Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.IV. Fragment. uns denn bereden: "Die griechischen Künstler haben nicht nach der Natur gearbeitet, nicht aus der"würklichen Körperwelt, die sie umgab, ihre Sinnen unmittelbar affizirte, geschöpft -- sondern "ihre Werke seyen ihre eigenen Geschöpfe? Ganz Geschöpfe ihrer glücklichern Einbildungskraft? "Sie haben gleichsam Erscheinungen aus höhern Welten zu ihren Mustern genommen?" ... Gut; wenn sie so übermenschlich, so göttlich aus sich selber, ohne Beyhülfe würklicher Wesen außer sich erschaffen konnten -- oder wenn sie gar Göttererscheinungen gewürdigt wurden ... Jch denke, so werden wenigstens sie, diese Glücklichen, diese außerordentlichsten Menschen, von nicht ganz ge- meiner, niedriger Bildung gewesen seyn? .. Denn sicherlich -- von Hogarths Carrikaturen kei- ne -- konnte den Apoll erschaffen! ... O! was ich mich schämen muß, das zu sagen! ... Jm Ernste! woher diese Erscheinungen aus der idealischen Welt? aus dem Geisterreiche "unkörperli- "cher Schönheiten?" .... Gerade daher, woher alle Träume aller Träumenden! -- alle Werke aller Wachenden! -- Aus der Welt, die sie umgab! aus den Meistern, die ihnen vorgiengen! aus ihrer individuellen Organisation, die durch die beyden vorhergehenden Dinge so und so affizirt wurde! -- Warum kamen ihnen diese Erscheinungen? und warum kommen sie uns nicht? -- Ganz einfältig deßwegen, weil sie schönere Menschen vor sich hatten; wir hingegen bloß die Bild- säulen dieser edlern Geschöpfe! -- Schönere Menschen, um und an sich, wo sie stunden und gien- gen; nicht bloß eine artige Beyschläferinn, wie bald ein jeder Künstler hat; oder eine Tochter, wie Carl Maratti, der doch schon mit dem steten Anschauen ihrer Schönheit, welche noch die Vater- liebe reinigte und erhöhete, seine himmlischen Marienbilder schuff -- Schönere Menschen! und -- schöner, woher! ... Nicht nur sag' ich: "Frage den, der sie schuff!" sondern -- "sieh auf Kli- "ma! glückliche und abhärtende Zeiten! Lebensart!" -- Noch itzt, sagt Winkelmann -- -- doch wir wollen ihn hierüber im folgenden Fragmente hören. Jeder, der die Schwelle der Philosophie betritt, weiß, und wenn er's nicht wüßte, wär's uns
IV. Fragment. uns denn bereden: „Die griechiſchen Kuͤnſtler haben nicht nach der Natur gearbeitet, nicht aus der„wuͤrklichen Koͤrperwelt, die ſie umgab, ihre Sinnen unmittelbar affizirte, geſchoͤpft — ſondern „ihre Werke ſeyen ihre eigenen Geſchoͤpfe? Ganz Geſchoͤpfe ihrer gluͤcklichern Einbildungskraft? „Sie haben gleichſam Erſcheinungen aus hoͤhern Welten zu ihren Muſtern genommen?“ ... Gut; wenn ſie ſo uͤbermenſchlich, ſo goͤttlich aus ſich ſelber, ohne Beyhuͤlfe wuͤrklicher Weſen außer ſich erſchaffen konnten — oder wenn ſie gar Goͤttererſcheinungen gewuͤrdigt wurden ... Jch denke, ſo werden wenigſtens ſie, dieſe Gluͤcklichen, dieſe außerordentlichſten Menſchen, von nicht ganz ge- meiner, niedriger Bildung geweſen ſeyn? .. Denn ſicherlich — von Hogarths Carrikaturen kei- ne — konnte den Apoll erſchaffen! ... O! was ich mich ſchaͤmen muß, das zu ſagen! ... Jm Ernſte! woher dieſe Erſcheinungen aus der idealiſchen Welt? aus dem Geiſterreiche „unkoͤrperli- „cher Schoͤnheiten?“ .... Gerade daher, woher alle Traͤume aller Traͤumenden! — alle Werke aller Wachenden! — Aus der Welt, die ſie umgab! aus den Meiſtern, die ihnen vorgiengen! aus ihrer individuellen Organiſation, die durch die beyden vorhergehenden Dinge ſo und ſo affizirt wurde! — Warum kamen ihnen dieſe Erſcheinungen? und warum kommen ſie uns nicht? — Ganz einfaͤltig deßwegen, weil ſie ſchoͤnere Menſchen vor ſich hatten; wir hingegen bloß die Bild- ſaͤulen dieſer edlern Geſchoͤpfe! — Schoͤnere Menſchen, um und an ſich, wo ſie ſtunden und gien- gen; nicht bloß eine artige Beyſchlaͤferinn, wie bald ein jeder Kuͤnſtler hat; oder eine Tochter, wie Carl Maratti, der doch ſchon mit dem ſteten Anſchauen ihrer Schoͤnheit, welche noch die Vater- liebe reinigte und erhoͤhete, ſeine himmliſchen Marienbilder ſchuff — Schoͤnere Menſchen! und — ſchoͤner, woher! ... Nicht nur ſag’ ich: „Frage den, der ſie ſchuff!“ ſondern — „ſieh auf Kli- „ma! gluͤckliche und abhaͤrtende Zeiten! Lebensart!“ — Noch itzt, ſagt Winkelmann — — doch wir wollen ihn hieruͤber im folgenden Fragmente hoͤren. Jeder, der die Schwelle der Philoſophie betritt, weiß, und wenn er’s nicht wuͤßte, waͤr’s uns
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IV. Fragment.
