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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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VIII. Fragment. Sokrates. Zugabe.

Denkt nun einmal an die Titelvignette dieses zweyten Bandes -- liebe Leser, -- ver-
steht Jhr sie wohl nun, wenn ich sage: Jn diesem Munde nichts schieflockers -- nichts steifhar-
tes -- (ich rede nicht vom Styl der Zeichnung) -- sondern freye Geradheit --

Laßt uns hier einen Augenblick stille stehen. Wie die ganze Natur, wie Gottes Für-
sehung -- sollte jedes Menschenwerk, jede Schrift seyn -- ohne hartgerade Linien, voll Ordnung
und Kraft!

Ordnung -- o mißverstandnes Wort -- Ordnung Gottes ist nicht gereihte Zusammenstel-
lung; nicht künstliche Garten-nicht Alleenordnung -- -- so die Ordnung des Schülers der Na-
tur, durch Effekte spürbar! -- wie ist da alles, obgleich zerstreut -- obgleich hingeworfen schei-
nend -- Effekt machend! auf den Zweck treffend! überraschend! --

O Urbild aller Ordnung und Vollkommenheit -- herrliche Natur! -- könnt' ich dich in
jedem meiner Werke nachahmen! dich genug übersehen! innig sentiren! -- und von dir begeistert,
dich -- ewiges Urbild aller sanften, treffenden Würksamkeit -- nachahmen -- und wie du mit
herrlichen Aussichten überraschest, du, göttliche Fürsehung, das Kleinste zur Veranlassung und
Entwickelung des Größten würksam seyn läßt, -- o möchte diesen Gang mein Werk gehen! den
Gang der ganzen Natur -- und der persönlichen Offenbarungen Gottes, so wie er in unsern heili-
gen Schriften aufgedeckt liegt. -- --

"Wozu diese Ausschweifung?" ...

Um mir Weg zu bahnen zu der nicht ganz unwichtigen Bemerkung: Es giebt drey
Hauptklassen von Menschen und Menschenwerken und -- Menschenworten! doch itzt nur von Men-
schen und Menschengestalten -- Zwar, wie die Gestalt, so die Worte; wie die Worte, so die Tha-
ten -- dem Haupttone, dem Charakter nach! --

Die erste Classe -- Lockerheit, Lässigkeit, absichtloses Hin- und Herwanken! --

Die zweyte -- Steifheit, Gespanntheit, Anstrengung, Kunstkraft.

Die dritte, oder wie ich lieber sagen wollte, die mittelste, vortrefflichste, einzig achtungs-
und liebenswürdige -- Freyheit und Richtigkeit. --

Die erste und die zweyte -- gleich unerträgliche Extreme --

Die erste ohne Widerstehenskraft -- die andere ohne Nachgeblichkeit.

Wider-
VIII. Fragment. Sokrates. Zugabe.

Denkt nun einmal an die Titelvignette dieſes zweyten Bandes — liebe Leſer, — ver-
ſteht Jhr ſie wohl nun, wenn ich ſage: Jn dieſem Munde nichts ſchieflockers — nichts ſteifhar-
tes — (ich rede nicht vom Styl der Zeichnung) — ſondern freye Geradheit

Laßt uns hier einen Augenblick ſtille ſtehen. Wie die ganze Natur, wie Gottes Fuͤr-
ſehung — ſollte jedes Menſchenwerk, jede Schrift ſeyn — ohne hartgerade Linien, voll Ordnung
und Kraft!

Ordnung — o mißverſtandnes Wort — Ordnung Gottes iſt nicht gereihte Zuſammenſtel-
lung; nicht kuͤnſtliche Garten-nicht Alleenordnung — — ſo die Ordnung des Schuͤlers der Na-
tur, durch Effekte ſpuͤrbar! — wie iſt da alles, obgleich zerſtreut — obgleich hingeworfen ſchei-
nend — Effekt machend! auf den Zweck treffend! uͤberraſchend! —

O Urbild aller Ordnung und Vollkommenheit — herrliche Natur! — koͤnnt’ ich dich in
jedem meiner Werke nachahmen! dich genug uͤberſehen! innig ſentiren! — und von dir begeiſtert,
dich — ewiges Urbild aller ſanften, treffenden Wuͤrkſamkeit — nachahmen — und wie du mit
herrlichen Ausſichten uͤberraſcheſt, du, goͤttliche Fuͤrſehung, das Kleinſte zur Veranlaſſung und
Entwickelung des Groͤßten wuͤrkſam ſeyn laͤßt, — o moͤchte dieſen Gang mein Werk gehen! den
Gang der ganzen Natur — und der perſoͤnlichen Offenbarungen Gottes, ſo wie er in unſern heili-
gen Schriften aufgedeckt liegt. — —

„Wozu dieſe Ausſchweifung?“ ...

