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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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X. Abschnitt. I. Fragment.
Er schneidet nicht, wo er nicht gesäet, und sammelt nicht, wo er nicht hingelegt hat.
Er fordert von dem Heyden nicht die Tugend des Jsraeliten, bis er sich ihm als den Gott
Jsraels
geoffenbaret hat, und von dem Jsraeliten nicht die Tugend des Christen, bis er sich ihm
als den Gott Jesu Christi geoffenbaret hat.

Nicht Christustugenden, Christusreligion würde, dürfte vom sterblichen Menschen
die Gottheit fordern -- wenn sie nicht vor der Grundlegung der Welt in Christus vorer-
wählt und bestimmt wären, diesem Ebenbilde sein selbst gleichförmig zu werden.

Es läßt sich kein höherer Beweis von der Göttlichkeit der Menschenwürde gedenken -- als
diese Forderung, diese Zumuthung Gottes, diese Erweckung zur Religion seines Sohnes;
nichts, das dem, dem die Augen erleuchtet und geöffnet sind, die menschliche Gestalt wichtiger
und heiliger mache.

Wer sein Kind gehen heißt, und kein Bösewicht, oder kein Narr ist, setzt voraus, daß das
Kind gehen könne, wenigstens an der Vaterhand; setzt, wenn er ihm seine Vater hand anbietet --
mit dem Worte: "Komm und folge mir!" -- voraus, daß es Vermögen habe zu folgen, mithin,
daß es auf eine ähnliche Weise gebildet seyn müsse.

Auf eine ähnliche Weise, wie Christus, sind wir gebildet, oder -- Gott kann nicht von uns
fordern, daß wir seinen Fußstapfen nachfolgen sollen -- Gottesfähig ist also unsere Bildung, und
des Gottes fähig, den Christus seinen Vater nennt, dessen unmittelbarstes vollkommenstes
Ebenbild er ist. Bildung also nicht nur zur Naturreligion; Bildung zur Christusreligion:
Das ist's, was wir am meisten, was wir immer mehr an der Menschheit verehren sollen. Bil-
dung
-- nicht nur für menschliche, nein für göttliche Tugend -- nicht nur für die gegenwär-
tige, sichtbare,
immer mit Tod und Untergang kämpfende Welt; Bildung für eine unsichtbare,
die nicht vergeht, die ewig ist, wie ihr Schöpfer; Bildung, die in jedem Vorfalle der Rein-
tegration
zur Aehnlichkeit mit Christus fähig ist -- nämlich durch Jesus Christus.

Und diese Bildung haben alle, alle, alle Kinder Adams -- auch der verworfenste Sünder
hat sie -- so gewiß als er Menschengestalt hat.

Und Religion und Glaube und Erhebung ins unsichtbare Gottesreich -- dieß -- Men-
schen
wollt ihr Menschen rauben? Und Christusreligion, Religion des besten, des weisesten, des

mächtigst-

X. Abſchnitt. I. Fragment.
Er ſchneidet nicht, wo er nicht geſaͤet, und ſammelt nicht, wo er nicht hingelegt hat.
Er fordert von dem Heyden nicht die Tugend des Jſraeliten, bis er ſich ihm als den Gott
Jſraels
geoffenbaret hat, und von dem Jſraeliten nicht die Tugend des Chriſten, bis er ſich ihm
als den Gott Jeſu Chriſti geoffenbaret hat.

Nicht Chriſtustugenden, Chriſtusreligion wuͤrde, duͤrfte vom ſterblichen Menſchen
die Gottheit fordern — wenn ſie nicht vor der Grundlegung der Welt in Chriſtus vorer-
waͤhlt und beſtimmt waͤren, dieſem Ebenbilde ſein ſelbſt gleichfoͤrmig zu werden.

Es laͤßt ſich kein hoͤherer Beweis von der Goͤttlichkeit der Menſchenwuͤrde gedenken — als
dieſe Forderung, dieſe Zumuthung Gottes, dieſe Erweckung zur Religion ſeines Sohnes;
nichts, das dem, dem die Augen erleuchtet und geoͤffnet ſind, die menſchliche Geſtalt wichtiger
und heiliger mache.

Wer ſein Kind gehen heißt, und kein Boͤſewicht, oder kein Narr iſt, ſetzt voraus, daß das
Kind gehen koͤnne, wenigſtens an der Vaterhand; ſetzt, wenn er ihm ſeine Vater hand anbietet —
mit dem Worte: „Komm und folge mir!“ — voraus, daß es Vermoͤgen habe zu folgen, mithin,
daß es auf eine aͤhnliche Weiſe gebildet ſeyn muͤſſe.

