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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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VI. Abschnitt. XII. Fragment.
Ein Jüngling der Mann ist. b.
Ein schattirtes Profil. K.
Des III. Ban-
des XLII.
Tafel.

Probe eines jungen Künstlers, roh gearbeitet, und unbestimmt, nach Weise aller jun-
gen -- Genies? da soll immer so ein bißchen Geschmack, Ton, Freyheit ... die unersetz-
liche Wahrheit und Bestimmtheit ersetzen? .. Liebe junge Künstler, ihr seyd der wahren Kunst auf
immer verdorben, wenn ihr etwa diese oder jene frech seyn sollende Kratz- und Hagelmanier zu Trutz
aller Reinheit und Bestimmtheit der Natur ergriffen habt, und von dieser Höhe? -- .. auf das
"Aengstliche -- Schneckenhafte" -- des genauen Zeichners herunterseht ... Dieß an euch --
und nun auch Ein Wort an euch scharfängstliche "Erzschnittler" ... Jn diesem Bilde hier, (in
das Euer einer hineingearbeitelt hat --) über das ihr hohnlacht, und euch gesegnet, ist dennoch
Kraft, Adel und Freyheit ... Spotten sollt ihr auch nicht! ... Jhr geht auf dem andern Aeußer-
sten. -- Stellung wenigstens, Tragen des Kopfes, Haarlocken und Effekt des Ganzen zeigt doch
was Mannhaftes, das dem Mannhaften des Charakters, den wir vor uns haben, entspricht. --
Alle der Haarlocken ohngeachtet, um deren willen man das Gesicht vermuthlich idealisirt nennen
wird -- ist's und bleibt's indeß Prostitution des Originals -- wie das vorige versüßget, polirt,
frisirt; -- so dieß verwildert, verhärtet. Der sanfte Zeichner sah nur das Sanfte; der Kraftrei-
chere nur das Wildere im Gesichte. Das Sanfte machte der sanfte noch sanfter -- das Wildere
der wilde noch wilder. So haben wir in diesen beyden Porträten zugleich die Physiognomie ihrer
Zeichner. Und diese Porträte würden sich gewiß, wenn sie so lebend wären, so wenig annehmen,
als die Zeichner derselben sich vermuthlich innig annehmen würden. Einander begegnend -- wür-
den sie Augenblicke an einander verweilen, und einige Sympathie ahnden -- aber im engsten
Kreise der Freundschaft nie neben einander coexistiren.

Jmmer aber ist die Physiognomie, so wie sie uns hier erscheint -- ganz gewiß eines außer-
ordentlichen Mannes, der schnell und tief sieht, fest hält, zurückstößt, würkt, fliegt -- darstellt,
wenig Menschen findet, auf denen er ruhen kann; aber sehr viele, die auf ihm ruhen wollen.



Jüngling
VI. Abſchnitt. XII. Fragment.
Ein Juͤngling der Mann iſt. b.
Ein ſchattirtes Profil. K.
Des III. Ban-
des XLII.
Tafel.

Probe eines jungen Kuͤnſtlers, roh gearbeitet, und unbeſtimmt, nach Weiſe aller jun-
gen — Genies? da ſoll immer ſo ein bißchen Geſchmack, Ton, Freyheit ... die unerſetz-
liche Wahrheit und Beſtimmtheit erſetzen? .. Liebe junge Kuͤnſtler, ihr ſeyd der wahren Kunſt auf
immer verdorben, wenn ihr etwa dieſe oder jene frech ſeyn ſollende Kratz- und Hagelmanier zu Trutz
aller Reinheit und Beſtimmtheit der Natur ergriffen habt, und von dieſer Hoͤhe? — .. auf das
„Aengſtliche — Schneckenhafte“ — des genauen Zeichners herunterſeht ... Dieß an euch —
und nun auch Ein Wort an euch ſcharfaͤngſtliche „Erzſchnittler“ ... Jn dieſem Bilde hier, (in
das Euer einer hineingearbeitelt hat —) uͤber das ihr hohnlacht, und euch geſegnet, iſt dennoch
Kraft, Adel und Freyheit ... Spotten ſollt ihr auch nicht! ... Jhr geht auf dem andern Aeußer-
ſten. — Stellung wenigſtens, Tragen des Kopfes, Haarlocken und Effekt des Ganzen zeigt doch
was Mannhaftes, das dem Mannhaften des Charakters, den wir vor uns haben, entſpricht. —
Alle der Haarlocken ohngeachtet, um deren willen man das Geſicht vermuthlich idealiſirt nennen
wird — iſt’s und bleibt’s indeß Proſtitution des Originals — wie das vorige verſuͤßget, polirt,
friſirt; — ſo dieß verwildert, verhaͤrtet. Der ſanfte Zeichner ſah nur das Sanfte; der Kraftrei-
chere nur das Wildere im Geſichte. Das Sanfte machte der ſanfte noch ſanfter — das Wildere
der wilde noch wilder. So haben wir in dieſen beyden Portraͤten zugleich die Phyſiognomie ihrer
Zeichner. Und dieſe Portraͤte wuͤrden ſich gewiß, wenn ſie ſo lebend waͤren, ſo wenig annehmen,
als die Zeichner derſelben ſich vermuthlich innig annehmen wuͤrden. Einander begegnend — wuͤr-
den ſie Augenblicke an einander verweilen, und einige Sympathie ahnden — aber im engſten
Kreiſe der Freundſchaft nie neben einander coexiſtiren.

