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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Trefflichkeit aller Menschengestalten.

Freylich! auch der menschlichste Physiognomist, der so gern das Gute, das Schöne, das
Edle der Natur aufsucht, sich so gern am Jdeale weidet, seinen Geschmack an der bessern, heiligern,
vollkommenern Menschheit täglich übt, nährt, verfeinert -- freylich auch der ist oft in Gefahr,
wenigstens in Versuchung -- sich wegzuwenden von dem gemeinen, alltäglichen, schlechten Men-
schen, -- von den Mißgestalten voll -- -- Leerheit, -- den Larven, aus lauter Grimassen zu-
sammen gesetzt -- dem Pöbel der Menschen; -- in Gefahr und Versuchung -- zu vergessen, daß
auch diese Mißgestalten, diese Larven, dieser Pöbel -- Menschen sind; -- daß Er, bey aller
seiner eingebildeten oder auch würklichen Vortrefflichkeit, bey allem Adel seiner Gesinnungen, aller
Reinheit seiner Absichten -- und wer kann sich dieser immer rühmen? -- aller Festigkeit und
Gesundheit seiner Vernunft -- aller Zartheit seiner Empfindung, aller Kraft seiner Natur --
daß er, und wenn er auch an die hohen Jdeale alter griechischer Kunst zu gränzen scheint --
daß er dennoch sehr vermuthlich durch eigne moralische Schuld in den Augen höherer Wesen,
in den Augen seiner Menschenbrüder, der vollendeten Gerechten, so gut eine Karikatur ist --
als die lächerlichste oder schädlichste moralische oder physische Mißgeburt des Erdbodens es in sei-
nen Augen ist. --

Ja freylich vergessen wir das oft! -- also ist Erinnerung nöthig, nöthig dem Schreiber
und Leser dieses Werks -- "Vergiß nicht, daß auch die schlechtesten Menschen Menschen sind; --
"auch in dem verwerflichsten, wie viel positif Gutes ist noch! -- auch der schlechteste Mensch --
"wie ist er doch so gewiß und so gut Einzig in seiner Art, als du? unentbehrlich, wie du? uner-
"setzbar, wie du? -- Er hat von oben bis unten, er hat weder auswendig noch innwendig das
"Geringste, genau so wie's du hast! Er ist im Ganzen, ist in allen seinen unzähligen Theilen so
"individuell, wie du -- ..... Er, weniger? und ein Buchstabe der Schöpfung fehlte, so gut, wie
"wenn du nicht wärest! Er, weniger? -- er nicht so, wie er ist? -- und mit ihm, oder vielmehr
"ohn' ihn unzählige Dinge und Menschen anders, als sie sind! Er das -- Resultat aus millio-
"nen Dingen -- und millionen Dinge das Resultat von Jhm! von seiner so bestimmten Exi-
"stenz! seiner so beschaffenen Natur!" --

"Schau'
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Trefflichkeit aller Menſchengeſtalten.

Freylich! auch der menſchlichſte Phyſiognomiſt, der ſo gern das Gute, das Schoͤne, das
Edle der Natur aufſucht, ſich ſo gern am Jdeale weidet, ſeinen Geſchmack an der beſſern, heiligern,
vollkommenern Menſchheit taͤglich uͤbt, naͤhrt, verfeinert — freylich auch der iſt oft in Gefahr,
wenigſtens in Verſuchung — ſich wegzuwenden von dem gemeinen, alltaͤglichen, ſchlechten Men-
ſchen, — von den Mißgeſtalten voll — — Leerheit, — den Larven, aus lauter Grimaſſen zu-
ſammen geſetzt — dem Poͤbel der Menſchen; — in Gefahr und Verſuchung — zu vergeſſen, daß
auch dieſe Mißgeſtalten, dieſe Larven, dieſer Poͤbel — Menſchen ſind; — daß Er, bey aller
ſeiner eingebildeten oder auch wuͤrklichen Vortrefflichkeit, bey allem Adel ſeiner Geſinnungen, aller
Reinheit ſeiner Abſichten — und wer kann ſich dieſer immer ruͤhmen? — aller Feſtigkeit und
Geſundheit ſeiner Vernunft — aller Zartheit ſeiner Empfindung, aller Kraft ſeiner Natur —
daß er, und wenn er auch an die hohen Jdeale alter griechiſcher Kunſt zu graͤnzen ſcheint —
daß er dennoch ſehr vermuthlich durch eigne moraliſche Schuld in den Augen hoͤherer Weſen,
in den Augen ſeiner Menſchenbruͤder, der vollendeten Gerechten, ſo gut eine Karikatur iſt —
als die laͤcherlichſte oder ſchaͤdlichſte moraliſche oder phyſiſche Mißgeburt des Erdbodens es in ſei-
nen Augen iſt. —

