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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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VII. Abschnitt. V. Fragment.

Jn seinen letzten Lebensmonaten nahm er jeden Abend von seiner Familie Abschied. --

Wenige Tage vor seinem Ende erhielt er die Nachricht aus Schweden, daß und wie sein
König am Schlagflusse gestorben. "Das hat zu lange gedauert, sagte er, der König lebte ja noch
"zehen Minuten. Jch bitte meinen Gott täglich, daß er mich schnell hinwegnehme, und in einem
"Augenblicke, daß es niemand sieht."

Eines Morgens, da der Greis zur gewohnten Stunde nicht erschien, um in die Kirche zu
gehen, öffnete man sein Schlafzimmer, und fand ihn halb angekleidet auf seinem Angesicht an der
Erde liegend -- todt. --

Und nun nah' ich mich mit einer Thräne der Ehrfurcht und Liebe -- zu den -- ach! wie
unvollkommenen Bildern dieses mir von Person ach! leider unbekannten -- und durch alles, was
ich von ihm sah und weiß -- so theuren -- beynahe heiligen Mannes.

Des III. Ban-
des XLVII.
Tafel.

Das erste *) hat was schiefes, gemein bürgerliches -- und kömmt mir bloß wie
Larve seines Gesichtes in der Höhe des männlichen Alters vor. Diese Schiefheit ist
offenbar nicht Naturfehler -- nur Fehler der Zeichnung. Das Gesicht ist nicht ge-
bogen genug; wär' im Profil anzusehen, zu steif gerade. Nur zwischen und über den Augenbrau-
nen, in der Gegend der Nasenwurzel, im Blicke des Auges ist noch was von Hedlingers Künstler-
geiste. Die Nase enthält viel Kraft zur Bestimmtheit.

Die Unterlippe hat wenig Ausdruck von der unbeschreiblichen Feinheit und Reinheit aller
seiner Arbeiten. Das Ganze hat etwas von der Schlauheit eines schweizerischen Demagogen, das
er gar nicht war.

Des III. Ban-
des XLVIII.
Tafel. **)

Laßt uns zu einem zweyten Bilde fortschreiten, das mehr Wahrheit zu haben
scheint -- Einmal gewiß mehr weise, ruhige, fromme Einfalt; mehr Redlichkeit; mehr
geprüfte Erfahrung. Aber, ach! auch da ist beynah überall weg das unaussprechlich liebenswürdige
Redlichkeitsheitere, das den Mund des Originalgemähldes, nach welchem dieß copiert ist, umschweb-
te. Dennoch wollt' ich diesem Gesichte voll Jnnigkeit und Durchblick meine Seele vertrauen.

Carolus
*) Das mit der Unterschrift: Carolus v. Hedlinger ist's.
**) Es ist die ohne Unterschrift mit dem Kreuz auf der Brust.
VII. Abſchnitt. V. Fragment.

Jn ſeinen letzten Lebensmonaten nahm er jeden Abend von ſeiner Familie Abſchied. —

Wenige Tage vor ſeinem Ende erhielt er die Nachricht aus Schweden, daß und wie ſein
Koͤnig am Schlagfluſſe geſtorben. „Das hat zu lange gedauert, ſagte er, der Koͤnig lebte ja noch
„zehen Minuten. Jch bitte meinen Gott taͤglich, daß er mich ſchnell hinwegnehme, und in einem
„Augenblicke, daß es niemand ſieht.“

Eines Morgens, da der Greis zur gewohnten Stunde nicht erſchien, um in die Kirche zu
gehen, oͤffnete man ſein Schlafzimmer, und fand ihn halb angekleidet auf ſeinem Angeſicht an der
Erde liegend — todt. —

Und nun nah’ ich mich mit einer Thraͤne der Ehrfurcht und Liebe — zu den — ach! wie
unvollkommenen Bildern dieſes mir von Perſon ach! leider unbekannten — und durch alles, was
ich von ihm ſah und weiß — ſo theuren — beynahe heiligen Mannes.

Des III. Ban-
des XLVII.
Tafel.

Das erſte *) hat was ſchiefes, gemein buͤrgerliches — und koͤmmt mir bloß wie
Larve ſeines Geſichtes in der Hoͤhe des maͤnnlichen Alters vor. Dieſe Schiefheit iſt
offenbar nicht Naturfehler — nur Fehler der Zeichnung. Das Geſicht iſt nicht ge-
bogen genug; waͤr’ im Profil anzuſehen, zu ſteif gerade. Nur zwiſchen und uͤber den Augenbrau-
nen, in der Gegend der Naſenwurzel, im Blicke des Auges iſt noch was von Hedlingers Kuͤnſtler-
geiſte. Die Naſe enthaͤlt viel Kraft zur Beſtimmtheit.

