Sechs und dreyßigstes Fragment. Religiöse, Schwärmer, Theosophen, Seher.
Wir eilen zum Beschlusse -- fast in die Jdealwelt hinein.
Erste Tafel. Ein namenloses Profil mit weißen Haaren.
Ein, wie mich deucht, sich sehr auszeichnendes Gesicht -- Nicht ohne Anmaßung. --
Jch glaube nicht, daß es einen Menschenkenner befremden werde, wenn man ihm sagt: Jn dem Manne ist Trieb und Drang zu würken, sich mitzutheilen -- Er ist ein Religiose! das heißt -- in ihm ist religiöse Betriebsamkeit! unternehmend und hartnäckig; würkend aufs Einzelne mehr, als aufs Ganze! Er ist zart und stark gebaut! Jn der hohen Stirne, die nicht sehr perpen- dikular und gespannt ist -- ist Raum für Bilder ohne Zahl und Maaß! -- Um Aug und Nase schwebt Geist des Denkens, und Empfindsamkeit. Jm Munde Liebe, Festigkeit -- .... Jm Hinterhaupte und aufm zarten Haar -- Empfänglichkeit von jedem zarten Eindrucke.
Der Kopf im Ganzen ... hat viel Aehnliches mit einem der tiefsten, redlichsten, beschei- densten Mystiker, den ich zwar nur im Bilde gesehen -- und auch dieser hier, den wir vor uns haben, ist ein theosophischer Mystiker. Jch werde mir die länglichte Gestalt dieser so mannichfal- tig gefalteten Köpfe, mit diesem kleinäugigen Blicke, diesen leichten Haaren, wohl bemerken, um meine Vermuthung zu prüfen, "ob diese nicht vorzügliche Anlage zur Schwärmerey haben "möchten?"
Nachstehender Umriß ist eigentlich bloß der Skelet, mithin vollkommen seelenloses Bild -- eines unbeschreiblich edeln, einfältig treuen, tiefblickenden, äusserst bescheidenen, und himmlisch re- ligiösen Zürcher Landmanns -- Aber weg ist alle Liebe, Jnnigkeit, Salbung, die das Original so trefflich auszeichnet -- und die Herrlichkeit der allerfreuenden Liebe verwandelt in verachtenden,
gehässigen,
Phys. Fragm.IIVersuch. N n
Sechs und dreyßigſtes Fragment. Religioͤſe, Schwaͤrmer, Theoſophen, Seher.
Wir eilen zum Beſchluſſe — faſt in die Jdealwelt hinein.
Erſte Tafel. Ein namenloſes Profil mit weißen Haaren.
Ein, wie mich deucht, ſich ſehr auszeichnendes Geſicht — Nicht ohne Anmaßung. —
Jch glaube nicht, daß es einen Menſchenkenner befremden werde, wenn man ihm ſagt: Jn dem Manne iſt Trieb und Drang zu wuͤrken, ſich mitzutheilen — Er iſt ein Religioſe! das heißt — in ihm iſt religioͤſe Betriebſamkeit! unternehmend und hartnaͤckig; wuͤrkend aufs Einzelne mehr, als aufs Ganze! Er iſt zart und ſtark gebaut! Jn der hohen Stirne, die nicht ſehr perpen- dikular und geſpannt iſt — iſt Raum fuͤr Bilder ohne Zahl und Maaß! — Um Aug und Naſe ſchwebt Geiſt des Denkens, und Empfindſamkeit. Jm Munde Liebe, Feſtigkeit — .... Jm Hinterhaupte und aufm zarten Haar — Empfaͤnglichkeit von jedem zarten Eindrucke.
Der Kopf im Ganzen ... hat viel Aehnliches mit einem der tiefſten, redlichſten, beſchei- denſten Myſtiker, den ich zwar nur im Bilde geſehen — und auch dieſer hier, den wir vor uns haben, iſt ein theoſophiſcher Myſtiker. Jch werde mir die laͤnglichte Geſtalt dieſer ſo mannichfal- tig gefalteten Koͤpfe, mit dieſem kleinaͤugigen Blicke, dieſen leichten Haaren, wohl bemerken, um meine Vermuthung zu pruͤfen, „ob dieſe nicht vorzuͤgliche Anlage zur Schwaͤrmerey haben „moͤchten?“
Nachſtehender Umriß iſt eigentlich bloß der Skelet, mithin vollkommen ſeelenloſes Bild — eines unbeſchreiblich edeln, einfaͤltig treuen, tiefblickenden, aͤuſſerſt beſcheidenen, und himmliſch re- ligioͤſen Zuͤrcher Landmanns — Aber weg iſt alle Liebe, Jnnigkeit, Salbung, die das Original ſo trefflich auszeichnet — und die Herrlichkeit der allerfreuenden Liebe verwandelt in verachtenden,
gehaͤſſigen,
Phyſ. Fragm.IIVerſuch. N n
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Sechs und dreyßigſtes Fragment.
Religioͤſe, Schwaͤrmer, Theoſophen, Seher.
Wir eilen zum Beſchluſſe — faſt in die Jdealwelt hinein.
Erſte Tafel.
Ein namenloſes Profil mit weißen Haaren.
Ein, wie mich deucht, ſich ſehr auszeichnendes Geſicht — Nicht ohne Anmaßung. —
Jch glaube nicht, daß es einen Menſchenkenner befremden werde, wenn man ihm ſagt:
Jn dem Manne iſt Trieb und Drang zu wuͤrken, ſich mitzutheilen — Er iſt ein Religioſe! das
heißt — in ihm iſt religioͤſe Betriebſamkeit! unternehmend und hartnaͤckig; wuͤrkend aufs Einzelne
mehr, als aufs Ganze! Er iſt zart und ſtark gebaut! Jn der hohen Stirne, die nicht ſehr perpen-
dikular und geſpannt iſt — iſt Raum fuͤr Bilder ohne Zahl und Maaß! — Um Aug und Naſe
ſchwebt Geiſt des Denkens, und Empfindſamkeit. Jm Munde Liebe, Feſtigkeit — .... Jm
Hinterhaupte und aufm zarten Haar — Empfaͤnglichkeit von jedem zarten Eindrucke.
Der Kopf im Ganzen ... hat viel Aehnliches mit einem der tiefſten, redlichſten, beſchei-
denſten Myſtiker, den ich zwar nur im Bilde geſehen — und auch dieſer hier, den wir vor uns
haben, iſt ein theoſophiſcher Myſtiker. Jch werde mir die laͤnglichte Geſtalt dieſer ſo mannichfal-
tig gefalteten Koͤpfe, mit dieſem kleinaͤugigen Blicke, dieſen leichten Haaren, wohl bemerken, um
meine Vermuthung zu pruͤfen, „ob dieſe nicht vorzuͤgliche Anlage zur Schwaͤrmerey haben
„moͤchten?“
Nachſtehender Umriß iſt eigentlich bloß der Skelet, mithin vollkommen ſeelenloſes Bild —
eines unbeſchreiblich edeln, einfaͤltig treuen, tiefblickenden, aͤuſſerſt beſcheidenen, und himmliſch re-
ligioͤſen Zuͤrcher Landmanns — Aber weg iſt alle Liebe, Jnnigkeit, Salbung, die das Original
ſo trefflich auszeichnet — und die Herrlichkeit der allerfreuenden Liebe verwandelt in verachtenden,
gehaͤſſigen,
Phyſ. Fragm. II Verſuch. N n
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/501>, abgerufen am 16.02.2025.
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