Dadurch hat auch die schlechteste Physiognomie gegründeten Anspruch auf die Aufmerk- samkeit, Achtung und Hoffnung aller guten Menschen.
Also noch einmal: Jn jeder Menschenphysiognomie, so verdorben sie seyn mag, ist noch Menschheit -- das ist, Ebenbild der Gottheit! --
Jch habe die verruchtesten Menschen gesehen -- gesehen in den verruchtesten Augenblicken ihres Lebens -- und -- all' ihre Bosheit und Gotteslästerung und Drängen der Unschuld konnte nicht vertilgen das Licht Gottes in ihrem Angesichte, das ist -- den Geist der Menschheit, die un- auslöschbaren Züge innerer ewiger Perfektibilität -- den Sünder hätte man zermalmen -- den Menschen noch umarmen mögen.
O Physiognomik! welche Bürgschaft bist du mir -- für die ewige Huld Gottes gegen die Menschen! -- Jch armer Unmensch, wollt' ich sagen -- denn wie oft bin ich das in schauerhaf- ten Augenblicken hölzerner Seelenlosigkeit! -- Jch armer Unmensch kann, wenn ein Stral der Physiognomik mich anleuchtet, den ich in einen zerschmetternden Blitz wider alle Unmenschheit im Menschen verwandeln möchte -- ich kann in demselben Augenblicke kaum aufhören, in die Mensch- heit, die noch durchscheint, verliebt zu seyn -- Ewiger, Einziger Vater aller Liebe und Mensch- lichkeit -- wie muß dir beym Anblicke der schlimmsten Menschen zu Muthe seyn -- was mußt du noch in ihnen entdecken. -- Jst wohl Einer -- ohn' allen Zug deines Ebenbildes -- Jesus Christus -- --
Also -- Forscher der Natur! forsche, was da ist! -- also Mensch -- sey Mensch in allen deinen Untersuchungen! vergleiche nicht sogleich -- vergleiche nicht bloß mit willkührlichen Jdea- len. Wo Kraft ist -- ist etwas bewundernswürdiges, etwas unerforschliches; -- und Kraft, -- menschliche, oder, wenn du lieber willst, göttliche Kraft, ist in allen Menschen. Wo Menschheit ist, da ist Familiensache. Du bist Mensch, und was Mensch neben dir ist, ist -- Zweig Eines Stammes, Glied Eines Leibes; -- ist, was du bist -- noch mehr achtungswerth, als wenn's gerade das, gerade so gut, so edel wäre, wie du -- weil es dann ja nicht mehr das einzelne, das unentbehrliche, das unersetzbare Jndividuum wäre, das es itzt ist. -- --
O Mensch, freue dich deß, was sich seines Daseyns freut, und dulde, was Gott duldet --
Jtzt
Trefflichkeit aller Menſchengeſtalten.
Dadurch hat auch die ſchlechteſte Phyſiognomie gegruͤndeten Anſpruch auf die Aufmerk- ſamkeit, Achtung und Hoffnung aller guten Menſchen.
Alſo noch einmal: Jn jeder Menſchenphyſiognomie, ſo verdorben ſie ſeyn mag, iſt noch Menſchheit — das iſt, Ebenbild der Gottheit! —
Jch habe die verruchteſten Menſchen geſehen — geſehen in den verruchteſten Augenblicken ihres Lebens — und — all’ ihre Bosheit und Gotteslaͤſterung und Draͤngen der Unſchuld konnte nicht vertilgen das Licht Gottes in ihrem Angeſichte, das iſt — den Geiſt der Menſchheit, die un- ausloͤſchbaren Zuͤge innerer ewiger Perfektibilitaͤt — den Suͤnder haͤtte man zermalmen — den Menſchen noch umarmen moͤgen.