Die Unterlippe hat wenig Ausdruck von der unbeſchreiblichen Feinheit und Reinheit aller
ſeiner Arbeiten. Das Ganze hat etwas von der Schlauheit eines ſchweizeriſchen Demagogen, das
er gar nicht war.

Des III. Ban-
des XLVIII.
Tafel. **)

Laßt uns zu einem zweyten Bilde fortſchreiten, das mehr Wahrheit zu haben
ſcheint — Einmal gewiß mehr weiſe, ruhige, fromme Einfalt; mehr Redlichkeit; mehr
gepruͤfte Erfahrung. Aber, ach! auch da iſt beynah uͤberall weg das unausſprechlich liebenswuͤrdige
Redlichkeitsheitere, das den Mund des Originalgemaͤhldes, nach welchem dieß copiert iſt, umſchweb-
te. Dennoch wollt’ ich dieſem Geſichte voll Jnnigkeit und Durchblick meine Seele vertrauen.

Carolus
*) Das mit der Unterſchrift: Carolus v. Hedlinger iſt’s.
**) Es iſt die ohne Unterſchrift mit dem Kreuz auf der Bruſt.
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[176/0286] VII. Abſchnitt. V. Fragment. Jn ſeinen letzten Lebensmonaten nahm er jeden Abend von ſeiner Familie Abſchied. — Wenige Tage vor ſeinem Ende erhielt er die Nachricht aus Schweden, daß und wie ſein Koͤnig am Schlagfluſſe geſtorben. „Das hat zu lange gedauert, ſagte er, der Koͤnig lebte ja noch „zehen Minuten. Jch bitte meinen Gott taͤglich, daß er mich ſchnell hinwegnehme, und in einem „Augenblicke, daß es niemand ſieht.“ Eines Morgens, da der Greis zur gewohnten Stunde nicht erſchien, um in die Kirche zu gehen, oͤffnete man ſein Schlafzimmer, und fand ihn halb angekleidet auf ſeinem Angeſicht an der Erde liegend — todt. — Und nun nah’ ich mich mit einer Thraͤne der Ehrfurcht und Liebe — zu den — ach! wie unvollkommenen Bildern dieſes mir von Perſon ach! leider unbekannten — und durch alles, was ich von ihm ſah und weiß — ſo theuren — beynahe heiligen Mannes. Das erſte *) hat was ſchiefes, gemein buͤrgerliches — und koͤmmt mir bloß wie Larve ſeines Geſichtes in der Hoͤhe des maͤnnlichen Alters vor. Dieſe Schiefheit iſt offenbar nicht Naturfehler — nur Fehler der Zeichnung. Das Geſicht iſt nicht ge- bogen genug; waͤr’ im Profil anzuſehen, zu ſteif gerade. Nur zwiſchen und uͤber den Augenbrau- nen, in der Gegend der Naſenwurzel, im Blicke des Auges iſt noch was von Hedlingers Kuͤnſtler- geiſte. Die Naſe enthaͤlt viel Kraft zur Beſtimmtheit. Die Unterlippe hat wenig Ausdruck von der unbeſchreiblichen Feinheit und Reinheit aller ſeiner Arbeiten. Das Ganze hat etwas von der Schlauheit eines ſchweizeriſchen Demagogen, das er gar nicht war. Laßt uns zu einem zweyten Bilde fortſchreiten, das mehr Wahrheit zu haben ſcheint — Einmal gewiß mehr weiſe, ruhige, fromme Einfalt; mehr Redlichkeit; mehr gepruͤfte Erfahrung. Aber, ach! auch da iſt beynah uͤberall weg das unausſprechlich liebenswuͤrdige Redlichkeitsheitere, das den Mund des Originalgemaͤhldes, nach welchem dieß copiert iſt, umſchweb- te. Dennoch wollt’ ich dieſem Geſichte voll Jnnigkeit und Durchblick meine Seele vertrauen. Carolus *) Das mit der Unterſchrift: Carolus v. Hedlinger iſt’s. **) Es iſt die ohne Unterſchrift mit dem Kreuz auf der Bruſt.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/286>, abgerufen am 22.05.2024.