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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Erklärung eines Gelehrten über die Physiognomik.

"Giebt's auch so viel ähnliche Menschen? oder ist diese scheinbare Aehnlichkeit nicht öfter
"ein Total-Eindruck, der bey einer genauen Untersuchung verschwindet? zumal wenn ein einzelner
"Zug herausgehoben, und mit einem andern einzelnen Zuge verglichen werden soll?"

"Fällt es niemals vor, daß ein Zug dem andern gerade zu widerspricht? daß eine furcht-
"same Nase zwischen Augen sitzt, die Muth verkündigen?"

(Jn den festern oder scharfer Umrisse fähigen Theilen, gewaltsame Zufälle ausgenommen,
hab' ich noch nie widersprechende Züge gefunden -- Sehr oft zwischen den festen und weichen --
oder auch zwischen der Grundform der weichen und ihrer erscheinenden Lage -- Grundform wäre
z. E. die an einem Todten, der durch keine gewaltsame Krankheit verzerrt ist, wahrgenommen
wird.)

"Jst es ganz ausgemacht, daß eine ähnliche Gestalt auch immer eine ähnliche Seele an-
"zeige? Jn Familien, wo die meiste Aehnlichkeit herrscht, giebt es oft die mannichfaltigsten Men-
"schen. Jch habe zum Verwechseln ähnliche Zwillingsbrüder gekannt, die dem Geiste nach nicht
"einen Zug mit einander theilten" -- (Wenn dieß vollkommen wahr ist, so geb' ich die Physiogno-
mik auf. Jch schenke dem mein Exemplar dieser Fragmente und hundert physiognomische Hand-
risse, der mich hiervon überzeugt. Nicht einmal ich will Richter seyn. Jch überlasse es dem wür-
digen Verfasser dieser Bemerkung, drey Männer zu wählen, das Faktum genauer zu untersuchen,
und wenn sie dasselbe bestätigen -- so hab' ich verloren -- Fürs erste nur genaue Silhouetten
von diesen Zwillingsbrüdern! so weit meine Erfahrungen reichen, ich bezeug' es auf alle meine
Ehrlichkeit -- Jch habe keine Spur einer solchen Bemerkung.)

"Und wie sollten wir endlich alle die Ausnahmen erklären, unter deren Menge die Regel
"fast erstickt? Jch will nur einige aus eigener Beobachtung anführen: Samuel Johnson sieht
"wie ein Lastträger aus; nicht ein Blick im Auge -- nicht ein Zug im Munde, der den scharfsin-
"nigen Menschen und Wissenschaftenkenner verräth." --

Wenn ein Mann von der Scharfsinnigkeit unsers Verfassers das sagt -- so soll ich billig
die Hand auf den Mund legen, und sagen: -- "Er hat's gesehen; ich habe nicht gesehen" -- Aber
warum ist mir bey allen meinen nunmehr wenigstens vierjährigen Beobachtungen nicht ein einziges
solches Beyspiel aufgestoßen? Viele Menschen hab' ich, besonders anfangs, für sehr gescheut ge-

halten,
M 3
Erklaͤrung eines Gelehrten uͤber die Phyſiognomik.

„Giebt’s auch ſo viel aͤhnliche Menſchen? oder iſt dieſe ſcheinbare Aehnlichkeit nicht oͤfter
„ein Total-Eindruck, der bey einer genauen Unterſuchung verſchwindet? zumal wenn ein einzelner
„Zug herausgehoben, und mit einem andern einzelnen Zuge verglichen werden ſoll?“

„Faͤllt es niemals vor, daß ein Zug dem andern gerade zu widerſpricht? daß eine furcht-
„ſame Naſe zwiſchen Augen ſitzt, die Muth verkuͤndigen?“

(Jn den feſtern oder ſcharfer Umriſſe faͤhigen Theilen, gewaltſame Zufaͤlle ausgenommen,
hab’ ich noch nie widerſprechende Zuͤge gefunden — Sehr oft zwiſchen den feſten und weichen —
oder auch zwiſchen der Grundform der weichen und ihrer erſcheinenden Lage — Grundform waͤre
z. E. die an einem Todten, der durch keine gewaltſame Krankheit verzerrt iſt, wahrgenommen
wird.)

„Jſt es ganz ausgemacht, daß eine aͤhnliche Geſtalt auch immer eine aͤhnliche Seele an-
„zeige? Jn Familien, wo die meiſte Aehnlichkeit herrſcht, giebt es oft die mannichfaltigſten Men-
„ſchen. Jch habe zum Verwechſeln aͤhnliche Zwillingsbruͤder gekannt, die dem Geiſte nach nicht
„einen Zug mit einander theilten“ — (Wenn dieß vollkommen wahr iſt, ſo geb’ ich die Phyſiogno-
mik auf. Jch ſchenke dem mein Exemplar dieſer Fragmente und hundert phyſiognomiſche Hand-
riſſe, der mich hiervon uͤberzeugt. Nicht einmal ich will Richter ſeyn. Jch uͤberlaſſe es dem wuͤr-
digen Verfaſſer dieſer Bemerkung, drey Maͤnner zu waͤhlen, das Faktum genauer zu unterſuchen,
und wenn ſie daſſelbe beſtaͤtigen — ſo hab’ ich verloren — Fuͤrs erſte nur genaue Silhouetten
von dieſen Zwillingsbruͤdern! ſo weit meine Erfahrungen reichen, ich bezeug’ es auf alle meine
Ehrlichkeit — Jch habe keine Spur einer ſolchen Bemerkung.)

