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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Sanfte, treue, edle, zärtliche Charakter.
wieder -- nicht zur Erde sinkt! zur Erde sich stürzt, in des "Felsenstromes" Fluthen sich
taucht, und sich wiegt "im Donner der hallenden Felsen umher" -- Sein Blick nicht Flam-
menblick des Adlers! seine Stirn und Nase nicht Muth des Löwen! seine Brust -- nicht Fe-
stigkeit des Streit wiehernden Pferdes! Jm Ganzen aber viel von der schwebenden Gelenksam-
keit des Elephanten .....

Die Aufgezogenheit seiner vorragenden Oberlippe gegen die unbeschnittene, uneckige,
vorhängende Nase zeigt, bey dieser Beschlossenheit des Mundes, viel Geschmack und feine
Empfindsamkeit; der untere Theil des Gesichtes viel Sinnlichkeit, Trägheit, Achtlosigkeit.
Der ganze Umriß des Halbgesichtes Offenheit, Redlichkeit, Menschlichkeit, aber zugleich
leichte Verführbarkeit und einen hohen Grad von gutherziger Unbedachtsamkeit, die niemanden
als ihm selber schadet. Die Mittellinie des Mundes ist in seiner Ruhe eines geraden, plan-
losen, weichgeschaffenen, guten; in seiner Bewegung eines zärtlichen, feinfühlenden, äusserst
reizbaren, gütigen, edlen Menschen. Jm Bogen der Augenlieder und im Glanze der Au-
gen
sitzt nicht Homer, aber der tiefste, innigste, schnelleste Empfinder, Ergreifer Homers;
nicht der epische, aber der Odendichter; Genie, das quillt, umschafft, veredelt, bildet, schwebt,
alles in Heldengestalt zaubert, alles vergöttlicht -- Die halbsichtbaren Augenlieder, von einem sol-
chen Bogen, sind immer mehr feinfühlender Dichter, als nach Plan schaffender, als langsam ar-
beitender Künstler; mehr der verliebten, als der strengen. -- Das ganze Angesicht des
Jünglings ist viel einnehmender und anziehender, als das um etwas zu lockere, zu gedehnte
Halbgesicht; das Vordergesicht zeugt bey der geringsten Bewegung von empfindsamer, sorgfälti-
ger, erfindender, ungelernter, innerer Güte, und sanft zitternder, Unrecht verabscheuender
Freyheit -- dürstender Lebendigkeit. Es kann nicht den geringsten Eindruck von den vielen
Verbergen, die es auf einmal, die es unaufhörlich empfängt. -- Jeder Gegenstand, der ein
nahes Verhältniß zu ihm hat, treibt das Geblüt in die Wangen und Nase; die jungfräulich-
ste Schamhaftigkeit in dem Punkte der Ehre, verbreitet sich mit der Schnelle des Blitzes über
die zart bewegliche Haut. --

Die
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Sanfte, treue, edle, zaͤrtliche Charakter.
wieder — nicht zur Erde ſinkt! zur Erde ſich ſtuͤrzt, in des „Felſenſtromes“ Fluthen ſich
taucht, und ſich wiegt „im Donner der hallenden Felſen umher“ — Sein Blick nicht Flam-
menblick des Adlers! ſeine Stirn und Naſe nicht Muth des Loͤwen! ſeine Bruſt — nicht Fe-
ſtigkeit des Streit wiehernden Pferdes! Jm Ganzen aber viel von der ſchwebenden Gelenkſam-
keit des Elephanten .....

