Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

XII. Abschnitt. V. Fragment.
güte -- unbeschreibliche Reizbarkeit mit ausharrender Geduld. Reinliche Genauheit, und keine
Spur von Pedanterey -- unermüdliche Treue, und für den, der ihn kennt, beleidigende Kalt-
heit -- die im Augenblicke wieder Eifer und Liebeshitze ist. Den Einen Augenblick -- keine Herr-
schaft über sich selbst -- und dann wieder alle mögliche Herrschaft. Ein Arzt mit königlicher Macht.
Jtzt zerschmilzt sein Aug in den sanftesten, menschenfreundlichsten Thränen -- dann durchschneidet
es euch wieder mit dem Blicke des Blitzes. Ein Herzregierender Mann -- den jedoch ein Kind lei-
ten kann, wenn es ihn kennt -- gebildet, keinem Menschen Langeweile zu machen, aber oft Lan-
geweile mit Todesangst zu dulden. -- Jch hoffe nicht, daß man mir Schuld geben werde, "daß
"ich einem Freunde Complimente machen wolle." Es ist Wort für Wort wahr. Und ich denke,
es ist des redlichen Physiognomisten Pflicht, diese Wahrheit, bey Vorlegung eines so merkwürdi-
gen Bildes, nicht zu verschweigen; und ich meyne -- was ich von ihm sage, hat nicht die Miene
der Schmeicheley -- Sonst wäre noch viel zu sagen, das auch wahr wäre, und so vortrefflich, als
wahr. -- Bloß Zutrauen in die Geistesstärke, und Gehorsam gegen die Bitte des Mannes
voll mißkannter -- durch seine eigne Schuld mißkannter Bescheidenheit -- ist's, daß ich nichts
mehr sage.

Nur noch dieß: Jn dem Bilde, das wir vor uns haben, ist das Feste, Starke, Stolze,
Zermalmende des Charakters auffallender, als das Zarte, Empfindsame, Feine -- vornehmlich
weil der Mund und die Gegend um den Mund am meisten verfehlt ist.

Noch bleibe auch die Manier, wie dieß Porträt bearbeitet ist, nicht unbemerkt. Wider
manche Regeln, wenn man will -- und dennoch physiognomisch vortrefflich! So scharf sich vom
Grunde heraushebend! Der äußerste Umriß, ohne eigentlich Umriß zu seyn, so rein und bestimmt.
Alles so in verhältnißmäßiger Weisheit und Kraft gearbeitet; daß sich alles nach der Würde seines
Charakters zeigt, über alles das vielbedeutende Auge sich hervordrängt. Ohr, Hals, Backen und
Kinn .. in welcher Harmonie der Schattirung! -- Man denke sich nun die rechte Schulter zu-
rück, ganz Profil den Leib, unausstehlich kalt und kraftlos würde dieß kraftvolle Gesicht scheinen.

Nachste-

XII. Abſchnitt. V. Fragment.
guͤte — unbeſchreibliche Reizbarkeit mit ausharrender Geduld. Reinliche Genauheit, und keine
Spur von Pedanterey — unermuͤdliche Treue, und fuͤr den, der ihn kennt, beleidigende Kalt-
heit — die im Augenblicke wieder Eifer und Liebeshitze iſt. Den Einen Augenblick — keine Herr-
ſchaft uͤber ſich ſelbſt — und dann wieder alle moͤgliche Herrſchaft. Ein Arzt mit koͤniglicher Macht.
Jtzt zerſchmilzt ſein Aug in den ſanfteſten, menſchenfreundlichſten Thraͤnen — dann durchſchneidet
es euch wieder mit dem Blicke des Blitzes. Ein Herzregierender Mann — den jedoch ein Kind lei-
ten kann, wenn es ihn kennt — gebildet, keinem Menſchen Langeweile zu machen, aber oft Lan-
geweile mit Todesangſt zu dulden. — Jch hoffe nicht, daß man mir Schuld geben werde, „daß
„ich einem Freunde Complimente machen wolle.“ Es iſt Wort fuͤr Wort wahr. Und ich denke,
es iſt des redlichen Phyſiognomiſten Pflicht, dieſe Wahrheit, bey Vorlegung eines ſo merkwuͤrdi-
gen Bildes, nicht zu verſchweigen; und ich meyne — was ich von ihm ſage, hat nicht die Miene
der Schmeicheley — Sonſt waͤre noch viel zu ſagen, das auch wahr waͤre, und ſo vortrefflich, als
wahr. — Bloß Zutrauen in die Geiſtesſtaͤrke, und Gehorſam gegen die Bitte des Mannes
voll mißkannter — durch ſeine eigne Schuld mißkannter Beſcheidenheit — iſt’s, daß ich nichts
mehr ſage.

