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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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II. Fragment.
"mußte gewiß zuerst sich selbst überwunden haben, oder er wäre seiner Zeit gefolget. Der Mann,
"der die Weisheit so tief im Verborgenen suchte, aber überall suchte, sie immer mehr ahndete,
"unendlich tiefer ahndete, als fand, sie aber dafür überall aufzuwecken strebte; der Mann ist mir
"in seiner Silenbildung eben nach dem Gleichnisse des lieben Alcibiades, wahre Arzneykammer
"und Hieroglyphe. Er mußte so vieles an sich selbst durchgangen seyn, um so allgemein das Loos
"der Menschlichkeit an seinen Brüdern
zu fühlen. Jn seinem Gesichte blieb der Sünder,
"und Barbar immer gegenwärtig, damit die Lehre der Weisheit, wie eine neue Morgenröthe
(diese Morgenröthe also war wenigstens im lebendigen Angesichte sichtbar) "über Trümmern der
"Verwesung desto mehr hervorglänzte. Mich dünkt, in seinem Leben sind hierüber Aeußerungen
"genug, obgleich weder Xenophon noch Plato ihn eigentlich in dieser Tiefe geschildert haben.
"Jeder zeichnet mehr, was er selbst war; der erste -- den guten, klaren, edeln, weisen Mann;
"der zweyte den Denker, den edeln Träumer, den Zerstörer der Vorurtheile und Sophismen; ohne
"Zweifel war Sokrates dieß, aber vielleicht mehr als dieß, und etwas anders. -- So ein edles
"Seherohr die Physiognomik ist, so ist sie uns, wie die ganze Natur -- Handleiterinn, nach
"Gott zu tappen, ihn zu sehen, und zu empfinden; die Führungen im Leben sind, wie die Of-
"fenbarung die wahre nähere Sprache, und das Bild Gottes im Spiegel, im Worte. -- Viel-
"leicht giebt dieß kleine in die Thür gebohrte Löchlein Blick in ein helles weites Gemach, das An-
"tiphysiognomik,
und zugleich die aufmunterndeste, höhere Physiognomik wäre. Lavater und
"Zopyrus sehen recht, und Sokrates war, was beyde in ihm sehen, und nicht sehen, aus einem
"höhern Grunde, gleichsam in Morgenröthe einer zweyten höhern Bildung."

Eine vortreffliche Wahrheitreiche Stelle! herzlichen Dank dem ungenannten Verfasser!
Jch will nichts beyfügen, als ich sehe nicht helle genug ein: -- "wie Führung eines Menschen
"mehr Offenbarung Gottes seyn könne, als sein Gesicht?" Sollte nicht auch die Führung
eines Menschen ganz offenbar -- geöffneten Augen nämlich -- in seinem äußern anschaulich wer-
den? Der von Gott auf den wilderscheinenden Stamm eingepfropfte zärtere Zweig -- (wenn je
dieß für möglich gehalten werden sollte? wenn man's nicht viel natürlicher findet, daß alles gute
göttliche aus dem Menschen, und eigentlich nicht in den Menschen komme) -- sollte der nicht im-
mer noch sichtbar seyn? -- Aber Gras auf den Dächern verdorrend, ehe man's ausrauft,

ist
II. Fragment.
„mußte gewiß zuerſt ſich ſelbſt uͤberwunden haben, oder er waͤre ſeiner Zeit gefolget. Der Mann,
„der die Weisheit ſo tief im Verborgenen ſuchte, aber uͤberall ſuchte, ſie immer mehr ahndete,
„unendlich tiefer ahndete, als fand, ſie aber dafuͤr uͤberall aufzuwecken ſtrebte; der Mann iſt mir
„in ſeiner Silenbildung eben nach dem Gleichniſſe des lieben Alcibiades, wahre Arzneykammer
„und Hieroglyphe. Er mußte ſo vieles an ſich ſelbſt durchgangen ſeyn, um ſo allgemein das Loos
„der Menſchlichkeit an ſeinen Bruͤdern
zu fuͤhlen. Jn ſeinem Geſichte blieb der Suͤnder,
„und Barbar immer gegenwaͤrtig, damit die Lehre der Weisheit, wie eine neue Morgenroͤthe
(dieſe Morgenroͤthe alſo war wenigſtens im lebendigen Angeſichte ſichtbar) „uͤber Truͤmmern der
„Verweſung deſto mehr hervorglaͤnzte. Mich duͤnkt, in ſeinem Leben ſind hieruͤber Aeußerungen
„genug, obgleich weder Xenophon noch Plato ihn eigentlich in dieſer Tiefe geſchildert haben.
„Jeder zeichnet mehr, was er ſelbſt war; der erſte — den guten, klaren, edeln, weiſen Mann;
„der zweyte den Denker, den edeln Traͤumer, den Zerſtoͤrer der Vorurtheile und Sophismen; ohne
„Zweifel war Sokrates dieß, aber vielleicht mehr als dieß, und etwas anders. — So ein edles
„Seherohr die Phyſiognomik iſt, ſo iſt ſie uns, wie die ganze Natur — Handleiterinn, nach
„Gott zu tappen, ihn zu ſehen, und zu empfinden; die Fuͤhrungen im Leben ſind, wie die Of-
„fenbarung die wahre naͤhere Sprache, und das Bild Gottes im Spiegel, im Worte. — Viel-
„leicht giebt dieß kleine in die Thuͤr gebohrte Loͤchlein Blick in ein helles weites Gemach, das An-
„tiphyſiognomik,
und zugleich die aufmunterndeſte, hoͤhere Phyſiognomik waͤre. Lavater und
Zopyrus ſehen recht, und Sokrates war, was beyde in ihm ſehen, und nicht ſehen, aus einem
„hoͤhern Grunde, gleichſam in Morgenroͤthe einer zweyten hoͤhern Bildung.