Die Aufgezogenheit ſeiner vorragenden Oberlippe gegen die unbeſchnittene, uneckige,
vorhaͤngende Naſe zeigt, bey dieſer Beſchloſſenheit des Mundes, viel Geſchmack und feine
Empfindſamkeit; der untere Theil des Geſichtes viel Sinnlichkeit, Traͤgheit, Achtloſigkeit.
Der ganze Umriß des Halbgeſichtes Offenheit, Redlichkeit, Menſchlichkeit, aber zugleich
leichte Verfuͤhrbarkeit und einen hohen Grad von gutherziger Unbedachtſamkeit, die niemanden
als ihm ſelber ſchadet. Die Mittellinie des Mundes iſt in ſeiner Ruhe eines geraden, plan-
loſen, weichgeſchaffenen, guten; in ſeiner Bewegung eines zaͤrtlichen, feinfuͤhlenden, aͤuſſerſt
reizbaren, guͤtigen, edlen Menſchen. Jm Bogen der Augenlieder und im Glanze der Au-
gen
ſitzt nicht Homer, aber der tiefſte, innigſte, ſchnelleſte Empfinder, Ergreifer Homers;
nicht der epiſche, aber der Odendichter; Genie, das quillt, umſchafft, veredelt, bildet, ſchwebt,
alles in Heldengeſtalt zaubert, alles vergoͤttlicht — Die halbſichtbaren Augenlieder, von einem ſol-
chen Bogen, ſind immer mehr feinfuͤhlender Dichter, als nach Plan ſchaffender, als langſam ar-
beitender Kuͤnſtler; mehr der verliebten, als der ſtrengen. — Das ganze Angeſicht des
Juͤnglings iſt viel einnehmender und anziehender, als das um etwas zu lockere, zu gedehnte
Halbgeſicht; das Vordergeſicht zeugt bey der geringſten Bewegung von empfindſamer, ſorgfaͤlti-
ger, erfindender, ungelernter, innerer Guͤte, und ſanft zitternder, Unrecht verabſcheuender
Freyheit — duͤrſtender Lebendigkeit. Es kann nicht den geringſten Eindruck von den vielen
Verbergen, die es auf einmal, die es unaufhoͤrlich empfaͤngt. — Jeder Gegenſtand, der ein
nahes Verhaͤltniß zu ihm hat, treibt das Gebluͤt in die Wangen und Naſe; die jungfraͤulich-
ſte Schamhaftigkeit in dem Punkte der Ehre, verbreitet ſich mit der Schnelle des Blitzes uͤber
die zart bewegliche Haut. —

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[245/0419] Sanfte, treue, edle, zaͤrtliche Charakter. wieder — nicht zur Erde ſinkt! zur Erde ſich ſtuͤrzt, in des „Felſenſtromes“ Fluthen ſich taucht, und ſich wiegt „im Donner der hallenden Felſen umher“ — Sein Blick nicht Flam- menblick des Adlers! ſeine Stirn und Naſe nicht Muth des Loͤwen! ſeine Bruſt — nicht Fe- ſtigkeit des Streit wiehernden Pferdes! Jm Ganzen aber viel von der ſchwebenden Gelenkſam- keit des Elephanten ..... Die Aufgezogenheit ſeiner vorragenden Oberlippe gegen die unbeſchnittene, uneckige, vorhaͤngende Naſe zeigt, bey dieſer Beſchloſſenheit des Mundes, viel Geſchmack und feine Empfindſamkeit; der untere Theil des Geſichtes viel Sinnlichkeit, Traͤgheit, Achtloſigkeit. Der ganze Umriß des Halbgeſichtes Offenheit, Redlichkeit, Menſchlichkeit, aber zugleich leichte Verfuͤhrbarkeit und einen hohen Grad von gutherziger Unbedachtſamkeit, die niemanden als ihm ſelber ſchadet. Die Mittellinie des Mundes iſt in ſeiner Ruhe eines geraden, plan- loſen, weichgeſchaffenen, guten; in ſeiner Bewegung eines zaͤrtlichen, feinfuͤhlenden, aͤuſſerſt reizbaren, guͤtigen, edlen Menſchen. Jm Bogen der Augenlieder und im Glanze der Au- gen ſitzt nicht Homer, aber der tiefſte, innigſte, ſchnelleſte Empfinder, Ergreifer Homers; nicht der epiſche, aber der Odendichter; Genie, das quillt, umſchafft, veredelt, bildet, ſchwebt, alles in Heldengeſtalt zaubert, alles vergoͤttlicht — Die halbſichtbaren Augenlieder, von einem ſol- chen Bogen, ſind immer mehr feinfuͤhlender Dichter, als nach Plan ſchaffender, als langſam ar- beitender Kuͤnſtler; mehr der verliebten, als der ſtrengen. — Das ganze Angeſicht des Juͤnglings iſt viel einnehmender und anziehender, als das um etwas zu lockere, zu gedehnte Halbgeſicht; das Vordergeſicht zeugt bey der geringſten Bewegung von empfindſamer, ſorgfaͤlti- ger, erfindender, ungelernter, innerer Guͤte, und ſanft zitternder, Unrecht verabſcheuender Freyheit — duͤrſtender Lebendigkeit. Es kann nicht den geringſten Eindruck von den vielen Verbergen, die es auf einmal, die es unaufhoͤrlich empfaͤngt. — Jeder Gegenſtand, der ein nahes Verhaͤltniß zu ihm hat, treibt das Gebluͤt in die Wangen und Naſe; die jungfraͤulich- ſte Schamhaftigkeit in dem Punkte der Ehre, verbreitet ſich mit der Schnelle des Blitzes uͤber die zart bewegliche Haut. — Die H h 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/419>, abgerufen am 22.11.2024.