Nur noch dieß: Jn dem Bilde, das wir vor uns haben, iſt das Feſte, Starke, Stolze,
Zermalmende des Charakters auffallender, als das Zarte, Empfindſame, Feine — vornehmlich
weil der Mund und die Gegend um den Mund am meiſten verfehlt iſt.

Noch bleibe auch die Manier, wie dieß Portraͤt bearbeitet iſt, nicht unbemerkt. Wider
manche Regeln, wenn man will — und dennoch phyſiognomiſch vortrefflich! So ſcharf ſich vom
Grunde heraushebend! Der aͤußerſte Umriß, ohne eigentlich Umriß zu ſeyn, ſo rein und beſtimmt.
Alles ſo in verhaͤltnißmaͤßiger Weisheit und Kraft gearbeitet; daß ſich alles nach der Wuͤrde ſeines
Charakters zeigt, uͤber alles das vielbedeutende Auge ſich hervordraͤngt. Ohr, Hals, Backen und
Kinn .. in welcher Harmonie der Schattirung! — Man denke ſich nun die rechte Schulter zu-
ruͤck, ganz Profil den Leib, unausſtehlich kalt und kraftlos wuͤrde dieß kraftvolle Geſicht ſcheinen.

Nachſte-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0554" n="340"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XII.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">V.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/>
gu&#x0364;te &#x2014; unbe&#x017F;chreibliche Reizbarkeit mit ausharrender Geduld. Reinliche Genauheit, und keine<lb/>
Spur von Pedanterey &#x2014; unermu&#x0364;dliche Treue, und fu&#x0364;r den, der ihn kennt, beleidigende Kalt-<lb/>
heit &#x2014; die im Augenblicke wieder Eifer und Liebeshitze i&#x017F;t. Den Einen Augenblick &#x2014; keine Herr-<lb/>
&#x017F;chaft u&#x0364;ber &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x2014; und dann wieder alle mo&#x0364;gliche Herr&#x017F;chaft. Ein Arzt mit ko&#x0364;niglicher Macht.<lb/>
Jtzt zer&#x017F;chmilzt &#x017F;ein Aug in den &#x017F;anfte&#x017F;ten, men&#x017F;chenfreundlich&#x017F;ten Thra&#x0364;nen &#x2014; dann durch&#x017F;chneidet<lb/>
es euch wieder mit dem Blicke des Blitzes. Ein Herzregierender Mann &#x2014; den jedoch ein Kind lei-<lb/>
ten kann, wenn es ihn kennt &#x2014; gebildet, keinem Men&#x017F;chen Langeweile zu machen, aber oft Lan-<lb/>
geweile mit Todesang&#x017F;t zu dulden. &#x2014; Jch hoffe nicht, daß man mir Schuld geben werde, &#x201E;daß<lb/>
&#x201E;ich einem Freunde Complimente machen wolle.&#x201C; Es i&#x017F;t Wort fu&#x0364;r Wort wahr. Und ich denke,<lb/>
es i&#x017F;t des redlichen Phy&#x017F;iognomi&#x017F;ten Pflicht, die&#x017F;e Wahrheit, bey Vorlegung eines &#x017F;o merkwu&#x0364;rdi-<lb/>
gen Bildes, nicht zu ver&#x017F;chweigen; und ich meyne &#x2014; was ich von ihm &#x017F;age, hat nicht die Miene<lb/>
der Schmeicheley &#x2014; Son&#x017F;t wa&#x0364;re noch viel zu &#x017F;agen, das auch wahr wa&#x0364;re, und &#x017F;o vortrefflich, als<lb/>
wahr. &#x2014; Bloß Zutrauen in die Gei&#x017F;tes&#x017F;ta&#x0364;rke, und Gehor&#x017F;am gegen die Bitte des Mannes<lb/>
voll mißkannter &#x2014; durch &#x017F;eine eigne Schuld mißkannter Be&#x017F;cheidenheit &#x2014; i&#x017F;t&#x2019;s, daß ich nichts<lb/>
mehr &#x017F;age.</p><lb/>
            <p>Nur noch dieß: Jn dem Bilde, das wir vor uns haben, i&#x017F;t das Fe&#x017F;te, Starke, Stolze,<lb/>
Zermalmende des Charakters auffallender, als das Zarte, Empfind&#x017F;ame, Feine &#x2014; vornehmlich<lb/>
weil der Mund und die Gegend um den Mund am mei&#x017F;ten verfehlt i&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>Noch bleibe auch die Manier, wie dieß Portra&#x0364;t bearbeitet i&#x017F;t, nicht unbemerkt. Wider<lb/>