Auf eine aͤhnliche Weiſe, wie Chriſtus, ſind wir gebildet, oder — Gott kann nicht von uns
fordern, daß wir ſeinen Fußſtapfen nachfolgen ſollen — Gottesfaͤhig iſt alſo unſere Bildung, und
des Gottes faͤhig, den Chriſtus ſeinen Vater nennt, deſſen unmittelbarſtes vollkommenſtes
Ebenbild er iſt. Bildung alſo nicht nur zur Naturreligion; Bildung zur Chriſtusreligion:
Das iſt’s, was wir am meiſten, was wir immer mehr an der Menſchheit verehren ſollen. Bil-
dung
— nicht nur fuͤr menſchliche, nein fuͤr goͤttliche Tugend — nicht nur fuͤr die gegenwaͤr-
tige, ſichtbare,
immer mit Tod und Untergang kaͤmpfende Welt; Bildung fuͤr eine unſichtbare,
die nicht vergeht, die ewig iſt, wie ihr Schoͤpfer; Bildung, die in jedem Vorfalle der Rein-
tegration
zur Aehnlichkeit mit Chriſtus faͤhig iſt — naͤmlich durch Jeſus Chriſtus.

Und dieſe Bildung haben alle, alle, alle Kinder Adams — auch der verworfenſte Suͤnder
hat ſie — ſo gewiß als er Menſchengeſtalt hat.

Und Religion und Glaube und Erhebung ins unſichtbare Gottesreich — dieß — Men-
ſchen
wollt ihr Menſchen rauben? Und Chriſtusreligion, Religion des beſten, des weiſeſten, des

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[234/0382] X. Abſchnitt. I. Fragment. Er ſchneidet nicht, wo er nicht geſaͤet, und ſammelt nicht, wo er nicht hingelegt hat. Er fordert von dem Heyden nicht die Tugend des Jſraeliten, bis er ſich ihm als den Gott Jſraels geoffenbaret hat, und von dem Jſraeliten nicht die Tugend des Chriſten, bis er ſich ihm als den Gott Jeſu Chriſti geoffenbaret hat. Nicht Chriſtustugenden, Chriſtusreligion wuͤrde, duͤrfte vom ſterblichen Menſchen die Gottheit fordern — wenn ſie nicht vor der Grundlegung der Welt in Chriſtus vorer- waͤhlt und beſtimmt waͤren, dieſem Ebenbilde ſein ſelbſt gleichfoͤrmig zu werden. Es laͤßt ſich kein hoͤherer Beweis von der Goͤttlichkeit der Menſchenwuͤrde gedenken — als dieſe Forderung, dieſe Zumuthung Gottes, dieſe Erweckung zur Religion ſeines Sohnes; nichts, das dem, dem die Augen erleuchtet und geoͤffnet ſind, die menſchliche Geſtalt wichtiger und heiliger mache. Wer ſein Kind gehen heißt, und kein Boͤſewicht, oder kein Narr iſt, ſetzt voraus, daß das Kind gehen koͤnne, wenigſtens an der Vaterhand; ſetzt, wenn er ihm ſeine Vater hand anbietet — mit dem Worte: „Komm und folge mir!“ — voraus, daß es Vermoͤgen habe zu folgen, mithin, daß es auf eine aͤhnliche Weiſe gebildet ſeyn muͤſſe. Auf eine aͤhnliche Weiſe, wie Chriſtus, ſind wir gebildet, oder — Gott kann nicht von uns fordern, daß wir ſeinen Fußſtapfen nachfolgen ſollen — Gottesfaͤhig iſt alſo unſere Bildung, und des Gottes faͤhig, den Chriſtus ſeinen Vater nennt, deſſen unmittelbarſtes vollkommenſtes Ebenbild er iſt. Bildung alſo nicht nur zur Naturreligion; Bildung zur Chriſtusreligion: Das iſt’s, was wir am meiſten, was wir immer mehr an der Menſchheit verehren ſollen. Bil- dung — nicht nur fuͤr menſchliche, nein fuͤr goͤttliche Tugend — nicht nur fuͤr die gegenwaͤr- tige, ſichtbare, immer mit Tod und Untergang kaͤmpfende Welt; Bildung fuͤr eine unſichtbare, die nicht vergeht, die ewig iſt, wie ihr Schoͤpfer; Bildung, die in jedem Vorfalle der Rein- tegration zur Aehnlichkeit mit Chriſtus faͤhig iſt — naͤmlich durch Jeſus Chriſtus. Und dieſe Bildung haben alle, alle, alle Kinder Adams — auch der verworfenſte Suͤnder hat ſie — ſo gewiß als er Menſchengeſtalt hat. Und Religion und Glaube und Erhebung ins unſichtbare Gottesreich — dieß — Men- ſchen wollt ihr Menſchen rauben? Und Chriſtusreligion, Religion des beſten, des weiſeſten, des maͤchtigſt-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/382>, abgerufen am 22.11.2024.