Fleische. Der sichtbare Hauptcharakter der Stärke liegt auf dem in
der Natur noch breiter hervordringenden Backenknochen und im Kinne. Weit und frey
und sehr bestimmt gezeichnet, stehen die Ohren in der Natur vom Kopfe ab. Auf der
Breite der hautigen Stirn ist ein Lineament, das ich noch selten gesehen -- ungefähr -- --

So spitz und fein ist die Nase in der Natur nicht, als in der Zeichnung. Sie ist gröber
und fleischiger. Bräunlich ist die Farbe des Körpers.

Der
Phys. Fragm. IV Versuch. K
auf die menſchliche Bildung. Rieſen und Zwerge. II. Beylage.
Zweyte Beylage.
Melchior Thut, ein Rieſe.

Ohne alle Ruͤckſicht auf unſere oben angefuͤhrte Hypotheſe ruͤcken wir ſo, wie oben die Stoͤberin,
hier das Bild eines Rieſen ein.

Ein kenntliches Portraͤt eines 35jaͤhrigen Glarners von Linthal, wohnend an einem
ſehr einſamen Orte, der in ſeinem ſechzehnten Jahre unter 12. bis 18. Knaben ſeines Alters der
kleinſte war, ſo klein war, daß man ihn zum Nachtmahl zu laſſen Bedenken trug; im ſiebenzehn-
ten Jahre fieng er an zu ſchwellen, und zwar zuerſt auf der rechten Seite, wo es ſich hernach auch
wieder verlor. Es war eine Art von Waſſerſucht; doch ließ er ſich nie abzapfen, obſchon aus jedem
Gliede, wenn ers auflegte, Waſſer lief. Dieß hielt etwa ſechs Wochen an. Auch war das Ge-
ſicht ganz verſchwollen. Auf ein glaͤnzendes Pulver, wie er ſagt, (vermuthlich Queckſilber) wurde
es beſſer. Nach der Krankheit blieb er noch zwey Jahre zu Hauſe, und wuchs in jedem Jahre vier
Zoll. Jtzt hat er ſieben Fuß und ſechs Zoll; noch einen Bruder und zwo verheyrathete Schwe-
ſtern von gemeiner Groͤße. Sein Vater und ſeine Mutter ſind eher klein, als groß. Von 1765 bis
1777 war er, nach einer Reiſe in England und Holland, am wuͤrtembergiſchen Hofe, in welcher
Zeit er keine beſondere Krankheit, doch ſieben Jahre nach einander das Fieber gehabt hatte. Zu
Hauſe hatte er ſich wenig Bewegung gegeben; oft ein Vierteljahr lang kein Brod gegeſſen. Milch
und Kaͤſe und Mehlſpeiſen waren ſeine einzige Nahrung. Er ißt ſehr maͤßig und trinkt wenig Wein.
Mit ſeinem ſchnellen Wachsthum verloren ſich uͤberall die Gliederſchmerzen ſeiner fruͤhern Jahre.
Seine Breite und Dicke iſt ſeiner Hoͤhe proportionirt. Sein Knochenſyſtem wuchs in gleichem
Des IV. Ban-
des VI. Tafel.
Melchior
Thut.
Schritte mit dem Fleiſche. Der ſichtbare Hauptcharakter der Staͤrke liegt auf dem in
der Natur noch breiter hervordringenden Backenknochen und im Kinne. Weit und frey
und ſehr beſtimmt gezeichnet, ſtehen die Ohren in der Natur vom Kopfe ab. Auf der
Breite der hautigen Stirn iſt ein Lineament, das ich noch ſelten geſehen — ungefaͤhr — —

So ſpitz und fein iſt die Naſe in der Natur nicht, als in der Zeichnung. Sie iſt groͤber
und fleiſchiger. Braͤunlich iſt die Farbe des Koͤrpers.

