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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Erstes Fragment.
Allgemeine Betrachtungen.

Musik ist Nachahmung der Naturtöne. Was der Mahler sehen muß, muß der Virtuose hö-
ren. Der Mahler muß Sinn haben für Einheit des Moments. Der Musiker für die Succes-
sion. Hier sollte man denken, scheiden sich sogleich ihre Wege von einander. Physiognomien, die
bestimmt sind, Momente zu fixiren -- sollten also wesentlich verschiedenen Charakter haben von
denen, die bestimmt sind, Successionen darzustellen. Die Physiognomie des Mahlers sollte
demnach stehender, die des Musikers fließender seyn. Ob's also sey? Wie darf ich entscheiden,
da ich so wenig Musiker kenne, und gar nicht das mindeste von Musik verstehe? -- So viel aber
kann ich sagen, daß was ich bis itzt in Natur und Bild gesehen habe -- meine Ahndungen hierüber
zu bestätigen scheint.

Schwebender, unbestimmter, flüßiger, lockerer, wie's die Natur der Empfindungsem-
pfänglichkeit und der Empfindungsmittheilsamkeit zu erfordern scheint -- sind alle Musiker-Gesich-
ter -- als die der Mahler. Noch Eins. Verzeihet mir, Virtuosen und Tongenies! Jch weiß
nicht, ob es Raphaele in der Musik giebt -- aber das weiß ich, daß ich noch kein Raphaelsge-
sicht von einem Musiker gesehen habe -- und darf ichs sagen: Jch zweifle, ob's eins geben könne?
warum? Die Natur des Schwebens -- des beständigen Schwebens, das Wesentliche der Musik
läßt nicht die ruhigstätige -- stehende Gesichtsform zu, die zur Schöpfung einer momentanen
Welt nöthig ist. Jch darf auf diesem Felde keinen Schritt weiter thun, weil ich nicht aufm Eise
zu gehen gewohnt bin. Nur noch dieß: Gäb' es große Mahler, die zugleich große Tonkünstler
wären -- so glaub' ich, sie würden Landschaftsmahler seyn, weil es weniger Anstrengung braucht,
diesen dem Blicke stillhaltenden Moment der Natur nachzuahmen, als irgend einen andern, was
sag' ich einen andern -- da es keinen andern, selbst in einem Gesichte nicht einmal giebt.

Ferner -- noch ein Wort, das nicht so unsicher ausgesprochen werden darf. Blick des
bloßen Mahlers ist gewiß überhaupt immer ruhiger, fester, durchtreffender, als der irrende, schwe-
bende des Musikers.

Man
B b 2
Erſtes Fragment.
Allgemeine Betrachtungen.

Muſik iſt Nachahmung der Naturtoͤne. Was der Mahler ſehen muß, muß der Virtuoſe hoͤ-
ren. Der Mahler muß Sinn haben fuͤr Einheit des Moments. Der Muſiker fuͤr die Succeſ-
ſion. Hier ſollte man denken, ſcheiden ſich ſogleich ihre Wege von einander. Phyſiognomien, die
beſtimmt ſind, Momente zu fixiren — ſollten alſo weſentlich verſchiedenen Charakter haben von
denen, die beſtimmt ſind, Succeſſionen darzuſtellen. Die Phyſiognomie des Mahlers ſollte
demnach ſtehender, die des Muſikers fließender ſeyn. Ob’s alſo ſey? Wie darf ich entſcheiden,
da ich ſo wenig Muſiker kenne, und gar nicht das mindeſte von Muſik verſtehe? — So viel aber
kann ich ſagen, daß was ich bis itzt in Natur und Bild geſehen habe — meine Ahndungen hieruͤber
zu beſtaͤtigen ſcheint.