Jmmer aber iſt die Phyſiognomie, ſo wie ſie uns hier erſcheint — ganz gewiß eines außer-
ordentlichen Mannes, der ſchnell und tief ſieht, feſt haͤlt, zuruͤckſtoͤßt, wuͤrkt, fliegt — darſtellt,
wenig Menſchen findet, auf denen er ruhen kann; aber ſehr viele, die auf ihm ruhen wollen.



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[160/0258] VI. Abſchnitt. XII. Fragment. Ein Juͤngling der Mann iſt. b. Ein ſchattirtes Profil. K. Probe eines jungen Kuͤnſtlers, roh gearbeitet, und unbeſtimmt, nach Weiſe aller jun- gen — Genies? da ſoll immer ſo ein bißchen Geſchmack, Ton, Freyheit ... die unerſetz- liche Wahrheit und Beſtimmtheit erſetzen? .. Liebe junge Kuͤnſtler, ihr ſeyd der wahren Kunſt auf immer verdorben, wenn ihr etwa dieſe oder jene frech ſeyn ſollende Kratz- und Hagelmanier zu Trutz aller Reinheit und Beſtimmtheit der Natur ergriffen habt, und von dieſer Hoͤhe? — .. auf das „Aengſtliche — Schneckenhafte“ — des genauen Zeichners herunterſeht ... Dieß an euch — und nun auch Ein Wort an euch ſcharfaͤngſtliche „Erzſchnittler“ ... Jn dieſem Bilde hier, (in das Euer einer hineingearbeitelt hat —) uͤber das ihr hohnlacht, und euch geſegnet, iſt dennoch Kraft, Adel und Freyheit ... Spotten ſollt ihr auch nicht! ... Jhr geht auf dem andern Aeußer- ſten. — Stellung wenigſtens, Tragen des Kopfes, Haarlocken und Effekt des Ganzen zeigt doch was Mannhaftes, das dem Mannhaften des Charakters, den wir vor uns haben, entſpricht. — Alle der Haarlocken ohngeachtet, um deren willen man das Geſicht vermuthlich idealiſirt nennen wird — iſt’s und bleibt’s indeß Proſtitution des Originals — wie das vorige verſuͤßget, polirt, friſirt; — ſo dieß verwildert, verhaͤrtet. Der ſanfte Zeichner ſah nur das Sanfte; der Kraftrei- chere nur das Wildere im Geſichte. Das Sanfte machte der ſanfte noch ſanfter — das Wildere der wilde noch wilder. So haben wir in dieſen beyden Portraͤten zugleich die Phyſiognomie ihrer Zeichner. Und dieſe Portraͤte wuͤrden ſich gewiß, wenn ſie ſo lebend waͤren, ſo wenig annehmen, als die Zeichner derſelben ſich vermuthlich innig annehmen wuͤrden. Einander begegnend — wuͤr- den ſie Augenblicke an einander verweilen, und einige Sympathie ahnden — aber im engſten Kreiſe der Freundſchaft nie neben einander coexiſtiren. Jmmer aber iſt die Phyſiognomie, ſo wie ſie uns hier erſcheint — ganz gewiß eines außer- ordentlichen Mannes, der ſchnell und tief ſieht, feſt haͤlt, zuruͤckſtoͤßt, wuͤrkt, fliegt — darſtellt, wenig Menſchen findet, auf denen er ruhen kann; aber ſehr viele, die auf ihm ruhen wollen. Juͤngling

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/258>, abgerufen am 22.11.2024.