Der
Phyſ. Fragm. IV Verſuch. K
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0101" n="73"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">auf die men&#x017F;chliche Bildung. Rie&#x017F;en und Zwerge. <hi rendition="#aq">II.</hi> Beylage.</hi> </fw><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b">Zweyte Beylage.<lb/><hi rendition="#g">Melchior Thut, ein Rie&#x017F;e.</hi></hi> </head><lb/>
              <p><hi rendition="#in">O</hi>hne alle Ru&#x0364;ck&#x017F;icht auf un&#x017F;ere oben angefu&#x0364;hrte Hypothe&#x017F;e ru&#x0364;cken wir &#x017F;o, wie oben die Sto&#x0364;berin,<lb/>
hier das Bild eines Rie&#x017F;en ein.</p><lb/>
              <p>Ein kenntliches Portra&#x0364;t eines 35ja&#x0364;hrigen Glarners von <hi rendition="#b">Linthal,</hi> wohnend an einem<lb/>
&#x017F;ehr ein&#x017F;amen Orte, der in &#x017F;einem &#x017F;echzehnten Jahre unter 12. bis 18. Knaben &#x017F;eines Alters der<lb/>
klein&#x017F;te war, &#x017F;o klein war, daß man ihn zum Nachtmahl zu la&#x017F;&#x017F;en Bedenken trug; im &#x017F;iebenzehn-<lb/>
ten Jahre fieng er an zu &#x017F;chwellen, und zwar zuer&#x017F;t auf der rechten Seite, wo es &#x017F;ich hernach auch<lb/>
wieder verlor. Es war eine Art von Wa&#x017F;&#x017F;er&#x017F;ucht; doch ließ er &#x017F;ich nie abzapfen, ob&#x017F;chon aus jedem<lb/>
Gliede, wenn ers auflegte, Wa&#x017F;&#x017F;er lief. Dieß hielt etwa &#x017F;echs Wochen an. Auch war das Ge-<lb/>
&#x017F;icht ganz ver&#x017F;chwollen. Auf ein gla&#x0364;nzendes Pulver, wie er &#x017F;agt, (vermuthlich Queck&#x017F;ilber) wurde<lb/>
es be&#x017F;&#x017F;er. Nach der Krankheit blieb er noch zwey Jahre zu Hau&#x017F;e, und wuchs in jedem Jahre vier<lb/>
Zoll. Jtzt hat er &#x017F;ieben Fuß und &#x017F;echs Zoll; noch einen Bruder und zwo verheyrathete Schwe-<lb/>
&#x017F;tern von gemeiner Gro&#x0364;ße. Sein Vater und &#x017F;eine Mutter &#x017F;ind eher klein, als groß. Von 1765 bis<lb/>
1777 war er, nach einer Rei&#x017F;e in England und Holland, am wu&#x0364;rtembergi&#x017F;chen Hofe, in welcher<lb/>
Zeit er keine be&#x017F;ondere Krankheit, doch &#x017F;ieben Jahre nach einander das Fieber gehabt hatte. Zu<lb/>
Hau&#x017F;e hatte er &#x017F;ich wenig Bewegung gegeben; oft ein Vierteljahr lang kein Brod gege&#x017F;&#x017F;en. Milch<lb/>
und Ka&#x0364;&#x017F;e und Mehl&#x017F;pei&#x017F;en waren &#x017F;eine einzige Nahrung. Er ißt &#x017F;ehr ma&#x0364;ßig und trinkt wenig Wein.<lb/>
Mit &#x017F;einem &#x017F;chnellen Wachsthum verloren &#x017F;ich u&#x0364;berall die Glieder&#x017F;chmerzen &#x017F;einer fru&#x0364;hern Jahre.<lb/>
Seine Breite und Dicke i&#x017F;t &#x017F;einer Ho&#x0364;he proportionirt. Sein Knochen&#x017F;y&#x017F;tem wuchs in gleichem<lb/><note place="left">Des <hi rendition="#aq">IV.</hi> Ban-<lb/>
des <hi rendition="#aq">VI.</hi> Tafel.<lb/>
Melchior<lb/>
Thut.</note>Schritte mit dem Flei&#x017F;che. Der &#x017F;ichtbare Hauptcharakter der Sta&#x0364;rke liegt auf dem in<lb/>
der Natur noch breiter hervordringenden Backenknochen und im Kinne. Weit und frey<lb/>