Ja freylich vergeſſen wir das oft! — alſo iſt Erinnerung noͤthig, noͤthig dem Schreiber
und Leſer dieſes Werks — „Vergiß nicht, daß auch die ſchlechteſten Menſchen Menſchen ſind; —
„auch in dem verwerflichſten, wie viel poſitif Gutes iſt noch! — auch der ſchlechteſte Menſch —
„wie iſt er doch ſo gewiß und ſo gut Einzig in ſeiner Art, als du? unentbehrlich, wie du? uner-
„ſetzbar, wie du? — Er hat von oben bis unten, er hat weder auswendig noch innwendig das
„Geringſte, genau ſo wie’s du haſt! Er iſt im Ganzen, iſt in allen ſeinen unzaͤhligen Theilen ſo
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„Schau’
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[29/0051] Trefflichkeit aller Menſchengeſtalten. Freylich! auch der menſchlichſte Phyſiognomiſt, der ſo gern das Gute, das Schoͤne, das Edle der Natur aufſucht, ſich ſo gern am Jdeale weidet, ſeinen Geſchmack an der beſſern, heiligern, vollkommenern Menſchheit taͤglich uͤbt, naͤhrt, verfeinert — freylich auch der iſt oft in Gefahr, wenigſtens in Verſuchung — ſich wegzuwenden von dem gemeinen, alltaͤglichen, ſchlechten Men- ſchen, — von den Mißgeſtalten voll — — Leerheit, — den Larven, aus lauter Grimaſſen zu- ſammen geſetzt — dem Poͤbel der Menſchen; — in Gefahr und Verſuchung — zu vergeſſen, daß auch dieſe Mißgeſtalten, dieſe Larven, dieſer Poͤbel — Menſchen ſind; — daß Er, bey aller ſeiner eingebildeten oder auch wuͤrklichen Vortrefflichkeit, bey allem Adel ſeiner Geſinnungen, aller Reinheit ſeiner Abſichten — und wer kann ſich dieſer immer ruͤhmen? — aller Feſtigkeit und Geſundheit ſeiner Vernunft — aller Zartheit ſeiner Empfindung, aller Kraft ſeiner Natur — daß er, und wenn er auch an die hohen Jdeale alter griechiſcher Kunſt zu graͤnzen ſcheint — daß er dennoch ſehr vermuthlich durch eigne moraliſche Schuld in den Augen hoͤherer Weſen, in den Augen ſeiner Menſchenbruͤder, der vollendeten Gerechten, ſo gut eine Karikatur iſt — als die laͤcherlichſte oder ſchaͤdlichſte moraliſche oder phyſiſche Mißgeburt des Erdbodens es in ſei- nen Augen iſt. — Ja freylich vergeſſen wir das oft! — alſo iſt Erinnerung noͤthig, noͤthig dem Schreiber und Leſer dieſes Werks — „Vergiß nicht, daß auch die ſchlechteſten Menſchen Menſchen ſind; — „auch in dem verwerflichſten, wie viel poſitif Gutes iſt noch! — auch der ſchlechteſte Menſch — „wie iſt er doch ſo gewiß und ſo gut Einzig in ſeiner Art, als du? unentbehrlich, wie du? uner- „ſetzbar, wie du? — Er hat von oben bis unten, er hat weder auswendig noch innwendig das „Geringſte, genau ſo wie’s du haſt! Er iſt im Ganzen, iſt in allen ſeinen unzaͤhligen Theilen ſo „individuell, wie du — ..... Er, weniger? und ein Buchſtabe der Schoͤpfung fehlte, ſo gut, wie „wenn du nicht waͤreſt! Er, weniger? — er nicht ſo, wie er iſt? — und mit ihm, oder vielmehr „ohn’ ihn unzaͤhlige Dinge und Menſchen anders, als ſie ſind! Er das — Reſultat aus millio- „nen Dingen — und millionen Dinge das Reſultat von Jhm! von ſeiner ſo beſtimmten Exi- „ſtenz! ſeiner ſo beſchaffenen Natur!“ — „Schau’ D 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/51>, abgerufen am 23.11.2024.