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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Erstes Fragment.
Ueber den menschlichen Mund. Ein Wort aus der Fülle
des Herzens.

Alles liegt in dem menschlichen Munde, was im menschlichen Geiste liegt, wie alles, was in
Gott ist -- sichtbar wird in Jesus Christus!

Der Mund in seiner Ruhe, und der Mund in seinen unendlichen Bewegungen -- welch
eine Welt voll Charakter! wer will aussprechen, was er ausspricht -- selber, wenn er schweigt! --

So heilig ist mir dieß Glied, daß ich kaum davon reden kann -- Jch erstaun' über mir
selber, werde mir Wunder aller Wunder, daß ich nicht nur ein thierisches Maul zum Essen und
Athmen -- daß ich einen menschlichen Mund zum Sprechen habe -- und einen Mund, der immer
spricht, wenn er auch immer schweigt.

Erwartet nichts, Leser, über dieß beseelteste und bedeutsamste aller unserer Organen --
Jch bin nicht fähig und nicht würdig, davon zu sprechen.

Ein Mensch, der die Würde dieses -- Gliedes? -- wie ganz anders ist's, als alles an-
dere, was man Glied nennt? wie nicht abzulösen? wie nicht zu bestimmen? wie viel einfacher
und zusammengesetzter? -- Ein Mensch, der die Würde dieses Gliedes kennte, fühlte -- innigst
fühlte -- Er spräche Gottesworte, und seine Worte wären Gottesthaten ... O daß ich nur zit-
tern kann, statt zu sprechen -- von der Herrlichkeit des Mundes -- dieses Hauptsitzes der Weis-
heit und Thorheit, der Kraft und Schwachheit, der Tugendhaftigkeit und Lasterhaftigkeit, der
Feinheit und Grobheit des menschlichen Geistes! diesem Sitze aller Liebe und alles Hasses, aller
Aufrichtigkeit und Falschheit -- aller Demuth und alles Stolzes! aller Verstellung und Wahrheit!

O zu welchen Anbetungen würd' er sich öffnen oder schließen mein Mund -- wenn ich --
mehr Mensch -- wäre!

O die verstimmte, verunmenschlichte Menschheit! O trauriges Geheimniß meiner mich miß-
bildenden Jugendjahre! Wille des Allwaltenden, wann wirst du dich aufhellen? .. Jch bete an,
weil ich fühle, daß ich -- nicht anzubeten würdig bin! Doch werd' ichs werden -- wie's Menschen
werden können, denn der mich schuf -- Einen Mund gab er mir. --

Warum
Phys. Fragm. III Versuch. Q
Erſtes Fragment.
Ueber den menſchlichen Mund. Ein Wort aus der Fuͤlle
des Herzens.

Alles liegt in dem menſchlichen Munde, was im menſchlichen Geiſte liegt, wie alles, was in
Gott iſt — ſichtbar wird in Jeſus Chriſtus!

Der Mund in ſeiner Ruhe, und der Mund in ſeinen unendlichen Bewegungen — welch
eine Welt voll Charakter! wer will ausſprechen, was er ausſpricht — ſelber, wenn er ſchweigt! —

So heilig iſt mir dieß Glied, daß ich kaum davon reden kann — Jch erſtaun’ uͤber mir
ſelber, werde mir Wunder aller Wunder, daß ich nicht nur ein thieriſches Maul zum Eſſen und
Athmen — daß ich einen menſchlichen Mund zum Sprechen habe — und einen Mund, der immer
ſpricht, wenn er auch immer ſchweigt.

Erwartet nichts, Leſer, uͤber dieß beſeelteſte und bedeutſamſte aller unſerer Organen —
Jch bin nicht faͤhig und nicht wuͤrdig, davon zu ſprechen.

