Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
Religiose.
Achtes Fragment.
Ein männliches Profil. Pf.

Richts in der Welt, selbst das glänzendste Verdienst, wird so sehr beneidet, als die Freundschaft.
Man glaubt so selten an Freundschaft, als an Christenthum. Man hat es stillschweigend gleichsam
ausgemacht, daß es wider alle Gesetze der Höflichkeit und des Wohlstandes laufe, in einer Gesell-
schaft gesitteter Menschen von dem einen oder von dem andern zu reden.

Also weiß ich nicht, ob ich von meinem Freunde reden darf? reden von meines Freundes
Religion? Als Physiognomist, dächt' ich, sollt' ich am meisten, sollt' ich beynahe nur von Freun-
den
reden; wer ist mir besser bekannt? wer am öftersten, am genauesten von mir beobachtet? Wer
will mir's doch abläugnen, was ich so ohn' alle Furcht des Gegentheils weiß, wie ich weiß, daß ich
Augen habe. Jch habe vom Anschauen, Beobachten und Studieren der Physiognomien meiner we-
nigen Freunde mehr Physiognomik gelernet, als aus allen übrigen lebenden und leblosen, gemahlten,
gezeichneten, gestochnen Menschengesichtern, alle Bücher mit eingerechnet -- und dennoch soll der
Physiognomist nicht von seinen Freunden reden dürfen? O Welt! o Jahrhundert, in das ich ge-
worfen bin! laß mich eine Zähre weinen, und .... verstummen! ... Nein! nicht ganz verstummen.
Jch schreibe ja für Menschen, und nicht für .. Hunde -- Sey übrigens sicher, Leser, vor der Stim-
me des Enthusiasmus; (nunmehr das einzige Gespenst, dem das Jahrhundert hohnlacht; der ein-
zige Satan, den es glaubt, und im Namen der gesunden Vernunft -- austreibt!) Jch will eiskalt
schreiben, um deinetwillen, unerbittliches Jahrhundert -- noch mehr aber, um deine Bescheidenheit
nicht zu beleidigen, bester unter allen meinen Freunden, und das Heilige, deine Religion, nicht
Preiß zu geben.

Des III. Ban-
des LXXII.
Tafel.

Sehr leicht zu kennen, und dennoch sehr unwahr ist das Bild, das wir vor uns ha-
ben -- wer Zeichnung und Physiognomie versteht, wird gleich, auch ohne Kenntniß des
Urbildes, Verspannung, Disharmonie im Ganzen wahrnehmen. Es ist kein wahrer Blick da; keine
Einfachheit; kein bestimmter Moment; -- Zusammensetzung verschiedener wahrer, halbwahrer und
angedichteter, sich widersprechender Momente -- ist auffallend. Dieß Auge, freylich kein gemeines
Auge -- aber es harmonirt nicht mit dem Bogen der trefflichen Stirne! -- Die um etwas zu lange,

und
K k 2
Religioſe.
Achtes Fragment.
Ein maͤnnliches Profil. Pf.

Richts in der Welt, ſelbſt das glaͤnzendſte Verdienſt, wird ſo ſehr beneidet, als die Freundſchaft.
Man glaubt ſo ſelten an Freundſchaft, als an Chriſtenthum. Man hat es ſtillſchweigend gleichſam
ausgemacht, daß es wider alle Geſetze der Hoͤflichkeit und des Wohlſtandes laufe, in einer Geſell-
ſchaft geſitteter Menſchen von dem einen oder von dem andern zu reden.

Alſo weiß ich nicht, ob ich von meinem Freunde reden darf? reden von meines Freundes
Religion? Als Phyſiognomiſt, daͤcht’ ich, ſollt’ ich am meiſten, ſollt’ ich beynahe nur von Freun-
den
reden; wer iſt mir beſſer bekannt? wer am oͤfterſten, am genaueſten von mir beobachtet? Wer
will mir’s doch ablaͤugnen, was ich ſo ohn’ alle Furcht des Gegentheils weiß, wie ich weiß, daß ich
Augen habe. Jch habe vom Anſchauen, Beobachten und Studieren der Phyſiognomien meiner we-
nigen Freunde mehr Phyſiognomik gelernet, als aus allen uͤbrigen lebenden und lebloſen, gemahlten,
gezeichneten, geſtochnen Menſchengeſichtern, alle Buͤcher mit eingerechnet — und dennoch ſoll der
Phyſiognomiſt nicht von ſeinen Freunden reden duͤrfen? O Welt! o Jahrhundert, in das ich ge-
worfen bin! laß mich eine Zaͤhre weinen, und .... verſtummen! ... Nein! nicht ganz verſtummen.
Jch ſchreibe ja fuͤr Menſchen, und nicht fuͤr .. Hunde — Sey uͤbrigens ſicher, Leſer, vor der Stim-
me des Enthuſiasmus; (nunmehr das einzige Geſpenſt, dem das Jahrhundert hohnlacht; der ein-
zige Satan, den es glaubt, und im Namen der geſunden Vernunft — austreibt!) Jch will eiskalt
ſchreiben, um deinetwillen, unerbittliches Jahrhundert — noch mehr aber, um deine Beſcheidenheit
nicht zu beleidigen, beſter unter allen meinen Freunden, und das Heilige, deine Religion, nicht
Preiß zu geben.