und &#x017F;ehr be&#x017F;timmt gezeichnet, &#x017F;tehen die Ohren in der Natur vom Kopfe ab. Auf der<lb/>
Breite der hautigen Stirn i&#x017F;t ein Lineament, das ich noch &#x017F;elten ge&#x017F;ehen &#x2014; ungefa&#x0364;hr &#x2014; &#x2014;</p><lb/>
              <p>So &#x017F;pitz und fein i&#x017F;t die Na&#x017F;e in der Natur nicht, als in der Zeichnung. Sie i&#x017F;t gro&#x0364;ber<lb/>
und flei&#x017F;chiger. Bra&#x0364;unlich i&#x017F;t die Farbe des Ko&#x0364;rpers.</p><lb/>
              <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Phy&#x017F;. Fragm.</hi><hi rendition="#aq">IV</hi><hi rendition="#fr">Ver&#x017F;uch.</hi> K</fw>
              <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0101] auf die menſchliche Bildung. Rieſen und Zwerge. II. Beylage. Zweyte Beylage. Melchior Thut, ein Rieſe. Ohne alle Ruͤckſicht auf unſere oben angefuͤhrte Hypotheſe ruͤcken wir ſo, wie oben die Stoͤberin, hier das Bild eines Rieſen ein. Ein kenntliches Portraͤt eines 35jaͤhrigen Glarners von Linthal, wohnend an einem ſehr einſamen Orte, der in ſeinem ſechzehnten Jahre unter 12. bis 18. Knaben ſeines Alters der kleinſte war, ſo klein war, daß man ihn zum Nachtmahl zu laſſen Bedenken trug; im ſiebenzehn- ten Jahre fieng er an zu ſchwellen, und zwar zuerſt auf der rechten Seite, wo es ſich hernach auch wieder verlor. Es war eine Art von Waſſerſucht; doch ließ er ſich nie abzapfen, obſchon aus jedem Gliede, wenn ers auflegte, Waſſer lief. Dieß hielt etwa ſechs Wochen an. Auch war das Ge- ſicht ganz verſchwollen. Auf ein glaͤnzendes Pulver, wie er ſagt, (vermuthlich Queckſilber) wurde es beſſer. Nach der Krankheit blieb er noch zwey Jahre zu Hauſe, und wuchs in jedem Jahre vier Zoll. Jtzt hat er ſieben Fuß und ſechs Zoll; noch einen Bruder und zwo verheyrathete Schwe- ſtern von gemeiner Groͤße. Sein Vater und ſeine Mutter ſind eher klein, als groß. Von 1765 bis 1777 war er, nach einer Reiſe in England und Holland, am wuͤrtembergiſchen Hofe, in welcher Zeit er keine beſondere Krankheit, doch ſieben Jahre nach einander das Fieber gehabt hatte. Zu Hauſe hatte er ſich wenig Bewegung gegeben; oft ein Vierteljahr lang kein Brod gegeſſen. Milch und Kaͤſe und Mehlſpeiſen waren ſeine einzige Nahrung. Er ißt ſehr maͤßig und trinkt wenig Wein. Mit ſeinem ſchnellen Wachsthum verloren ſich uͤberall die Gliederſchmerzen ſeiner fruͤhern Jahre. Seine Breite und Dicke iſt ſeiner Hoͤhe proportionirt. Sein Knochenſyſtem wuchs in gleichem Schritte mit dem Fleiſche. Der ſichtbare Hauptcharakter der Staͤrke liegt auf dem in der Natur noch breiter hervordringenden Backenknochen und im Kinne. Weit und frey und ſehr beſtimmt gezeichnet, ſtehen die Ohren in der Natur vom Kopfe ab. Auf der Breite der hautigen Stirn iſt ein Lineament, das ich noch ſelten geſehen — ungefaͤhr — — Des IV. Ban- des VI. Tafel. Melchior Thut. So ſpitz und fein iſt die Naſe in der Natur nicht, als in der Zeichnung. Sie iſt groͤber und fleiſchiger. Braͤunlich iſt die Farbe des Koͤrpers. Der Phyſ. Fragm. IV Verſuch. K

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/101
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/101>, abgerufen am 24.11.2024.