Ein Menſch, der die Wuͤrde dieſes — Gliedes? — wie ganz anders iſt’s, als alles an-
dere, was man Glied nennt? wie nicht abzuloͤſen? wie nicht zu beſtimmen? wie viel einfacher
und zuſammengeſetzter? — Ein Menſch, der die Wuͤrde dieſes Gliedes kennte, fuͤhlte — innigſt
fuͤhlte — Er ſpraͤche Gottesworte, und ſeine Worte waͤren Gottesthaten ... O daß ich nur zit-
tern kann, ſtatt zu ſprechen — von der Herrlichkeit des Mundes — dieſes Hauptſitzes der Weis-
heit und Thorheit, der Kraft und Schwachheit, der Tugendhaftigkeit und Laſterhaftigkeit, der
Feinheit und Grobheit des menſchlichen Geiſtes! dieſem Sitze aller Liebe und alles Haſſes, aller
Aufrichtigkeit und Falſchheit — aller Demuth und alles Stolzes! aller Verſtellung und Wahrheit!

O zu welchen Anbetungen wuͤrd’ er ſich oͤffnen oder ſchließen mein Mund — wenn ich —
mehr Menſch — waͤre!

O die verſtimmte, verunmenſchlichte Menſchheit! O trauriges Geheimniß meiner mich miß-
bildenden Jugendjahre! Wille des Allwaltenden, wann wirſt du dich aufhellen? .. Jch bete an,
weil ich fuͤhle, daß ich — nicht anzubeten wuͤrdig bin! Doch werd’ ichs werden — wie’s Menſchen
werden koͤnnen, denn der mich ſchuf — Einen Mund gab er mir. —

Warum
Phyſ. Fragm. III Verſuch. Q
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[121/0185] Erſtes Fragment. Ueber den menſchlichen Mund. Ein Wort aus der Fuͤlle des Herzens. Alles liegt in dem menſchlichen Munde, was im menſchlichen Geiſte liegt, wie alles, was in Gott iſt — ſichtbar wird in Jeſus Chriſtus! Der Mund in ſeiner Ruhe, und der Mund in ſeinen unendlichen Bewegungen — welch eine Welt voll Charakter! wer will ausſprechen, was er ausſpricht — ſelber, wenn er ſchweigt! — So heilig iſt mir dieß Glied, daß ich kaum davon reden kann — Jch erſtaun’ uͤber mir ſelber, werde mir Wunder aller Wunder, daß ich nicht nur ein thieriſches Maul zum Eſſen und Athmen — daß ich einen menſchlichen Mund zum Sprechen habe — und einen Mund, der immer ſpricht, wenn er auch immer ſchweigt. Erwartet nichts, Leſer, uͤber dieß beſeelteſte und bedeutſamſte aller unſerer Organen — Jch bin nicht faͤhig und nicht wuͤrdig, davon zu ſprechen. Ein Menſch, der die Wuͤrde dieſes — Gliedes? — wie ganz anders iſt’s, als alles an- dere, was man Glied nennt? wie nicht abzuloͤſen? wie nicht zu beſtimmen? wie viel einfacher und zuſammengeſetzter? — Ein Menſch, der die Wuͤrde dieſes Gliedes kennte, fuͤhlte — innigſt fuͤhlte — Er ſpraͤche Gottesworte, und ſeine Worte waͤren Gottesthaten ... O daß ich nur zit- tern kann, ſtatt zu ſprechen — von der Herrlichkeit des Mundes — dieſes Hauptſitzes der Weis- heit und Thorheit, der Kraft und Schwachheit, der Tugendhaftigkeit und Laſterhaftigkeit, der Feinheit und Grobheit des menſchlichen Geiſtes! dieſem Sitze aller Liebe und alles Haſſes, aller Aufrichtigkeit und Falſchheit — aller Demuth und alles Stolzes! aller Verſtellung und Wahrheit! O zu welchen Anbetungen wuͤrd’ er ſich oͤffnen oder ſchließen mein Mund — wenn ich — mehr Menſch — waͤre! O die verſtimmte, verunmenſchlichte Menſchheit! O trauriges Geheimniß meiner mich miß- bildenden Jugendjahre! Wille des Allwaltenden, wann wirſt du dich aufhellen? .. Jch bete an, weil ich fuͤhle, daß ich — nicht anzubeten wuͤrdig bin! Doch werd’ ichs werden — wie’s Menſchen werden koͤnnen, denn der mich ſchuf — Einen Mund gab er mir. — Warum Phyſ. Fragm. III Verſuch. Q

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/185>, abgerufen am 25.11.2024.