Um mir Weg zu bahnen zu der nicht ganz unwichtigen Bemerkung: Es giebt drey
Hauptklaſſen von Menſchen und Menſchenwerken und — Menſchenworten! doch itzt nur von Men-
ſchen und Menſchengeſtalten — Zwar, wie die Geſtalt, ſo die Worte; wie die Worte, ſo die Tha-
ten — dem Haupttone, dem Charakter nach! —

Die erſte Claſſe — Lockerheit, Laͤſſigkeit, abſichtloſes Hin- und Herwanken!

Die zweyte — Steifheit, Geſpanntheit, Anſtrengung, Kunſtkraft.

Die dritte, oder wie ich lieber ſagen wollte, die mittelſte, vortrefflichſte, einzig achtungs-
und liebenswuͤrdige — Freyheit und Richtigkeit.

Die erſte und die zweyte — gleich unertraͤgliche Extreme —

Die erſte ohne Widerſtehenskraft — die andere ohne Nachgeblichkeit.

Wider-
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[72/0098] VIII. Fragment. Sokrates. Zugabe. Denkt nun einmal an die Titelvignette dieſes zweyten Bandes — liebe Leſer, — ver- ſteht Jhr ſie wohl nun, wenn ich ſage: Jn dieſem Munde nichts ſchieflockers — nichts ſteifhar- tes — (ich rede nicht vom Styl der Zeichnung) — ſondern freye Geradheit — Laßt uns hier einen Augenblick ſtille ſtehen. Wie die ganze Natur, wie Gottes Fuͤr- ſehung — ſollte jedes Menſchenwerk, jede Schrift ſeyn — ohne hartgerade Linien, voll Ordnung und Kraft! Ordnung — o mißverſtandnes Wort — Ordnung Gottes iſt nicht gereihte Zuſammenſtel- lung; nicht kuͤnſtliche Garten-nicht Alleenordnung — — ſo die Ordnung des Schuͤlers der Na- tur, durch Effekte ſpuͤrbar! — wie iſt da alles, obgleich zerſtreut — obgleich hingeworfen ſchei- nend — Effekt machend! auf den Zweck treffend! uͤberraſchend! — O Urbild aller Ordnung und Vollkommenheit — herrliche Natur! — koͤnnt’ ich dich in jedem meiner Werke nachahmen! dich genug uͤberſehen! innig ſentiren! — und von dir begeiſtert, dich — ewiges Urbild aller ſanften, treffenden Wuͤrkſamkeit — nachahmen — und wie du mit herrlichen Ausſichten uͤberraſcheſt, du, goͤttliche Fuͤrſehung, das Kleinſte zur Veranlaſſung und Entwickelung des Groͤßten wuͤrkſam ſeyn laͤßt, — o moͤchte dieſen Gang mein Werk gehen! den Gang der ganzen Natur — und der perſoͤnlichen Offenbarungen Gottes, ſo wie er in unſern heili- gen Schriften aufgedeckt liegt. — — „Wozu dieſe Ausſchweifung?“ ... Um mir Weg zu bahnen zu der nicht ganz unwichtigen Bemerkung: Es giebt drey Hauptklaſſen von Menſchen und Menſchenwerken und — Menſchenworten! doch itzt nur von Men- ſchen und Menſchengeſtalten — Zwar, wie die Geſtalt, ſo die Worte; wie die Worte, ſo die Tha- ten — dem Haupttone, dem Charakter nach! — Die erſte Claſſe — Lockerheit, Laͤſſigkeit, abſichtloſes Hin- und Herwanken! — Die zweyte — Steifheit, Geſpanntheit, Anſtrengung, Kunſtkraft. Die dritte, oder wie ich lieber ſagen wollte, die mittelſte, vortrefflichſte, einzig achtungs- und liebenswuͤrdige — Freyheit und Richtigkeit. — Die erſte und die zweyte — gleich unertraͤgliche Extreme — Die erſte ohne Widerſtehenskraft — die andere ohne Nachgeblichkeit. Wider-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/98>, abgerufen am 23.11.2024.