„Und wie ſollten wir endlich alle die Ausnahmen erklaͤren, unter deren Menge die Regel
„faſt erſtickt? Jch will nur einige aus eigener Beobachtung anfuͤhren: Samuel Johnſon ſieht
„wie ein Laſttraͤger aus; nicht ein Blick im Auge — nicht ein Zug im Munde, der den ſcharfſin-
„nigen Menſchen und Wiſſenſchaftenkenner verraͤth.“ —

Wenn ein Mann von der Scharfſinnigkeit unſers Verfaſſers das ſagt — ſo ſoll ich billig
die Hand auf den Mund legen, und ſagen: — „Er hat’s geſehen; ich habe nicht geſehen“ — Aber
warum iſt mir bey allen meinen nunmehr wenigſtens vierjaͤhrigen Beobachtungen nicht ein einziges
ſolches Beyſpiel aufgeſtoßen? Viele Menſchen hab’ ich, beſonders anfangs, fuͤr ſehr geſcheut ge-

halten,
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[93/0143] Erklaͤrung eines Gelehrten uͤber die Phyſiognomik. „Giebt’s auch ſo viel aͤhnliche Menſchen? oder iſt dieſe ſcheinbare Aehnlichkeit nicht oͤfter „ein Total-Eindruck, der bey einer genauen Unterſuchung verſchwindet? zumal wenn ein einzelner „Zug herausgehoben, und mit einem andern einzelnen Zuge verglichen werden ſoll?“ „Faͤllt es niemals vor, daß ein Zug dem andern gerade zu widerſpricht? daß eine furcht- „ſame Naſe zwiſchen Augen ſitzt, die Muth verkuͤndigen?“ (Jn den feſtern oder ſcharfer Umriſſe faͤhigen Theilen, gewaltſame Zufaͤlle ausgenommen, hab’ ich noch nie widerſprechende Zuͤge gefunden — Sehr oft zwiſchen den feſten und weichen — oder auch zwiſchen der Grundform der weichen und ihrer erſcheinenden Lage — Grundform waͤre z. E. die an einem Todten, der durch keine gewaltſame Krankheit verzerrt iſt, wahrgenommen wird.) „Jſt es ganz ausgemacht, daß eine aͤhnliche Geſtalt auch immer eine aͤhnliche Seele an- „zeige? Jn Familien, wo die meiſte Aehnlichkeit herrſcht, giebt es oft die mannichfaltigſten Men- „ſchen. Jch habe zum Verwechſeln aͤhnliche Zwillingsbruͤder gekannt, die dem Geiſte nach nicht „einen Zug mit einander theilten“ — (Wenn dieß vollkommen wahr iſt, ſo geb’ ich die Phyſiogno- mik auf. Jch ſchenke dem mein Exemplar dieſer Fragmente und hundert phyſiognomiſche Hand- riſſe, der mich hiervon uͤberzeugt. Nicht einmal ich will Richter ſeyn. Jch uͤberlaſſe es dem wuͤr- digen Verfaſſer dieſer Bemerkung, drey Maͤnner zu waͤhlen, das Faktum genauer zu unterſuchen, und wenn ſie daſſelbe beſtaͤtigen — ſo hab’ ich verloren — Fuͤrs erſte nur genaue Silhouetten von dieſen Zwillingsbruͤdern! ſo weit meine Erfahrungen reichen, ich bezeug’ es auf alle meine Ehrlichkeit — Jch habe keine Spur einer ſolchen Bemerkung.) „Und wie ſollten wir endlich alle die Ausnahmen erklaͤren, unter deren Menge die Regel „faſt erſtickt? Jch will nur einige aus eigener Beobachtung anfuͤhren: Samuel Johnſon ſieht „wie ein Laſttraͤger aus; nicht ein Blick im Auge — nicht ein Zug im Munde, der den ſcharfſin- „nigen Menſchen und Wiſſenſchaftenkenner verraͤth.“ — Wenn ein Mann von der Scharfſinnigkeit unſers Verfaſſers das ſagt — ſo ſoll ich billig die Hand auf den Mund legen, und ſagen: — „Er hat’s geſehen; ich habe nicht geſehen“ — Aber warum iſt mir bey allen meinen nunmehr wenigſtens vierjaͤhrigen Beobachtungen nicht ein einziges ſolches Beyſpiel aufgeſtoßen? Viele Menſchen hab’ ich, beſonders anfangs, fuͤr ſehr geſcheut ge- halten, M 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/143>, abgerufen am 26.11.2024.