Eine vortreffliche Wahrheitreiche Stelle! herzlichen Dank dem ungenannten Verfaſſer!
Jch will nichts beyfuͤgen, als ich ſehe nicht helle genug ein: — „wie Fuͤhrung eines Menſchen
mehr Offenbarung Gottes ſeyn koͤnne, als ſein Geſicht?“ Sollte nicht auch die Fuͤhrung
eines Menſchen ganz offenbar — geoͤffneten Augen naͤmlich — in ſeinem aͤußern anſchaulich wer-
den? Der von Gott auf den wilderſcheinenden Stamm eingepfropfte zaͤrtere Zweig — (wenn je
dieß fuͤr moͤglich gehalten werden ſollte? wenn man’s nicht viel natuͤrlicher findet, daß alles gute
goͤttliche aus dem Menſchen, und eigentlich nicht in den Menſchen komme) — ſollte der nicht im-
mer noch ſichtbar ſeyn? — Aber Gras auf den Daͤchern verdorrend, ehe man’s ausrauft,

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[26/0042] II. Fragment. „mußte gewiß zuerſt ſich ſelbſt uͤberwunden haben, oder er waͤre ſeiner Zeit gefolget. Der Mann, „der die Weisheit ſo tief im Verborgenen ſuchte, aber uͤberall ſuchte, ſie immer mehr ahndete, „unendlich tiefer ahndete, als fand, ſie aber dafuͤr uͤberall aufzuwecken ſtrebte; der Mann iſt mir „in ſeiner Silenbildung eben nach dem Gleichniſſe des lieben Alcibiades, wahre Arzneykammer „und Hieroglyphe. Er mußte ſo vieles an ſich ſelbſt durchgangen ſeyn, um ſo allgemein das Loos „der Menſchlichkeit an ſeinen Bruͤdern zu fuͤhlen. Jn ſeinem Geſichte blieb der Suͤnder, „und Barbar immer gegenwaͤrtig, damit die Lehre der Weisheit, wie eine neue Morgenroͤthe (dieſe Morgenroͤthe alſo war wenigſtens im lebendigen Angeſichte ſichtbar) „uͤber Truͤmmern der „Verweſung deſto mehr hervorglaͤnzte. Mich duͤnkt, in ſeinem Leben ſind hieruͤber Aeußerungen „genug, obgleich weder Xenophon noch Plato ihn eigentlich in dieſer Tiefe geſchildert haben. „Jeder zeichnet mehr, was er ſelbſt war; der erſte — den guten, klaren, edeln, weiſen Mann; „der zweyte den Denker, den edeln Traͤumer, den Zerſtoͤrer der Vorurtheile und Sophismen; ohne „Zweifel war Sokrates dieß, aber vielleicht mehr als dieß, und etwas anders. — So ein edles „Seherohr die Phyſiognomik iſt, ſo iſt ſie uns, wie die ganze Natur — Handleiterinn, nach „Gott zu tappen, ihn zu ſehen, und zu empfinden; die Fuͤhrungen im Leben ſind, wie die Of- „fenbarung die wahre naͤhere Sprache, und das Bild Gottes im Spiegel, im Worte. — Viel- „leicht giebt dieß kleine in die Thuͤr gebohrte Loͤchlein Blick in ein helles weites Gemach, das An- „tiphyſiognomik, und zugleich die aufmunterndeſte, hoͤhere Phyſiognomik waͤre. Lavater und „Zopyrus ſehen recht, und Sokrates war, was beyde in ihm ſehen, und nicht ſehen, aus einem „hoͤhern Grunde, gleichſam in Morgenroͤthe einer zweyten hoͤhern Bildung.“ Eine vortreffliche Wahrheitreiche Stelle! herzlichen Dank dem ungenannten Verfaſſer! Jch will nichts beyfuͤgen, als ich ſehe nicht helle genug ein: — „wie Fuͤhrung eines Menſchen „mehr Offenbarung Gottes ſeyn koͤnne, als ſein Geſicht?“ Sollte nicht auch die Fuͤhrung eines Menſchen ganz offenbar — geoͤffneten Augen naͤmlich — in ſeinem aͤußern anſchaulich wer- den? Der von Gott auf den wilderſcheinenden Stamm eingepfropfte zaͤrtere Zweig — (wenn je dieß fuͤr moͤglich gehalten werden ſollte? wenn man’s nicht viel natuͤrlicher findet, daß alles gute goͤttliche aus dem Menſchen, und eigentlich nicht in den Menſchen komme) — ſollte der nicht im- mer noch ſichtbar ſeyn? — Aber Gras auf den Daͤchern verdorrend, ehe man’s ausrauft, iſt

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/42>, abgerufen am 23.11.2024.