uns denn bereden: „Die griechiſchen Kuͤnſtler haben nicht nach der Natur gearbeitet, nicht aus der
„wuͤrklichen Koͤrperwelt, die ſie umgab, ihre Sinnen unmittelbar affizirte, geſchoͤpft — ſondern
„ihre Werke ſeyen ihre eigenen Geſchoͤpfe? Ganz Geſchoͤpfe ihrer gluͤcklichern Einbildungskraft?
„Sie haben gleichſam Erſcheinungen aus hoͤhern Welten zu ihren Muſtern genommen?“ ... Gut;
wenn ſie ſo uͤbermenſchlich, ſo goͤttlich aus ſich ſelber, ohne Beyhuͤlfe wuͤrklicher Weſen außer ſich
erſchaffen konnten — oder wenn ſie gar Goͤttererſcheinungen gewuͤrdigt wurden ... Jch denke,
ſo werden wenigſtens ſie, dieſe Gluͤcklichen, dieſe außerordentlichſten Menſchen, von nicht ganz ge-
meiner, niedriger Bildung geweſen ſeyn? .. Denn ſicherlich — von Hogarths Carrikaturen kei-
ne — konnte den Apoll erſchaffen! ... O! was ich mich ſchaͤmen muß, das zu ſagen! ... Jm
Ernſte! woher dieſe Erſcheinungen aus der idealiſchen Welt? aus dem Geiſterreiche „unkoͤrperli-
„cher Schoͤnheiten?“ .... Gerade daher, woher alle Traͤume aller Traͤumenden! — alle Werke
aller Wachenden! — Aus der Welt, die ſie umgab! aus den Meiſtern, die ihnen vorgiengen! aus
ihrer individuellen Organiſation, die durch die beyden vorhergehenden Dinge ſo und ſo affizirt
wurde! — Warum kamen ihnen dieſe Erſcheinungen? und warum kommen ſie uns nicht? —
Ganz einfaͤltig deßwegen, weil ſie ſchoͤnere Menſchen vor ſich hatten; wir hingegen bloß die Bild-
ſaͤulen dieſer edlern Geſchoͤpfe! — Schoͤnere Menſchen, um und an ſich, wo ſie ſtunden und gien-
gen; nicht bloß eine artige Beyſchlaͤferinn, wie bald ein jeder Kuͤnſtler hat; oder eine Tochter, wie
Carl Maratti, der doch ſchon mit dem ſteten Anſchauen ihrer Schoͤnheit, welche noch die Vater-
liebe reinigte und erhoͤhete, ſeine himmliſchen Marienbilder ſchuff — Schoͤnere Menſchen! und —
ſchoͤner, woher! ... Nicht nur ſag’ ich: „Frage den, der ſie ſchuff!“ ſondern — „ſieh auf Kli-
„ma! gluͤckliche und abhaͤrtende Zeiten! Lebensart!“ — Noch itzt, ſagt Winkelmann — —
doch wir wollen ihn hieruͤber im folgenden Fragmente hoͤren.
Jeder, der die Schwelle der Philoſophie betritt, weiß, und wenn er’s nicht wuͤßte, waͤr’s
drum nicht weniger wahr — „Nichts koͤmmt in die Jmagination, als vermittelſt der Sinne.“ —
Gemeinplatz — aber ewig wahrer Gemeinplatz! Jedes Jdeal, ſo hoch es uͤber unſere Kunſt, Jma-
gination, Gefuͤhl erhaben ſeyn mag, iſt doch nichts, als Zuſammenſchmelzung von geſehenen
Wuͤrklichkeiten. Jmmer und ewig richtet ſich die Kunſt allein nach der Natur — und nach dem,
was ſie geſehen und gehoͤret hat. Sie iſt nichts, als uͤbel- oder wohllautender Wiederhall der in
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/60>, abgerufen am 16.02.2025. |