Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.IV. Fragment. Vereinigung und Verhältniß unterdrücken muß. Je mehr ich Menschen beobachte, desto deutlicher bemerk' ich in allen Gleich-gewicht der Kräfte; bemerk' ich, daß die Quelle alles Schlimmen in ihnen -- gut ist, -- das heißt, daß eben das, was sie schlimm macht, Kraft, Würksamkeit, Reizbarkeit, Elasticität -- immer an sich etwas Gutes, Positifes, Reales ist -- dessen Abwesenheit freylich unendlich viel Schlimmes unmöglich gemacht hätte -- aber zugleich auch unendlich viel Gutes -- dessen Da- seyn zwar viel Schlimmes würklich gemacht hat -- aber zugleich auch die Möglichkeit zu noch un- gleich vielmehr Gutem in sich schließt. Bey dem geringsten Fehltritt eines Menschen entsteht sogleich ein übertäubendes, verdam- Ferner -- seit ich physiognomisire, hab' ich viele so vortreffliche Menschen näher kennen Thaten
IV. Fragment. Vereinigung und Verhaͤltniß unterdruͤcken muß. Je mehr ich Menſchen beobachte, deſto deutlicher bemerk’ ich in allen Gleich-gewicht der Kraͤfte; bemerk’ ich, daß die Quelle alles Schlimmen in ihnen — gut iſt, — das heißt, daß eben das, was ſie ſchlimm macht, Kraft, Wuͤrkſamkeit, Reizbarkeit, Elaſticitaͤt — immer an ſich etwas Gutes, Poſitifes, Reales iſt — deſſen Abweſenheit freylich unendlich viel Schlimmes unmoͤglich gemacht haͤtte — aber zugleich auch unendlich viel Gutes — deſſen Da- ſeyn zwar viel Schlimmes wuͤrklich gemacht hat — aber zugleich auch die Moͤglichkeit zu noch un- gleich vielmehr Gutem in ſich ſchließt. Bey dem geringſten Fehltritt eines Menſchen entſteht ſogleich ein uͤbertaͤubendes, verdam- Ferner — ſeit ich phyſiognomiſire, hab’ ich viele ſo vortreffliche Menſchen naͤher kennen Thaten
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IV. Fragment. Vereinigung und Verhaͤltniß
unterdruͤcken muß. Je mehr ich Menſchen beobachte, deſto deutlicher bemerk’ ich in allen Gleich-
gewicht der Kraͤfte; bemerk’ ich, daß die Quelle alles Schlimmen in ihnen — gut iſt, — das
heißt, daß eben das, was ſie ſchlimm macht, Kraft, Wuͤrkſamkeit, Reizbarkeit, Elaſticitaͤt —
immer an ſich etwas Gutes, Poſitifes, Reales iſt — deſſen Abweſenheit freylich unendlich viel
Schlimmes unmoͤglich gemacht haͤtte — aber zugleich auch unendlich viel Gutes — deſſen Da-
ſeyn zwar viel Schlimmes wuͤrklich gemacht hat — aber zugleich auch die Moͤglichkeit zu noch un-
gleich vielmehr Gutem in ſich ſchließt.
Bey dem geringſten Fehltritt eines Menſchen entſteht ſogleich ein uͤbertaͤubendes, verdam-
mendes Geſchrey — das den ganzen Charakter des Menſchen verdunkelt, zu Boden ſchreyt, ver-
nichtet — Der Phyſiognomiſt ſieht den Mann an — den alle Welt verdammt — und — lobt das
Laſter? — Nein! — Entſchuldigt den Laſterhaften? — auch nicht; — was dann? Sagt Euch
ins Ohr, oder laut: „Behandelt den Mann ſo, und Jhr werdet erſtaunen, was noch aus ihm,
„dem Manne, werden kann und — wird! Er iſt nicht ſo ſchlimm, als er ſcheint. Sein Geſicht iſt
„beſſer, als ſeine Thaten! zwar auch ſeine Thaten ſind lesbar in ſeinem Geſichte — aber noch mehr
„als die, deutlicher noch, die große Kraft, die Empfindſamkeit, die Lenkſamkeit des nie recht ge-
„lenkten Herzens — dieſelbe Kraft, die dieß Laſter hervorgebracht — Gebt ihr nur eine andere
„Richtung; gebt ihr andere Gegenſtaͤnde, und ſie wird Wundertugenden verrichten.“ — Kurz,
der Phyſiognomiſt wird — begnadigen, wo der liebreichſte Menſchennichtkenner — verdam-
men muß.
Ferner — ſeit ich phyſiognomiſire, hab’ ich viele ſo vortreffliche Menſchen naͤher kennen
gelernt — ſo viel Anlaß gehabt, mein Herz mit Freud’ an Menſchen zu naͤhren — zu erweitern,
daß ich mich dadurch gleichſam mit dem uͤbrigen Menſchengeſchlechte verſoͤhnte. Ja, ich darf ſa-
gen, daß ich Einen meiner erklaͤrteſten Gegner, trotz alles deſſen, was er heimlich und oͤffentlich
wider mich gethan hat — bloß ſeiner Phyſiognomie und Geſtalt wegen, lieben muß, ſo ſicher, daß
er mein kuͤnftiger Freund ſeyn wird, als es gewiß iſt, daß ichs itzo ſchon bin. Bloß Mangel an
phyſiognomiſchem Auge oder Gefuͤhl iſt’s, daß er mich mißkennt — ſo wie’s bloß phyſiognomiſches
Gefuͤhl auf meiner Seite iſt, daß ich Jhn, und wenn er noch mehr wider mich wuͤten, und wenn
er auch ſagen ſollte — „Jch ſuchte mich ihm dadurch einzuſchmeicheln“ — liebe, obgleich ich ſeine
Thaten
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/60>, abgerufen am 16.07.2024. |