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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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IX. Abschnitt. V. Fragment.
1) Du edler, frommer -- Miller! Freudenthränenschöpfer, durch deinen oft so richtig
mahlenden -- obgleich oft mich ermüdenden -- Siegwart. Die Stirn und das Auge des hellzeich-
nenden, sanftfühlenden Dichters. Güte -- allenfalls Schwäche in Unterlippe und Kinn -- wenig-
stens hier kein scharfscheidender Verstand.
2) Asmus ... Omnia sua secum portans. Weder Schwachkopf, noch Scharfkopf. Ge-
sunder, schlichtguter .. aber durchaus nicht fortdringender, reihender, gliedernder Verstand. Hell und
richtig und rein wird er sehen und "richten, was vor ihn kömmt; dem Reichen als dem Armen, dem
Armen als dem Reichen; niemanden zu lieb noch zu leid." Kurz! schlecht und recht! einfältig und
gerade! Genie des Wahrheitsinnes! Genie des Herzens -- Armuth und Zufriedenheit! Demuth
und unerkäufliche Ruhe und Festigkeit des Sinnes -- und in der Form und den Zügen des Profils
die Abgeschliffenheit, Unangespanntheit eines freyen Naturempfinders.
3) Wie viel mehr Wissens, Forschens, Durchdenkens in diesem Profile! wie viel mehr Po-
litur und Geschmack! schon diese schärfere Ecke der Stirne -- denn noch der Untertheil des Gesich-
tes, von der Oberlippe an bis auf die Mitte des Kinnes -- wie viel mehr Ausdruck drinn von for-
schender,
treffender Weisheit! -- und überdieß, welche Güte, Treue, Truglosigkeit in diesem Um-
risse! Die etwas gedehnte Form des Gesichtes von der Nasenwurzel an scheint einen Flor von
Schwachheit drüber zu ziehen -- oder von Poesie? Wie drückt dieß Gesicht die Weisheit und die
Dichtungsgabe des Verfassers von Allwills Papieren aus!
4 und 5) Entweder zween Brüder, oder dasselbe Gesicht, zu ungleicher Zeit -- in ungleicher
Stellung nicht genau gezeichnet -- allemal edle, geist- und herzreiche Gesichter -- Die Stirn 4. hat
mehr Gedächtniß, 5. mehr gedrängtern Verstand. Nase 5. schöner und weiser. Jm Mund und
Kinn Weisheit, Ruhe, Bescheidenheit -- Die Stirn 5. hat etwas dichterisches. Nicht so die Stirn
4. Keine Nase von beyden hat Ausdruck von poetischer Kraft. Der untere Theil von 5. hat viel
feinen, ruhigen Beobachtungssinn. Die Stirn 4. hat zu feste Knochen, um dichten zu können; (das
will
IX. Abſchnitt. V. Fragment.
1) Du edler, frommer — Miller! Freudenthraͤnenſchoͤpfer, durch deinen oft ſo richtig
mahlenden — obgleich oft mich ermuͤdenden — Siegwart. Die Stirn und das Auge des hellzeich-
nenden, ſanftfuͤhlenden Dichters. Guͤte — allenfalls Schwaͤche in Unterlippe und Kinn — wenig-
ſtens hier kein ſcharfſcheidender Verſtand.
2) Asmus ... Omnia ſua ſecum portans. Weder Schwachkopf, noch Scharfkopf. Ge-
ſunder, ſchlichtguter .. aber durchaus nicht fortdringender, reihender, gliedernder Verſtand. Hell und
richtig und rein wird er ſehen und „richten, was vor ihn koͤmmt; dem Reichen als dem Armen, dem
Armen als dem Reichen; niemanden zu lieb noch zu leid.“ Kurz! ſchlecht und recht! einfaͤltig und
gerade! Genie des Wahrheitſinnes! Genie des Herzens — Armuth und Zufriedenheit! Demuth
und unerkaͤufliche Ruhe und Feſtigkeit des Sinnes — und in der Form und den Zuͤgen des Profils
die Abgeſchliffenheit, Unangeſpanntheit eines freyen Naturempfinders.