Schwebender, unbeſtimmter, fluͤßiger, lockerer, wie’s die Natur der Empfindungsem-
pfaͤnglichkeit und der Empfindungsmittheilſamkeit zu erfordern ſcheint — ſind alle Muſiker-Geſich-
ter — als die der Mahler. Noch Eins. Verzeihet mir, Virtuoſen und Tongenies! Jch weiß
nicht, ob es Raphaele in der Muſik giebt — aber das weiß ich, daß ich noch kein Raphaelsge-
ſicht von einem Muſiker geſehen habe — und darf ichs ſagen: Jch zweifle, ob’s eins geben koͤnne?
warum? Die Natur des Schwebens — des beſtaͤndigen Schwebens, das Weſentliche der Muſik
laͤßt nicht die ruhigſtaͤtige — ſtehende Geſichtsform zu, die zur Schoͤpfung einer momentanen
Welt noͤthig iſt. Jch darf auf dieſem Felde keinen Schritt weiter thun, weil ich nicht aufm Eiſe
zu gehen gewohnt bin. Nur noch dieß: Gaͤb’ es große Mahler, die zugleich große Tonkuͤnſtler
waͤren — ſo glaub’ ich, ſie wuͤrden Landſchaftsmahler ſeyn, weil es weniger Anſtrengung braucht,
dieſen dem Blicke ſtillhaltenden Moment der Natur nachzuahmen, als irgend einen andern, was
ſag’ ich einen andern — da es keinen andern, ſelbſt in einem Geſichte nicht einmal giebt.

Ferner — noch ein Wort, das nicht ſo unſicher ausgeſprochen werden darf. Blick des
bloßen Mahlers iſt gewiß uͤberhaupt immer ruhiger, feſter, durchtreffender, als der irrende, ſchwe-
bende des Muſikers.

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[195/0323] Erſtes Fragment. Allgemeine Betrachtungen. Muſik iſt Nachahmung der Naturtoͤne. Was der Mahler ſehen muß, muß der Virtuoſe hoͤ- ren. Der Mahler muß Sinn haben fuͤr Einheit des Moments. Der Muſiker fuͤr die Succeſ- ſion. Hier ſollte man denken, ſcheiden ſich ſogleich ihre Wege von einander. Phyſiognomien, die beſtimmt ſind, Momente zu fixiren — ſollten alſo weſentlich verſchiedenen Charakter haben von denen, die beſtimmt ſind, Succeſſionen darzuſtellen. Die Phyſiognomie des Mahlers ſollte demnach ſtehender, die des Muſikers fließender ſeyn. Ob’s alſo ſey? Wie darf ich entſcheiden, da ich ſo wenig Muſiker kenne, und gar nicht das mindeſte von Muſik verſtehe? — So viel aber kann ich ſagen, daß was ich bis itzt in Natur und Bild geſehen habe — meine Ahndungen hieruͤber zu beſtaͤtigen ſcheint. Schwebender, unbeſtimmter, fluͤßiger, lockerer, wie’s die Natur der Empfindungsem- pfaͤnglichkeit und der Empfindungsmittheilſamkeit zu erfordern ſcheint — ſind alle Muſiker-Geſich- ter — als die der Mahler. Noch Eins. Verzeihet mir, Virtuoſen und Tongenies! Jch weiß nicht, ob es Raphaele in der Muſik giebt — aber das weiß ich, daß ich noch kein Raphaelsge- ſicht von einem Muſiker geſehen habe — und darf ichs ſagen: Jch zweifle, ob’s eins geben koͤnne? warum? Die Natur des Schwebens — des beſtaͤndigen Schwebens, das Weſentliche der Muſik laͤßt nicht die ruhigſtaͤtige — ſtehende Geſichtsform zu, die zur Schoͤpfung einer momentanen Welt noͤthig iſt. Jch darf auf dieſem Felde keinen Schritt weiter thun, weil ich nicht aufm Eiſe zu gehen gewohnt bin. Nur noch dieß: Gaͤb’ es große Mahler, die zugleich große Tonkuͤnſtler waͤren — ſo glaub’ ich, ſie wuͤrden Landſchaftsmahler ſeyn, weil es weniger Anſtrengung braucht, dieſen dem Blicke ſtillhaltenden Moment der Natur nachzuahmen, als irgend einen andern, was ſag’ ich einen andern — da es keinen andern, ſelbſt in einem Geſichte nicht einmal giebt. Ferner — noch ein Wort, das nicht ſo unſicher ausgeſprochen werden darf. Blick des bloßen Mahlers iſt gewiß uͤberhaupt immer ruhiger, feſter, durchtreffender, als der irrende, ſchwe- bende des Muſikers. Man B b 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/323>, abgerufen am 26.11.2024.