O Phyſiognomik! welche Buͤrgſchaft biſt du mir — fuͤr die ewige Huld Gottes gegen die Menſchen! — Jch armer Unmenſch, wollt’ ich ſagen — denn wie oft bin ich das in ſchauerhaf- ten Augenblicken hoͤlzerner Seelenloſigkeit! — Jch armer Unmenſch kann, wenn ein Stral der Phyſiognomik mich anleuchtet, den ich in einen zerſchmetternden Blitz wider alle Unmenſchheit im Menſchen verwandeln moͤchte — ich kann in demſelben Augenblicke kaum aufhoͤren, in die Menſch- heit, die noch durchſcheint, verliebt zu ſeyn — Ewiger, Einziger Vater aller Liebe und Menſch- lichkeit — wie muß dir beym Anblicke der ſchlimmſten Menſchen zu Muthe ſeyn — was mußt du noch in ihnen entdecken. — Jſt wohl Einer — ohn’ allen Zug deines Ebenbildes — Jeſus Chriſtus — —
Alſo — Forſcher der Natur! forſche, was da iſt! — alſo Menſch — ſey Menſch in allen deinen Unterſuchungen! vergleiche nicht ſogleich — vergleiche nicht bloß mit willkuͤhrlichen Jdea- len. Wo Kraft iſt — iſt etwas bewundernswuͤrdiges, etwas unerforſchliches; — und Kraft, — menſchliche, oder, wenn du lieber willſt, goͤttliche Kraft, iſt in allen Menſchen. Wo Menſchheit iſt, da iſt Familienſache. Du biſt Menſch, und was Menſch neben dir iſt, iſt — Zweig Eines Stammes, Glied Eines Leibes; — iſt, was du biſt — noch mehr achtungswerth, als wenn’s gerade das, gerade ſo gut, ſo edel waͤre, wie du — weil es dann ja nicht mehr das einzelne, das unentbehrliche, das unerſetzbare Jndividuum waͤre, das es itzt iſt. — —
O Menſch, freue dich deß, was ſich ſeines Daſeyns freut, und dulde, was Gott duldet —
Jtzt
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Trefflichkeit aller Menſchengeſtalten.
Dadurch hat auch die ſchlechteſte Phyſiognomie gegruͤndeten Anſpruch auf die Aufmerk-
ſamkeit, Achtung und Hoffnung aller guten Menſchen.
Alſo noch einmal: Jn jeder Menſchenphyſiognomie, ſo verdorben ſie ſeyn mag, iſt
noch Menſchheit — das iſt, Ebenbild der Gottheit! —
Jch habe die verruchteſten Menſchen geſehen — geſehen in den verruchteſten Augenblicken
ihres Lebens — und — all’ ihre Bosheit und Gotteslaͤſterung und Draͤngen der Unſchuld konnte
nicht vertilgen das Licht Gottes in ihrem Angeſichte, das iſt — den Geiſt der Menſchheit, die un-
ausloͤſchbaren Zuͤge innerer ewiger Perfektibilitaͤt — den Suͤnder haͤtte man zermalmen — den
Menſchen noch umarmen moͤgen.
O Phyſiognomik! welche Buͤrgſchaft biſt du mir — fuͤr die ewige Huld Gottes gegen die
Menſchen! — Jch armer Unmenſch, wollt’ ich ſagen — denn wie oft bin ich das in ſchauerhaf-
ten Augenblicken hoͤlzerner Seelenloſigkeit! — Jch armer Unmenſch kann, wenn ein Stral der
Phyſiognomik mich anleuchtet, den ich in einen zerſchmetternden Blitz wider alle Unmenſchheit im
Menſchen verwandeln moͤchte — ich kann in demſelben Augenblicke kaum aufhoͤren, in die Menſch-
heit, die noch durchſcheint, verliebt zu ſeyn — Ewiger, Einziger Vater aller Liebe und Menſch-
lichkeit — wie muß dir beym Anblicke der ſchlimmſten Menſchen zu Muthe ſeyn — was mußt du
noch in ihnen entdecken. — Jſt wohl Einer — ohn’ allen Zug deines Ebenbildes — Jeſus
Chriſtus — —
Alſo — Forſcher der Natur! forſche, was da iſt! — alſo Menſch — ſey Menſch in allen
deinen Unterſuchungen! vergleiche nicht ſogleich — vergleiche nicht bloß mit willkuͤhrlichen Jdea-
len. Wo Kraft iſt — iſt etwas bewundernswuͤrdiges, etwas unerforſchliches; — und Kraft, —
menſchliche, oder, wenn du lieber willſt, goͤttliche Kraft, iſt in allen Menſchen. Wo Menſchheit
iſt, da iſt Familienſache. Du biſt Menſch, und was Menſch neben dir iſt, iſt — Zweig Eines
Stammes, Glied Eines Leibes; — iſt, was du biſt — noch mehr achtungswerth, als wenn’s
gerade das, gerade ſo gut, ſo edel waͤre, wie du — weil es dann ja nicht mehr das einzelne, das
unentbehrliche, das unerſetzbare Jndividuum waͤre, das es itzt iſt. — —
O Menſch, freue dich deß, was ſich ſeines Daſeyns freut, und dulde, was Gott
duldet —
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/53>, abgerufen am 16.07.2024.
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