Des III. Ban-
des LXXII.
Tafel.

Sehr leicht zu kennen, und dennoch ſehr unwahr iſt das Bild, das wir vor uns ha-
ben — wer Zeichnung und Phyſiognomie verſteht, wird gleich, auch ohne Kenntniß des
Urbildes, Verſpannung, Disharmonie im Ganzen wahrnehmen. Es iſt kein wahrer Blick da; keine
Einfachheit; kein beſtimmter Moment; — Zuſammenſetzung verſchiedener wahrer, halbwahrer und
angedichteter, ſich widerſprechender Momente — iſt auffallend. Dieß Auge, freylich kein gemeines
Auge — aber es harmonirt nicht mit dem Bogen der trefflichen Stirne! — Die um etwas zu lange,

und
K k 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0419" n="259"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Religio&#x017F;e.</hi> </hi> </fw><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Achtes Fragment.<lb/><hi rendition="#g">Ein ma&#x0364;nnliches Profil.</hi> <hi rendition="#aq">Pf.</hi></hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">R</hi>ichts in der Welt, &#x017F;elb&#x017F;t das gla&#x0364;nzend&#x017F;te Verdien&#x017F;t, wird &#x017F;o &#x017F;ehr beneidet, als die Freund&#x017F;chaft.<lb/>
Man glaubt &#x017F;o &#x017F;elten an Freund&#x017F;chaft, als an Chri&#x017F;tenthum. Man hat es &#x017F;till&#x017F;chweigend gleich&#x017F;am<lb/>
ausgemacht, daß es wider alle Ge&#x017F;etze der Ho&#x0364;flichkeit und des Wohl&#x017F;tandes laufe, in einer Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft ge&#x017F;itteter Men&#x017F;chen von dem einen oder von dem andern zu reden.</p><lb/>
          <p>Al&#x017F;o weiß ich nicht, ob ich von meinem Freunde reden darf? reden von meines Freundes<lb/>
Religion? Als <hi rendition="#fr">Phy&#x017F;iognomi&#x017F;t,</hi> da&#x0364;cht&#x2019; ich, &#x017F;ollt&#x2019; ich am mei&#x017F;ten, &#x017F;ollt&#x2019; ich beynahe <hi rendition="#fr">nur</hi> von <hi rendition="#fr">Freun-<lb/>
den</hi> reden; wer i&#x017F;t mir be&#x017F;&#x017F;er bekannt? wer am o&#x0364;fter&#x017F;ten, am genaue&#x017F;ten von mir beobachtet? Wer<lb/>
will mir&#x2019;s doch abla&#x0364;ugnen, was ich &#x017F;o ohn&#x2019; alle Furcht des Gegentheils weiß, wie ich weiß, daß ich<lb/>
Augen habe. Jch habe vom An&#x017F;chauen, Beobachten und Studieren der Phy&#x017F;iognomien meiner we-<lb/>
nigen Freunde mehr Phy&#x017F;iognomik gelernet, als aus allen u&#x0364;brigen lebenden und leblo&#x017F;en, gemahlten,<lb/>
gezeichneten, ge&#x017F;tochnen Men&#x017F;chenge&#x017F;ichtern, alle Bu&#x0364;cher mit eingerechnet &#x2014; und dennoch &#x017F;oll der<lb/>
Phy&#x017F;iognomi&#x017F;t nicht von &#x017F;einen Freunden reden du&#x0364;rfen? O Welt! o Jahrhundert, in das ich ge-<lb/>
worfen bin! laß mich eine Za&#x0364;hre weinen, und .... ver&#x017F;tummen! ... Nein! nicht ganz ver&#x017F;tummen.<lb/>
Jch &#x017F;chreibe ja fu&#x0364;r Men&#x017F;chen, und nicht fu&#x0364;r .. Hunde &#x2014; Sey u&#x0364;brigens &#x017F;icher, Le&#x017F;er, vor der Stim-<lb/>
me des Enthu&#x017F;iasmus; (nunmehr das einzige Ge&#x017F;pen&#x017F;t, dem das Jahrhundert hohnlacht; der ein-<lb/>
zige Satan, den es glaubt, und im Namen der ge&#x017F;unden Vernunft &#x2014; austreibt!) Jch will eiskalt<lb/>
&#x017F;chreiben, um deinetwillen, unerbittliches Jahrhundert &#x2014; noch mehr aber, um deine Be&#x017F;cheidenheit<lb/>
nicht zu beleidigen, be&#x017F;ter unter allen meinen Freunden, und das Heilige, deine Religion, nicht<lb/>
Preiß zu geben.</p><lb/>