manche Regeln, wenn man will &#x2014; und dennoch phy&#x017F;iognomi&#x017F;ch vortrefflich! So &#x017F;charf &#x017F;ich vom<lb/>
Grunde heraushebend! Der a&#x0364;ußer&#x017F;te Umriß, ohne eigentlich Umriß zu &#x017F;eyn, &#x017F;o rein und be&#x017F;timmt.<lb/>
Alles &#x017F;o in verha&#x0364;ltnißma&#x0364;ßiger Weisheit und Kraft gearbeitet; daß &#x017F;ich alles nach der Wu&#x0364;rde &#x017F;eines<lb/>
Charakters zeigt, u&#x0364;ber alles das vielbedeutende Auge &#x017F;ich hervordra&#x0364;ngt. Ohr, Hals, Backen und<lb/>
Kinn .. in welcher Harmonie der Schattirung! &#x2014; Man denke &#x017F;ich nun die rechte Schulter zu-<lb/>
ru&#x0364;ck, ganz Profil den Leib, unaus&#x017F;tehlich kalt und kraftlos wu&#x0364;rde dieß kraftvolle Ge&#x017F;icht &#x017F;cheinen.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Nach&#x017F;te-</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[340/0554] XII. Abſchnitt. V. Fragment. guͤte — unbeſchreibliche Reizbarkeit mit ausharrender Geduld. Reinliche Genauheit, und keine Spur von Pedanterey — unermuͤdliche Treue, und fuͤr den, der ihn kennt, beleidigende Kalt- heit — die im Augenblicke wieder Eifer und Liebeshitze iſt. Den Einen Augenblick — keine Herr- ſchaft uͤber ſich ſelbſt — und dann wieder alle moͤgliche Herrſchaft. Ein Arzt mit koͤniglicher Macht. Jtzt zerſchmilzt ſein Aug in den ſanfteſten, menſchenfreundlichſten Thraͤnen — dann durchſchneidet es euch wieder mit dem Blicke des Blitzes. Ein Herzregierender Mann — den jedoch ein Kind lei- ten kann, wenn es ihn kennt — gebildet, keinem Menſchen Langeweile zu machen, aber oft Lan- geweile mit Todesangſt zu dulden. — Jch hoffe nicht, daß man mir Schuld geben werde, „daß „ich einem Freunde Complimente machen wolle.“ Es iſt Wort fuͤr Wort wahr. Und ich denke, es iſt des redlichen Phyſiognomiſten Pflicht, dieſe Wahrheit, bey Vorlegung eines ſo merkwuͤrdi- gen Bildes, nicht zu verſchweigen; und ich meyne — was ich von ihm ſage, hat nicht die Miene der Schmeicheley — Sonſt waͤre noch viel zu ſagen, das auch wahr waͤre, und ſo vortrefflich, als wahr. — Bloß Zutrauen in die Geiſtesſtaͤrke, und Gehorſam gegen die Bitte des Mannes voll mißkannter — durch ſeine eigne Schuld mißkannter Beſcheidenheit — iſt’s, daß ich nichts mehr ſage. Nur noch dieß: Jn dem Bilde, das wir vor uns haben, iſt das Feſte, Starke, Stolze, Zermalmende des Charakters auffallender, als das Zarte, Empfindſame, Feine — vornehmlich weil der Mund und die Gegend um den Mund am meiſten verfehlt iſt. Noch bleibe auch die Manier, wie dieß Portraͤt bearbeitet iſt, nicht unbemerkt. Wider manche Regeln, wenn man will — und dennoch phyſiognomiſch vortrefflich! So ſcharf ſich vom Grunde heraushebend! Der aͤußerſte Umriß, ohne eigentlich Umriß zu ſeyn, ſo rein und beſtimmt. Alles ſo in verhaͤltnißmaͤßiger Weisheit und Kraft gearbeitet; daß ſich alles nach der Wuͤrde ſeines Charakters zeigt, uͤber alles das vielbedeutende Auge ſich hervordraͤngt. Ohr, Hals, Backen und Kinn .. in welcher Harmonie der Schattirung! — Man denke ſich nun die rechte Schulter zu- ruͤck, ganz Profil den Leib, unausſtehlich kalt und kraftlos wuͤrde dieß kraftvolle Geſicht ſcheinen. Nachſte-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/554
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/554>, abgerufen am 25.11.2024.