3) Wie viel mehr Wiſſens, Forſchens, Durchdenkens in dieſem Profile! wie viel mehr Po-
litur und Geſchmack! ſchon dieſe ſchaͤrfere Ecke der Stirne — denn noch der Untertheil des Geſich-
tes, von der Oberlippe an bis auf die Mitte des Kinnes — wie viel mehr Ausdruck drinn von for-
ſchender,
treffender Weisheit! — und uͤberdieß, welche Guͤte, Treue, Trugloſigkeit in dieſem Um-
riſſe! Die etwas gedehnte Form des Geſichtes von der Naſenwurzel an ſcheint einen Flor von
Schwachheit druͤber zu ziehen — oder von Poeſie? Wie druͤckt dieß Geſicht die Weisheit und die
Dichtungsgabe des Verfaſſers von Allwills Papieren aus!
4 und 5) Entweder zween Bruͤder, oder daſſelbe Geſicht, zu ungleicher Zeit — in ungleicher
Stellung nicht genau gezeichnet — allemal edle, geiſt- und herzreiche Geſichter — Die Stirn 4. hat
mehr Gedaͤchtniß, 5. mehr gedraͤngtern Verſtand. Naſe 5. ſchoͤner und weiſer. Jm Mund und
Kinn Weisheit, Ruhe, Beſcheidenheit — Die Stirn 5. hat etwas dichteriſches. Nicht ſo die Stirn
4. Keine Naſe von beyden hat Ausdruck von poetiſcher Kraft. Der untere Theil von 5. hat viel
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[216/0358] IX. Abſchnitt. V. Fragment. 1) Du edler, frommer — Miller! Freudenthraͤnenſchoͤpfer, durch deinen oft ſo richtig mahlenden — obgleich oft mich ermuͤdenden — Siegwart. Die Stirn und das Auge des hellzeich- nenden, ſanftfuͤhlenden Dichters. Guͤte — allenfalls Schwaͤche in Unterlippe und Kinn — wenig- ſtens hier kein ſcharfſcheidender Verſtand. 2) Asmus ... Omnia ſua ſecum portans. Weder Schwachkopf, noch Scharfkopf. Ge- ſunder, ſchlichtguter .. aber durchaus nicht fortdringender, reihender, gliedernder Verſtand. Hell und richtig und rein wird er ſehen und „richten, was vor ihn koͤmmt; dem Reichen als dem Armen, dem Armen als dem Reichen; niemanden zu lieb noch zu leid.“ Kurz! ſchlecht und recht! einfaͤltig und gerade! Genie des Wahrheitſinnes! Genie des Herzens — Armuth und Zufriedenheit! Demuth und unerkaͤufliche Ruhe und Feſtigkeit des Sinnes — und in der Form und den Zuͤgen des Profils die Abgeſchliffenheit, Unangeſpanntheit eines freyen Naturempfinders. 3) Wie viel mehr Wiſſens, Forſchens, Durchdenkens in dieſem Profile! wie viel mehr Po- litur und Geſchmack! ſchon dieſe ſchaͤrfere Ecke der Stirne — denn noch der Untertheil des Geſich- tes, von der Oberlippe an bis auf die Mitte des Kinnes — wie viel mehr Ausdruck drinn von for- ſchender, treffender Weisheit! — und uͤberdieß, welche Guͤte, Treue, Trugloſigkeit in dieſem Um- riſſe! Die etwas gedehnte Form des Geſichtes von der Naſenwurzel an ſcheint einen Flor von Schwachheit druͤber zu ziehen — oder von Poeſie? Wie druͤckt dieß Geſicht die Weisheit und die Dichtungsgabe des Verfaſſers von Allwills Papieren aus! 4 und 5) Entweder zween Bruͤder, oder daſſelbe Geſicht, zu ungleicher Zeit — in ungleicher Stellung nicht genau gezeichnet — allemal edle, geiſt- und herzreiche Geſichter — Die Stirn 4. hat mehr Gedaͤchtniß, 5. mehr gedraͤngtern Verſtand. Naſe 5. ſchoͤner und weiſer. Jm Mund und Kinn Weisheit, Ruhe, Beſcheidenheit — Die Stirn 5. hat etwas dichteriſches. Nicht ſo die Stirn 4. Keine Naſe von beyden hat Ausdruck von poetiſcher Kraft. Der untere Theil von 5. hat viel feinen, ruhigen Beobachtungsſinn. Die Stirn 4. hat zu feſte Knochen, um dichten zu koͤnnen; (das will

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/358>, abgerufen am 22.11.2024.