          <note place="left">Des <hi rendition="#aq">III.</hi> Ban-<lb/>
des <hi rendition="#aq">LXXII.</hi><lb/>
Tafel.</note>
          <p>Sehr leicht zu kennen, und dennoch &#x017F;ehr unwahr i&#x017F;t das Bild, das wir vor uns ha-<lb/>
ben &#x2014; wer Zeichnung und Phy&#x017F;iognomie ver&#x017F;teht, wird gleich, auch ohne Kenntniß des<lb/>
Urbildes, Ver&#x017F;pannung, Disharmonie im Ganzen wahrnehmen. Es i&#x017F;t kein wahrer Blick da; keine<lb/>
Einfachheit; kein be&#x017F;timmter Moment; &#x2014; Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung ver&#x017F;chiedener wahrer, halbwahrer und<lb/>
angedichteter, &#x017F;ich wider&#x017F;prechender Momente &#x2014; i&#x017F;t auffallend. Dieß Auge, freylich kein gemeines<lb/>
Auge &#x2014; aber es harmonirt nicht mit dem Bogen der trefflichen Stirne! &#x2014; Die um etwas zu lange,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">K k 2</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[259/0419] Religioſe. Achtes Fragment. Ein maͤnnliches Profil. Pf. Richts in der Welt, ſelbſt das glaͤnzendſte Verdienſt, wird ſo ſehr beneidet, als die Freundſchaft. Man glaubt ſo ſelten an Freundſchaft, als an Chriſtenthum. Man hat es ſtillſchweigend gleichſam ausgemacht, daß es wider alle Geſetze der Hoͤflichkeit und des Wohlſtandes laufe, in einer Geſell- ſchaft geſitteter Menſchen von dem einen oder von dem andern zu reden. Alſo weiß ich nicht, ob ich von meinem Freunde reden darf? reden von meines Freundes Religion? Als Phyſiognomiſt, daͤcht’ ich, ſollt’ ich am meiſten, ſollt’ ich beynahe nur von Freun- den reden; wer iſt mir beſſer bekannt? wer am oͤfterſten, am genaueſten von mir beobachtet? Wer will mir’s doch ablaͤugnen, was ich ſo ohn’ alle Furcht des Gegentheils weiß, wie ich weiß, daß ich Augen habe. Jch habe vom Anſchauen, Beobachten und Studieren der Phyſiognomien meiner we- nigen Freunde mehr Phyſiognomik gelernet, als aus allen uͤbrigen lebenden und lebloſen, gemahlten, gezeichneten, geſtochnen Menſchengeſichtern, alle Buͤcher mit eingerechnet — und dennoch ſoll der Phyſiognomiſt nicht von ſeinen Freunden reden duͤrfen? O Welt! o Jahrhundert, in das ich ge- worfen bin! laß mich eine Zaͤhre weinen, und .... verſtummen! ... Nein! nicht ganz verſtummen. Jch ſchreibe ja fuͤr Menſchen, und nicht fuͤr .. Hunde — Sey uͤbrigens ſicher, Leſer, vor der Stim- me des Enthuſiasmus; (nunmehr das einzige Geſpenſt, dem das Jahrhundert hohnlacht; der ein- zige Satan, den es glaubt, und im Namen der geſunden Vernunft — austreibt!) Jch will eiskalt ſchreiben, um deinetwillen, unerbittliches Jahrhundert — noch mehr aber, um deine Beſcheidenheit nicht zu beleidigen, beſter unter allen meinen Freunden, und das Heilige, deine Religion, nicht Preiß zu geben. Sehr leicht zu kennen, und dennoch ſehr unwahr iſt das Bild, das wir vor uns ha- ben — wer Zeichnung und Phyſiognomie verſteht, wird gleich, auch ohne Kenntniß des Urbildes, Verſpannung, Disharmonie im Ganzen wahrnehmen. Es iſt kein wahrer Blick da; keine Einfachheit; kein beſtimmter Moment; — Zuſammenſetzung verſchiedener wahrer, halbwahrer und angedichteter, ſich widerſprechender Momente — iſt auffallend. Dieß Auge, freylich kein gemeines Auge — aber es harmonirt nicht mit dem Bogen der trefflichen Stirne! — Die um etwas zu lange, und K k 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/419
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/419>, abgerufen am 19.05.2024.